Der ver.di-Streik geht in die entscheidende Phase

Seit knapp drei Wochen dauern die Arbeitsniederlegungen im öffentlichen Dienst mittlerweile an.
 

Es sind bislang bei weitem nicht so viele Beschäftigte in den Ausstand einbezogen wie bei dem elftägigen Streik 1992 – während vor 14 Jahren 400.000 KollegInnen streikten, sind es in dieser Auseinandersetzung erst mehrere Zehntausend (in neun Bundesländern in dieser Woche). Trotzdem ist der Streik keines der in der Vergangenheit üblichen Tarifrituale, sondern von enormer Bedeutung für die gesamte Arbeiterbewegung.

von Aron Amm, Berlin

Die Arbeitgeberseite führt den Konflikt mit entsprechend harten Bandagen. Die Streikenden sind einem beispiellosen medialen Trommelfeuer ausgesetzt. So wettert Bild: „Was soll der Müll, Herr Bsirske?“ und zitiert Erwerbslose, die angeblich beinahe darauf brennen, 15 Stunden am Tag zu arbeiten. Die bürgerlichen Medien erscheinen „gleichgeschaltet“. KrebspatientInnen werden präsentiert, die auf Grund der Arbeitsniederlegungen angeblich nicht operiert werden können. Bernd Riexinger, ver.di-Geschäftsführer im Bezirk Stuttgart-Ludwigsburg wurde von einem Vater angezeigt, dessen Tochter nicht zum gewünschten Termin operiert wurde – ein reichlich inszenierter Fall, da schon bei der Terminierung der Operation, kein Notfall im übrigen, bekannt war, dass an diesem Tag gestreikt wird. In einem Kommentar in der Stuttgarter Zeitung vor einigen Tagen wollte der Chefredakteur den Krankenhausbeschäftigten de facto das Streikrecht überhaupt absprechen.

Die Arbeitgeber mobilisieren zudem Hunderte von Streikbrechern – in Baden-Württemberg 800 Leiharbeiter und 100 Ein-Euro-Kräfte. In Hamburg wurden in den vergangenen Tagen ebenfalls viele Ein-Euro-Kräfte zum Einsammeln von Müll eingesetzt, in Wilhelmsburg allein 50 ALG-II-BezieherInnen letzten Mittwoch. Im niedersächsischen Osnabrück prügelten Polizisten einen mit Streikbrechern besetzten Müllwagen den Weg frei.

Die Streikfront steht. Mehr noch, die Beteiligung übertrifft sowohl die Erwartungen von Arbeitgebern als auch von ver.di: „Die hohe Streikbewegung ist für uns eine Überraschung. Wir hatten schon damit gerechnet, dass wir in den Arbeiterbereichen – bei der Müllabfuhr, bei den Tiefbauämtern, Bauhöfen usw. – ganz gut aufgestellt sind. Dass aber auch die Beschäftigten in den Kitas und beim Jugendamt so toll im Streik dabei sind, freut uns sehr“, so Riexinger im junge-Welt-Interview vom 22. Februar. „Die Arbeitgeber sind zur Zeit sehr nervös, weil sie nicht damit gerechnet haben, dass die Beschäftigten bereit sind, wegen der Arbeitszeitfrage in den Streik zu gehen.“

Wann hat es jemals solch eine hohe Zustimmung zum Streik in Urabstimmungen im öffentlichen Dienst gegeben? Bei der Streikversammlung im Stuttgarter Klinikum sprach sich am Dienstag, den 21. Februar die Versammlung bei nur einer Gegenstimme für die Fortsetzung und Ausweitung des Streiks aus. SAV-Mitglied Ari Häcker, Vertrauensmann, wird in der jungen Welt mit den Worten zitiert: „Beim Streik 1992 haben wir es gar nicht geschafft, Streikposten aufzustellen – jetzt haben die Leute den Mut, sich selbstbewusst vor die Tür zu stellen.“ In Stuttgart wie in anderen Städten nehmen Azubis übrigens auch aktiv an den Protesten teil. Am vergangenen Freitag in Stuttgart demonstrierten 300, unter denen nicht nur die 38,5- sondern auch die 35-Stunden-Woche Diskussionspunkt war.

