Türkei und EU

Internationale ArbeiterInnen-Einheit gegen EU-Kapital und rassistische Hetze


 

Die Auseinandersetzungen um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei sind emotionalisiert und polarisiert. Die Sozialistische LinksPartei (SLP) nimmt im Gegensatz zu allen etablierten Parteien einen unabhängigen Standpunkt ein, der auf den Interessen von ArbeitnehmerInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen sowohl in Österreich als auch der Türkei baut. Wir lehnen die Bestrebungen des EU-Kapitals ab, die Arbeitskräfte der Türkei stärker auszubeuten. Wir stellen uns gegen die anti-islamische und rassistische Hetze, die besonders von rechtsextremen Kräften geschürt wird. Gleichzeitig warnen wir vor Illusionen in ein angeblich soziales und demokratisches EU-Europa, das die Türkei demokratisieren und ent-militarisieren oder den Lebensstandard der Bevölkerung heben könnte.

Als MarxistInnen beleuchten wir die verschiedenen Argumente und Hintergründe. Unsere internationalistische Position umfasst, unabhängig vom eventuellen EU-Beitritt, die Forderungen nach vollen demokratischen und sozialen Rechte für alle in Österreich (bzw. im jeweiligen EU-Land) lebenden Menschen, Reise- und Niederlassungsfreiheit sowie die Zurückweisung jeglicher national-chauvinistischer Positionen. Konkret bedeutet das die Rücknahme aller rassistischen Gesetze der letzten Jahrzehnte, sowie volle Rechte in Bezug auf Wohnen, Arbeit und Sozialleistungen für alle hier lebenden Menschen, unabhängig von der StaatsbürgerInnenschaft.

Beim EU-Gipfel der Staats-und Regierungschefs am 17. Dezember 2004 wird über die Aufnahme von Beitrittsv­er­handlun­gen mit der Türkei entschieden. Gegebenenfalls steht ein Türkei-Beitritt in zehn Jahren an. Doch in zehn Jahren kann und wird viel passieren. Angesichts der schwierigen und instabilen Situation des Kapitalismus weltweit – auch in der EU – und einer alles andere als friedlichen Perspektive für den Mittleren und Nahen Osten kann nur eines gesagt werden: sollte die Türkei tatsächlich in zehn Jahren in einer EU Mitglied werden, dann hat diese mit der heutigen EU wenig gemeinsam.

Wirtschaftliche Gründe stehen im Zentrum:

