Bericht vom Besuch der CWI-Gruppen in Russland

Im Oktober 2002 hatte ich f?r knapp zwei Wochen die M?glichkeit, die politische Arbeit unserer Ortsgruppen in Woronesch, Jaroslavl und Moskau kennen zu lernen und dort von der Arbeit der deutschen Sektion und der politischen Lage bei uns zu berichten.
 
In Russland, Kasachstan, der Ukraine und Moldawien gibt es eine gemeinsame CWI-Sektion. In Russland hei?t die Partei ?Sozialistischer Widerstand?, aber h?ufig wird auch einfach nur von ?Kri? gesprochen (russisch Abk?rzung von ?Komitee f?r eine Arbeiterinternationale?). Sehr spannend war es, zu erleben, wie die politische Arbeit in Russland l?uft. N?mlich teilweise ganz anders als in Deutschland. Es finden z.B. gar keine regelm??igen Infost?nde statt, aber auf Demos k?nnen einzelne GenossInnen manchmal bis zu 100 Zeitungen verkaufen.

Woronesch
Die ersten Tage verbrachte ich in Woronesch, einer Stadt, die eigentlich eher als Provinz gilt (eine Million Einwohner, 12 Stunden Bahnfahrt von Moskau).

Boykott der Miet-?Reform?
Doch hier wurden landesweite Proteste angeschoben. Im April gingen mindestens 25.000 MieterInnen auf die Stra?e ? die gr??te Demo in der Geschichte der Stadt ? , um gegen eine Explosion der Mieten zu demonstrieren. Das Ergebnis der Miet-?Reform? war n?mlich, dass die Mieten um 100-300% anstiegen! Das bedeutet, dass die L?hne, die in Woronesch im Durchschnitt bei 80 Euro liegen, f?r Mieten, die von 35 Euro auf 70, 80 oder 100 Euro schnellen, nicht mehr ausreichen. Das trieb Zehntausende gegen den B?rgermeister und die Regionaladministration auf die Stra?e. M?hsam von einer Polizeikette abgehalten dr?ngten sich die Massen vor dem Verwaltungspalast und skandierten w?tend Parolen gegen die Politiker.
Flei?ig beteiligt am Organisieren und Mobilisieren zu der Demo und dann an vorderster Front dabei war nat?rlich unsere Ortsgruppe. Viel Aufmerksamkeit erregten unser Transpi (?Kapitalismus ist Schei?e?) und unsere Zeitung (?Linke Avantgarde?), die die Leute zu Hunderten kauften.
Es war ein Protest, der landesweites Aufsehen erregte und Folgen nach sich zog. Ein Referendum zur Absetzung des B?rgermeisters ist zwar theoretisch m?glich, aber nicht praktisch. Daf?r kann der Pr?sident B?rgermeister absetzen. Nach der Demo in Woronesch bef?rchtete Moskau anscheinend eine Ausweitung und Radikalisierung der Proteste, und es schien m?glich, dass der B?rgermeister vorsichtshalber abgesetzt wird. Obwohl das bisher nicht geschah, wurde der eilige Mieten-Vorsto? zun?chst zur?ck genommen. Jetzt versuchen es die PolitkerInnen St?ck f?r St?ck.
In Russland werden die Mieten noch verh?ltnism??ig hoch vom Staat subventioniert. So gelten u.a. auch noch soziale Kriterien wie Kinderzahl und Alter. Eines der letzten ?berbleibsel planwirtschaftlicher Errungenschaften. Nach 1991 wurden n?mlich zun?chst Industriezweige privatisiert, die schnell viel Profit versprachen. Zunehmend kommen aber auch die letzten Sozialreservate unter den Hammer. Und so will der Staat seine Mietzusch?sse am liebsten sofort loswerden.
F?r die MieterInnen, die sich das nicht leisten k?nnen, werden z.B. am Rande von Moskau bereits billigste Ghetto-Wohnbl?cke gebaut. Binnen sechs Monaten k?nnen die Leute k?nftig aus ihrer Wohnung gezerrt und dorthin verfrachtet werden.
In den Tagen, in denen ich in Woronesch war, fand am 10. Oktober ein erster landesweiter Protesttag gegen die Miet-Pl?ne statt, initiiert vor allem von der Kommunistischen Partei (KPRF). Zusammen mit mehreren Genossen nahm ich an einem B?ndnistreffen zur Vorbereitung der Demo teil. Anwesend waren KP-Funktion?re, ein KP-Abgeordneter, Betriebsr?te, einige Jugendliche und wir. Der Durchschnitt war deutlich ?lter als 50 und m?nnlich.
Angesprochen wurden auch andere soziale Probleme, z.B. die kommunalen Sozialk?rzungen und dass die Stadtwerke die Heizungen erst am 15.10. anschalten wollten, obwohl es bereits bitter kalt war. Die Demo sollte sich au?erdem gegen eine Gesetzes?nderung zu Referenden wenden. Bisher war die H?rde f?r die Durchf?hrung von Referenden bereits hoch, weil viele Unterschriften gesammelt werden m?ssen. Nun will Pr?sident Putin durchsetzen, dass in den Jahren, in denen Pr?sidentschafts- oder Parlamentswahlen stattfinden, keine Referenden sein d?rfen.
