15.000 gegen Sozialabbau in Berlin auf der Straße  

Unter dem Motto „Schluss mit den „Reformen“ gegen uns!“ fand am vergangenen Samstag in Berlin eine bundesweite Demonstration gegen die Angriffe der Großen Koalition statt, an der etwa 15.000 Menschen teilnahmen.
 
 

Zu der Demo hatte ein Bündnis aus Erwerbslosen- und Sozialinitiativen, Studierendengruppen, Untergliederungen der Gewerkschaften, der WASG und der Linkspartei.PDS aufgerufen. Wichtige Forderungen der Demonstranten waren der sofortige Stopp der Umverteilung von unten nach oben u. a. durch die Einführung eines Mindestlohnes von 10,- Euro und einer 30-h-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich sowie die Rücknahme der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetze. Die Demonstration richtete sich ausdrücklich gegen die geplante Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, eine Senkung der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung, die Verlängerung der Probezeit auf zwei Jahre, den Ausbau von Kombilöhnen, gegen Massenentlassungen, Sozialabbau, innere Aufrüstung und Krieg.

Wut in Widerstand verwandeln!

Besonders wütend waren die Demonstranten – unter denen sich viele Erwerbslose befanden – auch über die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung, erwerbslose Empfänger von Hartz IV noch stärker zu schikanieren. So können beispielsweise ab dem 1. August jedem Empfänger von Hartz IV, der innerhalb von 12 Monaten drei Mal eine „zumutbare„ Beschäftigung oder Qualifizierung ablehnt, jegliche Zahlungen – also auch Wohnkostenzuschüsse – gestrichen werden. Erwachsene bis 25 Jahre bekommen bereits ab der zweiten Job-Ablehnung alle Gelder gekürzt. Stattdessen gibt es dann nur noch Lebensmittelgutscheine. Zur Erinnerung: als zumutbar gilt seit Hartz IV jede Arbeit, die nicht „sittenwidrig“ ist. Dabei ist es für die Jobcenter egal, ob ein Lohn unter dem Existenzminimum liegt. Weitere Angriffe der Bundesregierung auf Erwerbslose sind geplant, so die Kürzung bei den Regelsätzen der Empfänger von Hartz IV. Entsprechend kämpferisch und lautstark war dann auch die Demonstration. Die Demonstranten ließen sich dabei auch nicht vom starkem Regen abschrecken, der den ganzen Zeitraum über anhielt und bestimmt viele Berlinerinnen und Berliner von einer Beteiligung an der Demonstration abgehalten hatte. Aber auch bei schönem Wetter hätte die Demo bestimmt nicht an die Teilnehmerzahlen der Demonstration vom 1. November 2003 herangereicht, wo 100.000 in Berlin gegen die Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Bundesregierung auf die Straße gingen. Die damalige Demonstration führte zu einer Aufbruchstimmung, die sich unmittelbar in Streiks von Studierenden gegen die Einführung von Studiengebühren und auf betrieblicher Ebene gegen Sozialabbau und die Angriffe auf die Tarifautonomie äußerten. Sie führte dazu, dass die Gewerkschaften am 3. April 2004 Demonstrationen mit 500.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern organisierten und dass im Sommer 2004 zehntausende Erwerbslose und Beschäftigte gegen die Einführung von Hartz IV auf die Straße gingen. Das alles läutete letztendlich das Ende der rot-grünen Bundesregierung ein und führte auch zur Gründung der neuen Partei Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG).

Französisch reden!

Eine Stärke der Demo vom 1. November 2003 war gewesen, dass ein Großteil der Demonstranten aus Betrieben und Gewerkschaften kamen. Die Demo vom letzten Samstag wurde hingegen hauptsächlich von Erwerbslosen- und Sozialinitiativen sowie Mitgliedern der WASG und LP.PDS geprägt. Wenig vertreten waren auch die Studierenden, die sich derzeit immerhin in vielen Bundesländern u. a. unter dem Motto „Französische Verhältnisse, jetzt!“ gegen die Einführung von Studiengebühren wehren. Damit nehmen die Studierenden Bezug auf den Erfolg der französischen Jugendlichen und Beschäftigten, die gemeinsam durch massive Proteste auf der Straße und in den Betrieben den Einstellungsvertrag CPE verhindert haben, der für Jugendliche unter 26 Jahren eine zweijährige Probezeit vorsah und somit für Jugendliche jeglichen Kündigungsschutz abschaffen sollte! Und genau diese Gemeinsamkeit ist es, die bei der Demo vergangenen Samstag noch fehlte. Die massiven Straßenproteste und die Androhung eines unbefristeten Generalstreiks der französischen Gewerkschaften waren es gewesen, die die französische Regierung zum Rückzug gezwungen hatte. „Französisch reden!“ ist also auch bei uns nötig. Die fehlende Mobilisierung aus den Betrieben trug dazu bei, dass die Gewerkschaftsführung die Demo letzten Samstag regelrecht ignorieren konnte. Ver.di-Chef Bsirske sagte seine Rede bei der Auftaktkundgebung sogar kurzfristig „aus terminlichen Gründen“ ab.

Polizeiknüppel ins Gesicht

Die Herrschenden hingegen scheinen die Demonstration als für sie gefährlich genug eingeschätzt zu haben. Denn anders sind die massiven Polizeiübergriffe auf die friedlichen Demonstranten nicht zu verstehen. So knüppelte die Polizei sogar auf eindeutig nicht „autonom“ aussehende ältere Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer ein. Als fadenscheinige Begründung wurden zusammengeknotete Transparente (!) angeführt, später auch angebliche Farbbeutelwürfe. All das sind keine ausreichenden Gründe dafür, dass etliche Demonstranten schwer verletzt wurden. Einem Demonstranten wurden sogar die Zähne mit dem Knüppel ausgeschlagen! Diese Polizeiübergriffe fanden immer wieder und selbst noch bei der Abschlusskundgebung statt und dienten eindeutig dazu, die Demonstration zu provozieren, zu kriminalisieren und einzuschüchtern. Dass die Demo aber nicht auseinanderlief und sich der Großteil der Demonstranten solidarisch mit den von der Polizeigewalt Betroffenen solidarisierten, zeigt, dass ihr Vorhaben nicht gelungen ist. Die Mehrheit der Demonstranten nahm jedenfalls nicht nur das Gefühl der Solidarität, sondern auch die Erkenntnis mit nach Hause: Jetzt erst recht! Und das macht Hoffnung.

von Ronald Luther und Krischan Reichow, Berlin