Bolivien nach dem Aufstand

Massen fordern Verstaatlichung des Energiesektors
 
Nach monatelangen Protesten, Streiks und Blockaden in nahezu allen Provinzen Boliviens ist Präsident Carlos Mesa am 6. Juni zurückgetreten. „Dieses Land ist unregierbar“ kommentierte er die Situation Boliviens und übergab das Amt an den obersten Richter, Eduardo Rodríguez, ab. Als fünfter Präsident in fünf Jahren gibt man auch ihm nicht viel Hoffnung, die Krisenherde Boliviens in den Griff zu bekommen. Es geht um viel, nicht nur für die bolivianische Bevölkerung: Die Forderungen, das Erdgas zu verstaatlichen, lässt Unternehmer aufschreien und das Bush-Regime nervös werden. Die Spaltung innerhalb der bolivianischen Bevölkerung verhindert bis jetzt jedoch eine gemeinsame Linie von Koka-Bauern, Indígenas des Hochlandes, Minenarbeitern, LehrerInnen und anderen.
Carlos Mesa wollte schon im März das Handtuch werfen. Im Oktober 2003 löste er den korrupten Minenbesitzer und Milliardär Sanchez de Lozada ab, der von den sozialen Bewegungen regelrecht aus dem Land verjagt wurde. Das militärische Eingreifen Lozadas in die Proteste gegen die Erdgasexporte nach Chile und in die USA kostete damals über 60 Menschen das Leben. Mesa, parteiloser Historiker und TV-Moderator, galt dann als „neutrale“ Kraft und versprach eine gewaltfreie Lösung der Konflikte. 800 Proteste fanden zu seiner Amtszeit statt, von Generalstreiks über der Blockade von 80 Prozent aller Straßen bis hin zu Parlamentsbesetzungen.

Politische und soziale Instabilität

Gebeutelt von der Kolonialisierung Spaniens im 16. Jahrhundert zieht sich die Unterdrückung der Bevölkerung bis heute fort. 200 Staatstreiche erlebte das Land seit seiner Unabhängigkeit 1825. Zumeist brutale Militärregierungen, die dafür sorgten, dass die unterdrückten Massen (vor allem die 65 Prozent indigene Bevölkerung) sich ruhig verhielten. Nach wie vor liegt die politische und ökonomische Macht in den Händen einer kleinen, wohlhabenden Minderheit (primär Weiße und Mestizen).
Gleichzeitig ist das Andenland eines der ärmsten des Kontinents. Reich an natürlichen Ressourcen (Silber, Gold, Zinn, Zink), gelten Erdöl und Erdgas als das Gold der Moderne. Seit den neunziger Jahren wurden über vier Milliarden Dollar im Erdgassektor an Auslandsinvestitionen getätigt. Wem dieser Reichtum jedoch zu Gute kommt, ist allein daran zu sehen, dass über 70 Prozent der BolivianerInnen gar keinen Gasanschluss haben und über 50 Prozent von zwei Euro am Tag leben müssen.

Massenproteste gegen Großkonzerne

Im Zuge von Neoliberalismus, Wasserprivatisierung, Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen kam es in den letzten Monaten zu immer massiveren Protesten. Zentral wurde die Forderung nach der Verstaatlichung des Energiesektors. Während multinationale Firmen wie Repsol, Shell und British Gas der Regierung mit Klagen, der Internationale Währungsfonds (IWF) mit der Kürzung des Geldflusses nach Bolivien drohen, versuchte Mesa im Mai das neue Erdgasgesetz, das für Abschreibungen 32 Prozent Sondersteuern als möglich ansah, zu verabschieden.
Evo Morales, Führer der Koka-Bauern und derzeit mit seiner MAS (Bewegung zum Sozialismus) einflussreichste Oppositionskraft, unterstützte Mesa anfangs. Bald musste er sich aber dem Druck der Massen beugen, seine moderate Forderung nach einem Steuersatz von 50 Prozent verwerfen und die Forderung nach Verstaatlichung unterstützen. Er will 2007 Präsident werden.
Andere Kräfte wie die Gewerkschaft COB und die Lehrergewerkschaft verlangten außerdem die Auflösung des Parlamentes, eine verfassungsgebende Nationalversammlung und sofortige Neuwahlen.
Die Skepsis etablierten Institutionen gegenüber ist auch an der Zunahme von neuen Strukturen wie Stadtteilkomitees erkennbar, wie sie gerade in El Alto, der ärmeren Nachbarstadt von La Paz, entstanden.

Vor einem Bürgerkrieg?

In seiner Rücktrittserklärung warnte Mesa vor einem bevorstehenden Bürgerkrieg und der Zersplitterung des Landes. Aber mit faulen Kompromissen haben die benachteiligten BolivianerInnen Jahrzehnte lang ihre Erfahrungen gesammelt und haben die Nase voll. In der Tat wird es aber die schwierigste Aufgabe der Zukunft sein, die Kräfte der unterdrückten Massen zu einen. Vor allem die sich verstärkenden Autonomiebestrebungen der reicheren Provinzen im Südosten Boliviens gegenüber dem armen Nordwesten zeigen diese Gefahr auf.
Es existieren Elemente einer Doppelmacht. In El Alto, aber auch La Paz werden Strom- und Lebensmittelversorgung zum Teil von unten organisiert. Die örtlichen Komitees müssen auf allen Ebenen vernetzt werden. Entscheidend ist der Aufbau einer Arbeiterpartei mit sozialistischem Programm, das Spaltungstendenzen überwinden kann und für eine Arbeiter- und Bauernregierung und die Verstaatlichung der Banken und Konzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung mobilisiert. Um sich vor einem Putsch zu schützen, müsste an Soldaten appelliert werden mit den Befehlshabern zu brechen und Soldatenkomitees zu bilden. Eine solche revolutionäre Bewegung Boliviens müsste einen internationalen Appell starten und auf die Ausdehnung in andere Länder Lateinamerikas setzen.

von Marlene Hentschel, Berlin