Während in den bürgerlichen Medien behauptet wird, dass die Bevölkerung sich angewidert abwenden würde, ergab eine Umfrage im Stuttgarter Klinikum unter BesucherInnen bei 190 Befragten eine Zustimmung zum Arbeitskampf bei 156, eine ablehnende Haltung bei 20.

Während im letzten Jahr 100.000 KollegInnen ver.di verlassen haben, gab es seit Streikbeginn 20.000 Eintritte in die Gewerkschaft.

Auf der Streikkundgebung am 22. Februar in Hamburg rief Frank Bsirske aus: „Jetzt ist die Stunde des Streiks“. Während die Reden der ver.di-Spitze von markigen Worten geprägt sind, ist zu konstatieren, dass längst nicht alle streikbereiten Betriebe im Ausstand sind. Es fehlt an ernstzunehmenden Anstrengungen, weitere Betriebe streikfähig zu machen und auf eine Ausdehnung hinzuarbeiten. Weiter gilt die Taktik der „Nadelstiche“ statt der Zielsetzung eines bundesweiten flächendeckenden Streiks.

Schlimmer noch: Es mehren sich Anzeichen, dass ver.di dabei ist, den Rückzug anzutreten. So soll vor dem Hintergrund der beginnenden Verhandlungen im Südwesten (Baden-Württemberg als Pilotbezirk) der Streik in einigen Bereichen ausgesetzt werden. In Stuttgart gilt das konkret für das Klinikum und die Kitas. Bei der Müllabfuhr wird der Streik allerdings fortgesetzt. Es gibt ernste Bemühungen, ab Montag wirksam Streikposten zu organisieren. Aus gutem Grund: Schließlich erwägt die Gegenseite in diesem Bereich den Einsatz von Privaten.

Der Streik im öffentlichen Dienst tritt jetzt offensichtlich in seine entscheidende Phase. Ein Verhandlungsergebnis zwischen ver.di und den Kommunalen Arbeitgebern ist in den nächsten Tagen – zunächst für den "Pilotbezirk" Baden-Württemberg – nicht auszuschließen. Das wäre dann genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die ersten Warnstreiks in der Metalltarifrunde angesetzt werden. Die Chance, die Kräfte zu bündeln, wäre vertan.

Bsirske hat ja bereits am dritten Streiktag laut über ein Stufenmodell nachgedacht: Längere Arbeitszeiten für Jüngere, kürzere für Ältere. Am Donnerstag, den 23. Februar wurden Verhandlungen in Baden-Württemberg aufgenommen. Diese sollen am Montag, den 27. Februar fortgesetzt werden. Möglicherweise würde es dann auch zu Abschlüssen in einzelnen Unikliniken (die nicht mehr zur TdL gehören) kommen. Den Länderbeschäftigten droht dann, isoliert zu werden und am ausgestreckten Arm zu „verhungern“.

Denkbar ist natürlich auch ein fauler Kompromiss bei den Länderbeschäftigten. Nach der Verhandlung zwischen ver.di und der Tarifgemeinschaft der Länder am 20. Februar soll es um den 10. März den nächsten Termin geben. Ein Szenario wäre eine Vertagung beziehungsweise ein Scheitern der Verhandlungen bei den Kommunalbeschäftigten und ein Ergebnis für die Länder. In diesem Fall könnten über die „Meistbegünstigungsklausel“ Verschlechterungen auch auf die Kommunen übertragen werden. Das ist wohl nur theoretisch eine Option. In der Praxis ist dieses Szenario extrem unwahrscheinlich, weil die kampfstärkeren Kommunalbeschäftigten im Fall von Arbeitszeitverlängerungen auf diesem Weg laut aufschreien würden und eine Radikalisierung zu erwarten wäre.