Die Forderungen, die von der KPRF f?r die Demo vorgebracht wurden, waren teilweise sinnvoll (wie die Begrenzung der Mieten auf maximal 10% des Lohns), oder auch nicht (Freiheit f?r Milosevic). Unser Genosse Alexej stellte ein Flugblatt vor, mit dem auf einer Demo von Studierenden f?r die Demo gegen die Miet-?Reform? mobilisiert werden sollte. Die Administration hatte in Verhandlungen mit der opportunistischen und korrupten Studierendengewerkschaft erreicht, dass die Studis ihren Protest gegen eine Ausweitung von Studiengeb?hren vier Stunden eher auf die Stra?e tragen, um eine Verbindung der beiden Demos zu verhindern. Deshalb machte das Flugi den Studis klar, dass die sozialen Probleme gerade auch sie etwas angehen; falls noch nicht jetzt, dann aber sehr bald. Deshalb sollten sie am Widerstand gegen die Miet-?Reform? mitmachen.
Die Studierendengewerkschaft erwies sich leider als verr?terischer als bef?rchtet und sagte die Demo (nach einem Gespr?ch mit dem B?rgermeister am Morgen vor der Demo) ganz ab! Mit einer Genossin und einem ATTAC-Aktivisten aus Nishnij Nowgorod, der in Woronesch zu Besuch war, verteilte ich vor allen Uni-Geb?uden in der Stadt die Flugis, um doch noch ein paar Studis zu mobilisieren.
Sp?ter war dann die Kundgebung. Wir versammelten uns im B?ro unserer Ortsgruppe und zogen mit Transpis, Trommeln und Zeitungen los. Etwas abseits sammelten wir uns und entrollten unser gro?es Transpi ?Globaler Widerstand gegen das globale Kapital?. Im Trommelrhythmus marschierten wir martialisch zur Kundgebung. Dort postierten wir uns mit allen Transpis unter der Lenin-Statue: ?Boykottiert die Miet-Erh?hungen!? ?Kapitalismus ist Schei?e!?, Che-Fahne. Die TeilnehmerInnen (insgesamt mehrere Tausend) waren vor allem ?ltere KP-Anh?ngerInnen. Deshalb orientierten sich die Jugendlichen, die auf die Kundgebung gekommen waren, gr??tenteils an uns, wenn sie nicht bereits in stalinistischen Jugendgruppen organisiert waren.
Ich habe noch sie so gut Zeitungen verkauft wie in Woronesch. Um den Hals hatten wir uns ein Schild geh?ngt: ?Helfen sie den Kapitalismus zu begraben ? kaufen sie unsere Zeitungen?. Damit gingen wir durch die Kundgebung und verkauften f?r drei Rubel (10 Cent), was gerade f?r RentnerInnen schon eine Menge Geld ist. Aber es gibt au?er KP-Zeitungen in Russland nicht viele linke Zeitungen. Viele sind neugierig oder kennen unsere Zeitung bereits. Zu dritt verkauften wir 100 Zeitungen! Manchmal bildete sich um mich herum eine Traube von Leuten, die sich das Titelbild anschauten und fragten, was das denn f?r eine Zeitung sei. Aufsehen erregte auch, dass ich als Deutscher diese Zeitung verkaufe. (?Entschuldigen Sie, ist das eine internationale Organisation??) Ein Lokalreporter fragte mich gleich nach unserer Organisation, international und in Deutschland.
Die Reden kamen vor allem von KPlern, was sich meistens in Phrasen ersch?pfte. Die Mutter einer Genossin, die zusammen mit einer Delgation aus ihrer Fabrik teilnahm, sagte uns sp?ter, dass sie sich im Betrieb einig waren: unser Genosse Alexej hat es von allen Rednern am klarsten auf den Punkt gebracht. Zun?chst hatte er erkl?rt, warum keine Studi-Kundgebung stattgefunden hatte. Von der Kritik an der Studi-Gewerkschaft kam er zur Kritik an den Entwicklungen im Bildungswesen (h?here Geb?hren, Privatisierung von Bildung). Dann forderte er die Leute auf, die Miet-Erh?hungen zu boykottieren. Der Satz ?Zahlt nicht!? bekam den gr??ten Applaus der ganzen Kundgebung. Der B?rgermeister m?sse als Verantwortlicher abgesetzt werden. Au?erdem rief Alexej zum Boykott der Volksz?hlung auf. Der Staat tue nichts f?r die Menschen, verlangt aber von ihnen, Infos ?ber sich rauszur?cken. Au?erdem w?rden die Daten nur dazu benutzt, die Menschen noch weiter auszupressen. (Im ganzen Land gab es eine Verweigerungs-Bewegung. In Moskau verweigerten 10% die Z?hlung, in manchen Gegenden aber ?ber 50%.) Letztlich rief Alexej alle dazu auf, in der n?chsten Woche, am 17. Oktober, wieder auf die Stra?e zu gehen. Dann fand n?mlich der landesweite Aktionstag der Gewerkschaften gegen die Miet-?Reform? statt. Das ganze Land schaute am 10.10., 17.10. und dann am Jahrestag der Revolution (7.11.) auf Woronesch, die Stadt, in der die Proteste begannen.