Vor dem Hintergrund der kapitalistischen Krise und steigender Konkurrenz ist der Zugriff auf Regionen und Länder zentral. Die Türkei ist als Rohstoffquelle, Absatzmarkt, Anlagesphäre für Kapital sowie billige Arbeitskräfte interessant. Das europäische Kapital will sich den Zugang zu türkischen Ressourcen und dem türkischen Markt sichern und diese nicht den USA überlassen. Die zunehmende Blockbildung (der NAFTA-Block aus USA, Kanada und Mexiko soll auf ganz Nord- und Südamerika zur FTAA erweitert werden vs. der EU) beschleunigt diesen Prozess. Das ist der vorrangige Grund aus der Sicht der Herrschenden für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei.
Neue Märkte: Mit einem EU-Beitritt der Türkei erhoffen sich viele europäische Unternehmen Vorteile gegenüber den USA auf einem Absatzmarkt von knapp 70 Millionen Menschen mit Wirtschaftswachstum von bis zu 6 % (bei allerdings sehr hoher Inflation). Dies gilt besonders für die deutsche Wirtschaft, die mit 15,3 % der wichtigste Importpartner der Türkei ist und ein besonderes Interesse an einem EU-Beitritt der Türkei zeigt. BDI-Präsident Rogowski: "Für die deutsche Industrie ist die Türkei ein Wachstumsmarkt mit großem strategischen Potenzial." (Financial Times Deutschland, 6.10.04) "Der deutsche Groß- und Außenhandel begrüßt die Entscheidung der EU- Kommission. Wir befürworten die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus wirtschaftlichen und politischen Gründen. Ökonomisch, weil wir von der Dynamik des Beitrittsprozesses zum gegenseitigen Nutzen überzeugt sind. Wie schon bei den vorangegangenen Erweiterungen rechnen wir mit einer beitrittsinduzierten Wachstums- und Gewinnerspirale, von der Deutschland überproportional profitiert." Dies erklärt Anton F. Börner, Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels e.V. (BGA)
Es geht aber nicht nur um den Absatz von Waren, sondern auch um den Zugriff auf (zu privatisierende) Infrastruktur und den Kapitalmarkt. Schon seit Ende der 1990er Jahre wurden auf Druck des IWF (Internationaler Währungsfond) Energie- und anderer Staatsbetriebe an die internationalen Monopole, insbesondere Deutschlands, verkauft. Dies soll beschleunigt werden. Die EU bedeutet keine Änderung der Wirtschaftspolitik, sondern setzt die IWF-Politik, die zu Privatisierung und damit Massenentlassungen, zur Zurückdrängung gewerkschaftlicher Organisation, zu hoher Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen geführt hat, fort. Die Brüsseler Berichte, die den "Fortschritt in der Erfüllung der Beitrittskriterien" verfolgen, führen eine Mängelliste: darauf steht die "Beschleunigung der Privatisierung der Industrie und Landwirtschaft". Die Liberalisierung der Post, Umstrukturierung des Bankensektors, Fortsetzen der Agrarreformen und Marktliberalisierungen werden gefordert, sowie das staatliche Tabak-Monopol als "erhebliches Problem" kritisiert. "Neue Märkte" ist nicht nur regional, sondern auch branchenmässig zu verstehen, der GATS-Vertrag u.ä. haben die Aufgabe, bisher staatlich geführte Bereiche für die Privatwirtschaft zu öffnen. Der geschätzte Investitionsbedarf ist groß: 10.000 Autobahn-Kilometer fehlen ebenso wie 30.000 Kilometer Schienennetz und vernünftige Häfen. Millionen Wohnungen sind dringend sanierungsbedürftig und es gibt einen wachsenden Telekommunikations-Markt.
Im Zuge der Verhandlungen gibt es beiderseitige wirtschaftliche Gunstbezeugungen: Turkish Airlines bestellte beim europäischen Airbus-Konzern 36 Maschinen. Bisher orderte die Airline ausschließlich bei Boeing (USA). Zugleich kündigte Erdogan an, sein Land wolle künftig Kernkraftanlagen aus Frankreich beziehen. Deutschland will der Türkei nun einige hundert Leopard-II-Panzer verkaufen. Noch in den 1990er Jahren war dies aufgrund der Einstufung der Türkei als "Krisengebiet" nicht durchsetzbar.

Strategische Position der Türkei:

Durch ihre Lage im "Krisendreieck Balkan – Kaukasus – Mittlerer Osten" und grenzend an Irak und den Kaukasus, auf dem Weg zum Erdöl des Persischen Golfs und des Kaspischen Meeres, hat die Türkei große strategische Bedeutung: wirtschaftlich und militärisch.
Die Türkei könnte für die EU-Staaten zum Billiglohnland werden, wohin Produktion ausgelagert werden kann und das nah an den Märkten im Nahen und Mittleren Osten liegt. Es wäre somit "Türöffner" in Richtung islamischer Staaten, was insbesondere vor dem Hintergrund der US-Politik in der Region von wachsender Bedeutung sein kann.
Insgesamt sind die EU-Erweiterungspläne allerdings voller Widersprüche und stellen eine "Flucht nach vorne" dar. Die Hoffnung ist, dadurch die Wirtschaft zu stabilisieren. Die Widersprüchlichkeit wird u.a. in den unterschiedli­chen Hoffnungen und Einschätzungen bezüglich der Türkei und ihrer Haltung zur EU bzw. den USA ausgedrückt. Als bisher US-loyales NATO-Mitglied wird die Möglichkeit, die Türkei in einem wachsenden Konflikt zwischen den Wirtschaftsblöcken auf Seiten der EU halten zu können, von den imperialistischen Mächten als unterschiedlich einge­schätzt. Diese unterschiedliche Einschätzung ist ein wesentlicher Grund für die unterschiedliche Haltung der einzelnen EU-Staaten zu einem möglichen Beitritt der Türkei. Die letzten Jahre haben die USA und Britannien die Aufnahme des NATO-Landes Türkei in die Europäische Union (EU) gefordert, während Länder wie Deutschland und Frankreich eher zögerten. Beides hatte den selben Grund. Die Türkei galt wie Britannien als besonders enger Verbündeter der USA, während die Herrschenden in Frankreich und Deutschland versuchen, die EU zu einer mit den USA konkurrierenden Weltmacht aufzubauen. Dazu dient die Aufrüstung der EU, die in der EU-Verfassung verankert werden soll, sowie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dass Chirac und Schröder jetzt für den EU-Beitritt der Türkei sind, drückt die Hoffnung aus, die Türkei im Laufe der jahrelangen Beitrittsverhandlungen "umpolen" zu können. Gestärkt wird di­ese Hoffnung durch die Türkisch-US-Amerikanischen Spannungen im Zuge des Irak-Krieges und der Besatzung. Dann wäre die Türkei mit ihrer Lage ein großer Trumpf im Konkurrenzkampf mit den USA. Wenn die Rechnung nicht aufg­eht, wäre sie neben Britannien ein weiteres "trojanisches Pferd" der USA in der EU. Diese Unsicherheit ist einer der Gründe, warum die Herrschenden in der EU sich keineswegs einig sind, ob sie für den Beitritt der Türkei sein sollen.
Vor dem Hintergrund wachsender wirtschaftlicher Konkurrenz und damit Spannungen innerhalb der EU birgt die Frage des Beitrittes der Türkei einigen Sprengstoff. Es kommt zu einem Kräftemessen zwischen Staats- und Regierungsschefs bzw. EU-Parlament, zwischen den Fraktionen und Nationalstaaten.

Probleme eines Beitrittes:

Neben den erwarteten Vorteilen für die Wirtschaft gibt es eine Reihe offener Fragen und (potentieller) Probleme:

Agrarpolitik: Die türkische Agrarfläche ist 38 Millionen Hektar groß. Mit 33 % arbeiten weit mehr TürkInnen in der Landwirtschaft als im Durchschnitt der EU-25 (5 %). Hohe Agrarsubventionen der EU an die Türkei werden als Hindernis für einen Beitritt genannt. Diese Berechnung geht allerdings vom derzeitigen Rechtsstand aus, der sich bis 2015 ändern wird. Auf der anderen Seite muss die Türkei ihren extrem (preis)geschützten Agrarsektor reformieren, was zu Billigimporten führen kann und die BäuerInnen unter Druck setzt.

Strukturförderung: Nach jetzigen Regeln wäre die gesamte Türkei "Ziel-1-Gebiet". Zudem würden bei einem Beitritt die zehn ärmsten EU-Regionen alle in der Ost-Türkei liegen. Andere Regionen, die jetzt Förderungen erhalten, würden diese verlieren (da die Förderung sich nach dem EU-Durchschnitt berechnet, der mit einem Beitritt der Türkei sinkt) – was für die jeweilige Bevölkerung stärkere soziale Probleme bedeuten würde. Viele RegionalpolitikerInnen würden so einen Beitritt populistisch ablehnen. Um dem entgegenzuwirken wird überlegt, die Ansprüche der Türkei zu kappen.

Arbeitsmarkt: bereits 1963 wurde die "Assoziierung" der Türkei mit dem EU-Vorläufer EWG beschlossen. Seither ist der Zugang für türkische ArbeitnehmerInnen leichter als für andere "AusländerInnen", wenn auch schwerer als für EU-BürgerInnen. Mit einem eventuellen Beitritt der Türkei wird – wie schon bei der EU-Osterweiterung – insbesondere von rechten EU-GegnerInnen die Angst vor zusätzlicher "Arbeitsimmigration" geschürt. Angesichts von steigender Arbeitslosigkeit und der Kürzungen bei Arbeitslosen (z.B. Hartz IV in Deutschland) fällt diese Propaganda auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich ist bei der Freizügigkeit der ArbeiterInnen von "permanenten Schutzklauseln" die Rede ("geschützt" wird durch sie der Staat vor dem Zahlen von Sozialleistungen).