Der ver.di-Verhandlungsführer Alfred Wohlfart sprach am Mittwoch, den 22. Februar auf einer Kundgebung von 5.000 auf dem Stuttgarter Schlossplatz vom „längsten Arbeitskampf in unserer Tarifgeschichte“. Auch wenn die ver.di-Führung darauf hinarbeitet, den Streik früher oder später abzuwürgen, statt substanziell auszuweiten, sagte Wohlfart richtigerweise: „Der Streik hat eine ganz große Bedeutung – er wird bestimmen, wie das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten in Zukunft geregelt sein wird.“ Immer mehr KollegInnen spüren, dass es einen Dammbruch geben könnte, wenn die Streikenden beziehungsweise die ver.di-FührerInnen jetzt klein bei geben sollten.

Bei der Demonstration von 4.000 ver.di-Beschäftigten zum AEG-Werk in Nürnberg Anfang der Woche zeigte sich deutlich, dass Bewusstsein, Klassenbewusstsein, sich sprunghaft entwickelt. Dort herrschte ein großes Verständnis davon vor, zusammen zu gehören und zusammen stehen zu müssen – gegen "die da oben". Sowohl in Nürnberg wie auch bei der zentralen Hamburger Streikkundgebung von ver.di fiel jeweils einmal das Wort „Generalstreik“. Neben der Nowendigkeit einer Ausdehnung des ver.di-Streiks stellt sich in der Tat die Frage, wie die Kämpfe bei ver.di, AEG, CNH, Telekom und vor allem der jetzt beginnenden IG-Metall-Tarifrunde zusammengeführt werden können.

Auf örtlicher Ebene gibt es zum einen Entwicklungen hin zu Protesten im öffentlichen Dienst, in die eine Vielzahl von Betrieben einbezogen sind: So streikten in Hamburg am 22. Februar 6.000 Beschäftigte, darunter die Stadtreinigung, Stadtentwässerung, Bauhöfen, Straßenmeistereien, städtischer Ordnungsdienst sowie Beschäftigte der Schulen, Hochschulen und Schwimmbäder. In Stuttgart legten am gleichen Tag neben Müllabfuhr, Stadtreinigung und Kliniken auch KollegInnen im Rahmen eines „pädagogischen Tags“ bei Kitas, Schulen, Jugendämtern und Theater die Arbeit nieder.

Vielerorts bestehen Möglichkeiten, den Widerstand auch branchenübergreifend zusammenzubringen. In Mettingen ist für den 1. März der erste Warnstreik in der Metalltarifrunde angesetzt. Stuttgarter SAV-Mitglieder argumentieren aus diesem Grund dafür, dass ver.di Stuttgart für den Tag ebenfalls nach Mettingen mobilisiert. In Bremen ist der DGB auf Druck von unten gezwungen, am 1. März zu einem betriebs- und branchenübergreifenden Protest aufzurufen (siehe den Bericht auf der SAV-Website; Heino Berg konnte auf der BR- und PR-Konferenz auch für die WASG einen Beitrag machen). Auch in Rostock könnte der Druck in diese Richtung zunehmen (dort droht ein Klinik-Verkauf und es brodelt bei der Stadtverwaltung vor dem Hintergrund der dortigen Kürzungspläne); am 22. Februar hat die SAV ja eine Veranstaltung im DGB-Haus mit dem örtlichen ver.di-Vorsitzenden organisieren können. Die DruckerInnen und andere Beschäftigte der Ostsee-Zeitung führen Streikmaßnahmen unter anderem gegen Kündigungen durch. Auf der ver.di-Website wird über den Besuch von Christine Lehnert, SAV-Bürgerschaftsabgeordnete, und anderen SAV-Mitgliedern bei den Streikposten berichtet.

Ansatzpunkte also, einen lokalen, wenn nicht regionalen Streik- und Protesttag einzufordern und auf diesem Weg die Frage einer solchen Maßnahme auf überregionaler Ebene aufzuwerfen. Auf diesem Weg könnten in der Tat Schritte unternommen werden, das Kräfteverhältnis zu Gunsten der abhängig Beschäftigten nachhaltig zu verbessern.