Antiglobalisierungsbewegung
Sowohl in Russland als auch in Woronesch hat das CWI den entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer Antiglobalisierungsbewegung gegeben. Nach Genua wurde ATTAC von uns initiiert, aber dann weitergetragen: Heute gibt es in Russland etwa 40 ATTAC-Gruppen. ATTAC-Russland hat in den meisten St?dten einen klar antikapitalistischen Charakter. Weil sich die russischen Attacies weigerten, die internationale ATTAC-Plattform zu unterzeichnen, wurden sie von ATTAC-Frankreich nicht als Teil der ATTAC-Bewegung anerkannt. Auf dem n?chsten Kongress der franz?sischen Attacies (sic!) wird es zur Au?einandersetzung zwischen dem rechten und dem linken Fl?gel kommen, um die Frage, ob die Unterzeichnung der Plattform Voraussetzung daf?r ist, sich ?ATTAC? nennen zu d?rfen.
Die Fragen, die sich in Russland der Bewegung stellen, sind manchmal andere als in Westeuropa, weil Russland nach 1990/91 teilweise wieder den Charakter einer Halbkolonie bekommen hat. So geht es z.B. darum zu verhindern, dass multinationale Konzerne das Land auspl?ndern, dass sie ihre genmanipulierten Lebensmittel auf die RussInnen loslassen, dass Atomm?ll aus dem Westen auf der M?llkippe Russland abgeladen wird usw. Diese Situation erfordert eine klare Formulierung der Forderungen, um sich von NationalistInnen abzugrenzen, denen es darum geht, als herrschende Klasse im internationalen Wettbewerb in die Offensive zu kommen.
In Woronesch gibt es eine Gruppe von jungen AktivistInnen, die mit uns zusammen unter dem ATTAC-Banner aktiv sind. Am 1. Mai bildeten die Attacies einen sehr lebendigen und lauten Block auf der Mai-Demo. Transpis und Schilder: ?Stoppt die WTO!?, ?Nein zu Mc Donaldґs?, ?Kapitalismus ist Schei?e!?.
Das ?Komitee Nein zu Mc Donaldґs? wurde ins Leben gerufen, als der Konzern einen Erholungspark plattmachen wollte, um eine Filiale zu errichten. Entgegen der Stadtverfassung erlaubte der B?rgermeister den Bau. Zusammen mit AnwohnerInnen und AktivistInnen der Antiglobalisierungsbewegung organisierte das CWI Proteste. Auf eine Kundgebung kamen 200 Menschen, was f?r Woronesch sehr gut ist und auch viel Aufmerksamkeit erregte.
Julij, ein Attacie aus Nishnij Nowgorod, war w?hrend meiner Zeit ebenfalls in Woronesch, um Methoden politischer Kampagnenarbeit zu lernen. Er erz?hlte mir, wie sich die Gruppe entwickelt hat: ?Zuerst waren wir einfach eine Jugendgruppe, die Aktionen gegen Umweltverschmutzung gemacht hat, wie zum Beispiel die Wasserverschmutzung in Fl?ssen. Wir wollten dann aber auch die ?konomischen Ursachen bek?mpfen, n?mlich die Macht der transnationalen Konzerne. Wir trafen Alexej aus Woronesch und haben mit ihm diskutiert. Er erz?hlte von ATTAC und was sie mit der ATTAC-Gruppe in Woronesch bereits f?r Aktionen gemacht haben. Wir gr?ndeten also eine ATTTAC-Gruppe. Wir machen jetzt auch Aktionen gegen Mc Donaldґs, gegen genmanipulierte Nahrungsmittel und gegen Atomkonzerne. Wir waren zum Beispiel dabei, als UmweltaktivistInnen aus verschiedenen St?dten auf dem Roten Platz in Moskau zusammen kamen. Dort verkleideten wir uns als Atomm?ll und krochen auf den Kreml zu… Wir wollen auch verst?rkt soziale Themen aufgreifen. Die WTO-Frage h?ngt zum Beispiel eng mit der Miet-Reform zusammen. Die Subventionen f?r Mieten werden nicht mehr erlaubt sein, wenn Russland erst mal den Regeln der WTO unterworfen ist. Dann wollen wir noch Antifa-Arbeit machen. Denn bei uns gibt es viele Probleme mit Faschisten. Die Organisation ?Russische Nationale Einheit? schl?gt h?ufig georgische und armenische Studierende zusammen. Wir machen jede Woche ein ATTAC-Treffen. Der harte Kern sind etwa sieben Leute, zu Aktionen aber mehr. Wir lernen dabei auch h?ufig neue Leute kennen, die mitmachen wollen.?
Am landesweiten Aktionstag beteiligten sich die Attacies aus Nishnij Nowgorod an den Protesten. Auf ihren Plakaten stand ?Stoppt die WTO!? und ?Gegen die Globalisierung des Kapitals!?