Menschenrechte: diese werden von Beitritts-GegnerInnen ebenso wie die Religionsfrage vorgeschoben. Tatsächlich hat keine Regierung eines EU-Staates Probleme mit Menschenrechtsverletzungen, solange die Kassa stimmt. Der wachsende islamische Fundamentalismus ist eine sensiblere Frage, da hier viel Stimmung, insbesondere im Zusammenhang mit der Frage von "Terrorismus" gemacht wird. Für die Herrschenden ist er auch insofern ein Problem, als er die Regierung und das türkische politische System unberechenbarer macht, da sie unter steigendem Druck von religiösen Gruppen stehen. Es sind nicht die Fragen von "christlichen Werten" oder "Frauenrechten" sondern die Frage von Berechenbarkeit, die für die Regierungen der EU-Staaten von Bedeutung sind. Die türkische Regierung ist offensichtlich bereit, die wirtschaftlichen Auflagen zu erfüllen (z.B. Maastricht-Vertrag), bei den "demokratischen" ist das keineswegs so deutlich.

Zypern ist seit 1974 in einen türkischen Nord- und einen griechischen Südteil geteilt. In der Türkei ist Zypern ein sensibles Thema. In letzter Zeit gab es von Seiten der türkischen Regierung Signale in Richtung einer weicheren Position – mit der Unterstützung für das UN-Referendum über eine Wiedervereinigung erhoffte sich die türkische Regierung bessere Karten für die eigenen Beitrittsverhandlungen. Da das Referendum mehrheitlich gegen eine Wiedervereinigung ausgegangen ist, ist die Zypernfrage keineswegs gelöst, sondern nur auf die lange Bank geschoben. Die Frage einer Vereinigung als eigener zypriotischer Staat und insbesondere die Interessen der türkisch-zypriotischen sowie griechisch-zypriotischen ArbeiterInnenklasse stellen sich für die EU nicht.

Wer ist für oder gegen einen Beitritt?

Die Haltungen zu einem eventuellen Beitritt sind in- und außerhalb der Türkei sehr widersprüchlich. Sie sind nicht einfach entlang eines traditionellen links-rechts-Schemas zu erklären. Innerhalb der Türkei wird der Beitritt von den meisten linken und auch gewerkschaftlichen Kräften unterstützt. Es gibt jedoch auch Ablehnung (u.a. von der linken ÖDP) gegen das kapitalistische/imperialistische Projekt EU. Die Regierungspartei AKP, die ihre Wurzeln im islamischen Fundamentalismus hat, gegenwärtig aber v.a. die Interessen des türkischen Kapitals vertritt, tritt für den Beitritt ein, während offen fundamentalistische Organisationen sowie v.a. die traditionell ntaionalistischen Kräfte und das Militär gegen einen Beitritt sind. Viele Generäle befürchten einen Verlust ihrer Machtposition. Auch außerhalb der Türkei finden sich BefürworterInnen und GegnerInnen in den verschiedenen Lagern (SPÖ dagegen – SPD dafür; FP-Haider dafür – FP-Mölzer dagegen), wobei die Tendenz besteht, dass "Oppositionsparteien" versuchen, auf Basis der ablehnenden Stimmung in der Bevölkerung auf Stimmenfang zu gehen (z.B. die SPÖ, die für eine Zwitterlösung steht, die wirtschaftliche Vorteile für das europäische Kapital bringt, aber trotzdem die Türkei draußen hält). Von weiten Teilen der extremen Rechten wird das Thema zu offener anti-islamischer und nationalistischer Hetze genutzt.
In der Türkei gibt es große Hoffnungen in einen EU-Beitritt (70-90 % positiv zur EU). Diese umfassen die Verbesserung der sozialen Lage, dem Ausbau demokratischer Rechte, Rückdrängung des Einflusses des Militärs und das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen sowie Verbesserungen für die alewitische Bevölkerung. Auch viele Linke erhoffen sich durch einen Druck von Seiten der EU in Bezug auf demokratische und Menschenrechte eine wichtige Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte. In den überwiegend von KurdInnen bewohnten südöstlichen Provinzen gibt es eine Zustimmung von 97,7 % für einen EU-Beitritt – die wichtigen kurdischen Organisationen befürworten einen Beitritt.
Doch der EU sind Menschenrechte und im speziellen die Rechte von ArbeiterInnen nicht viel Wert. Den Assoziationsvertrag gibt es mit der Türkei trotz Verfolgung und Unterdrückung der KurdInnen. Nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 äußerte das Europäische Parlament Verständnis und Deutschland hat die Generäle sogar unterstützt. Die in Kurdistan eingesetzten Sonderkommandos wurden zuerst von deutschen Militärs ausgebildet. 1991 waren der Türkei unter dem deutschen Kanzler Kohl schon 300 NVA-Schützenpanzer überlassen worden. Das ZDF-Magazin "Frontal 21" berichtete kürzlich, dass Spezialkräfte der türkischen Gendarmerie diese Panzer in der Provinz Sirnak gegen aufständische KurdInnen einsetzten.
In den alten und neuen EU-Staaten gibt es in den letzten Jahren zunehmend repressive Gesetze und die Abschaffung demokratischer Rechte unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung wird auch in Österreich u.a. von "amnesty international" kritisiert.

Große Skepsis und rechtsextreme Hetzer

In den EU-Staaten gibt es große Skepsis, viele Vorurteile und starke Ablehnung gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Laut einer Format-Umfrage sind 66 % der ÖsterreicherInnen dagegen. Die wachsenden sozialen Probleme in der EU sind die Grundlage, auf der nationalistische, rassistische und christlich-fundamentalistische Stimmung gemacht wird. Auch nicht-rechtsextreme bürgerliche Parteien – wie in Deutschland die CDU und in Österreich die SPÖ – schüren diese Vorurteile. Die CDU hat eine Unterschriftensammlung gegen einen EU-Beitritt der Türkei angedacht, der sofort von der neo-faschistischen NPD und DVU aufgegriffen wurde.
Insbesondere von rechtsextremen PopulistInnen wie H.C.Strache (FP-Wien) wird mit offen anti-türkischen und anti-islamischen Argumenten gearbeitet. Es ist nicht ausgeschlossen, dass von rechter Seite ein Volksbegehren gegen den EU-Beitritt eingeleitet wird. Die rechtsextreme Anti-Türkei-Politik dient nicht dazu, den Lebensstandard der österreichischen ArbeiterInnen zu verteidigen oder zu verbessern. Im Gegenteil ist die Politik der FPÖ praktisch darauf ausgerichtet, diesen diesen drastisch zu senken. Ein solches Volksbegehren würde daher zur Stärkung der FPÖ und des Rassismus führen. Es würde eingesetzt werden, um von der Verantwortung der FPÖ für den Sozialabbau in Österreich abzulenken. Gegen eine solche Hetze, wie auch gegen den Sozialabbau, der sie verstärkt, ist gemeinsamer Widerstand von österreichischen, türkischen, kurdischen, alewitischen ArbeiterInnen und Jugendlichen notwendig. Dem ÖGB kommt hierbei eine besondere Aufgabe zu, die er bisher nicht erfüllt: anstatt sich auf einen nationalistischen "Österreich zuerst"-Standpunkt zurückzuziehen, hätte die Gewerkschaft die Aufgabe, ALLE Beschäftigten, unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft zu organisieren und für ihre gemeinsamen Interessen einzutreten.
Wir SozialistInnen haben zur Frage EU-Beitritt der Türkei eine differenzierte Position. Wir sind nicht reflexartig "dafür", weil die rechten "dagegen" sind, sondern versuchen bei den jeweiligen Kampagnen – für oder gegen den Beitritt – aufzuzeigen, was dahinter steckt. Wir stellen den diversen bürgerlichen Standpunkten eine sozialistische und internationalistische Position entgegen. Wichtig ist es, die Hintergründe zu erklären und die Auswirkungen. Keineswegs würde sich die soziale Situation der türkischen ArbeiterInnen und BäuerInnen verbessern. Die Regierung in Ankara ist bereit, alle neoliberalen Angriffe durchzuführen und von den EU-Agrarsubventionen haben die Klein- und KleinstbäuerInnen nichts (wie sich z.B. in Polen im Zuge der Osterweiterung gezeigt hat). Sozialabbau und Subventionskürzungen in anderen Staaten werden nicht in erster Linie das Ergebnis eines Beitrittes der Türkei sein, sondern einer neoliberalen Politik, die Sozialstaaten zerschlagen, Öffentliche Dienste privatisieren und die Rechte der ArbeiterInnen einschränken will. Die EU wird den Aufbau moderner Fabriken (mit vielen Maschinen und wenig Arbeitskräften) in der Türkei subventionieren, mit denen dann die ArbeiterInnen in ganz Europa erpresst werden, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Nicht die türkischen ArbeiterInnen sind schuld, sondern der Kapitalismus und seine Nutzniesser.