Studierende
In Russland k?nnen nur wenige Studierende studieren ohne zu arbeiten. Es gibt extra Abendstudieng?nge, damit Studis tags?ber arbeiten und abends studieren k?nnen. Die Zahl der Studis, die Geb?hren bezahlen m?ssen, ist seit Mitte der 80er Jahre von 10% auf heute 50% gestiegen. Diese Entwicklung soll weiter fortgesetzt werden. Zudem soll der Zugang zu Unis st?rker als bisher von der Leistung abh?ngig werden. Unsere GenossInnen fordern ein generelles Stipendium von 100 US-$ pro Monat f?r alle Studis.
In einer ?ffentlichen Veranstaltung berichtete ich von der Studierendenbewegung in Deutschland und von unserer Einsch?tzung der Tendenz zur Bildungsprivatisierung. Zw?lf Leute, GenossInnen und politisches Umfeld waren anwesend. Wir hatten eine sehr interessante Diskussion, weil die Situation in Russland ist sehr ?hnlich ist. Besonders interessierte die Leute, wie das mit den Privatunis in Deutschland ist, wieviele da bereits studieren, ob Konzerne auch eigene Unis gr?nden etc. Nach meinem Bericht entwickelte sich noch eine hitzige Debatte ?ber die Studierendengewerkschaft in Woronesch. Da sie ?berhaupt nichts f?r Studi-Interessen tut und sich stattdessen an Bestechungsgeldern f?r Wohnheim-Pl?tze bereichert, werden die GenossInnen m?glicherweise zum Austritt aufrufen und eine unabh?ngige Gewerkschaft gr?nden.