Die Leidtragenden der Politik der EU sind ArbeitnehmerInnen, Jugendliche, Frauen, PensionistInnen, Arbeitslose; in der "alten EU", den "neuen" EU-Staaten und der Türkei. Wir sind gegen die EU der Banken und Konzerne an sich, weil dieses nur dazu dient, für die europäischen KapitalistInnen möglicht gute Bedingungen zu schaffen. Wenn sich die Menschen in der Türkei mehrheitlich dazu entschließen, der EU beitreten zu wollen, dann sollen sie das Recht dazu haben. Wir müssen aber davor warnen, dass ihre Hoffnungen nicht erfüllt werden und werden mit jenen Kräften in der Türkei und Kurdistan zusammenarbeiten, die das auch so sehen. Wichtig ist, die Erfahrungen mit dem EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten und die enttäuschten Hoffnungen einzubeziehen.
In den Versuchen, Belegschaften und Standorte gegeneinander auszuspielen, ist sich das europäische Kapital einig. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat die Aufgabe, eine internationalistische Herangehensweise und Arbeit gegen Standortlogik und erpresserisches "nach unten Nivellieren" zu organisieren. Es ist daher notwendig, dem Projekt der EU und der weiteren Erweiterung das Projekt des gemeinsamen Kampfes von ArbeitnehmerInnen und Jugendlichen in und außerhalb der EU entgegenzustellen. Insbesondere den Gewerkschaften kommt hier große Verantwortung dabei zu, die national-chauvinistische Propaganda zu überwinden. Möglichkeiten für solche Kämpfe hat es in der Vergangenheit schon gegeben, und ArbeiterInnen haben auch schon grenzüberschreitende Kämpfe geführt. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat diese Entwicklung aber nur zögerlich mitgemacht und setzt auf Verhandlungen statt Klassenkampf. Diese Lähmung der Gewerkschaften muss überwunden und durch eine internationalistische und kämpferische Politik ersetzt werden.
Ein vereinigtes Europa ist ein wichtiger Schritt für eine Welt ohne Ausbeutung. Frieden, Wohlstand und Sicherheit sind für die Menschen in Europa und Asien aber nicht möglich, solange die Profitlogik des Kapitalismus regiert. Eine echte Vereinigung kann nur auf Basis einer grundlegend anderen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erfolgen. Die SLP, österreichische Sektion des "Komitee für eine ArbeiterInnen-Internationale" (CWI/KAI), tritt daher für eine Föderation der sozialistischen Staaten von Europa als echtes Friedens- und Wohlstands-Projekt ein.

Stellungnahme der SLP(Schwesterpartei der SAV in Österreich) zur Diskussion um EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Wien, 11. November 2004