Frauen
Die Lage von Frauen in den ehemals stalinistischen Staaten hat sich mit der kapitalistischen Restauration noch mehr verschlimmert als die Lage des m?nnlichen Teils der ArbeiterInnen-klasse. Gerade in der Ortsgruppe in Woronesch wird viel politische Arbeit zur Situation von Frauen gemacht. Die Genossin Anna ist verantwortlich f?r die Publizierung des Frauen-Bulletins ?Nein hei?t Nein!?. Darin werden Themen behandelt wie Geschlechterrollen in der Werbung, Abtreibung, Lohndiskriminierung, sexualisierte Gewalt, Ageismus usw. Mometan arbeitet Anna an einer Reportage ?ber die Lage von Frauen in Woronesch und Umgebung. Dazu arbeitet sie diverse Zeitungen durch und f?hrt Interviews mit ArbeiterInnen und ihren Chefs.

Jaroslawl

ATTAC
Am meisten beeindruckt hat mich in Jaroslawl die Erfolge der Arbeit in ATTAC. Unsere Ortsgruppe hat ATTAC initiiert und es geschafft, eine antikapitalistische Struktur aufzubauen, die sich w?chentlich trifft, aktiv ist und die Linke der Stadt in einer Art Einheitsfront verbindet: CWI, AnarchistInnen, ehemalige linke KPler, linke GewerkschafterInnen, neue AktivistInnen. Auf der Liste stehen 150 Mitglieder, die aber nicht alle aktiv sind. Demn?chst findet zur Vorbereitung des Europ?ischen Sozialforums in Florenz, zu dem unser Genosse Sergej delegiert ist, ein lokales Sozialforum statt, zu dem 200 bis 300 Leute erwartet werden. Die Themen sind unter anderem: Soziale Probleme in Jaroslawl und Umgebung, Probleme der Gewerkschafts-bewegung (hier sollen sowohl offizielle als auch unabh?ngige Gewerkschaften zu Wort kommen!), Jugend und Subkultur.

Anarchismus
In Jaroslawl haben die GenossInnen sehr guten Kontrakt zur anarchistischen Szene (?Anarcho-Kommunistisches Jugendb?ndnis?). In den meisten aktuellen politischen Fragen besteht Einverst?ndnis. Entstanden ist die Anarcho-Bewegung in den 80ern in der Sowjet-union, wo sie auch unter ArbeiterInnen Einfluss hatte. Die Frage war, wie die B?rokratie beseitigt werden kann. Einige AnarchistInnen glaubten sogar, die Einf?hrung von Marktmechanismen sei daf?r der richtige Weg. Nach der kapitalistischen Restauration geriet die Bewegung in eine Krise und hat stark an Bedeutung verloren.
Eine andere Entwicklung nahm die Bewegung in Wei?russland, wo der Pr?sident Lukashenko bis vor kurzem noch am Staatseigentum festhielt. Lange arbeiteten AnarchistInnen und Liberale gemeinsam gegen das autorit?re Regime. Jetzt hat die Privatisierungswelle begonnen, die von den Liberalen nat?rlich bef?rwortet wird. Deshalb gab es Ver?nderungen in der Anarcho-Bewegung. Eine Gruppe steht inzwischen mit dem CWI in Diskussion.

Faschismus
In Jaroslawl ist die Bedrohung durch FaschistInnenen auf der Stra?e zu sp?ren. Als ich mit dem Genossen Sergej unterwegs war, wurden wir von einer Gruppe Nazis angep?belt. Das passiert ihm h?ufiger, weil er seit der ATTAC-Gr?ndung in vielen Zeitungen abgebildet war und stadtweit als linker Aktivist bekannt ist.
Das g?ngige politische Koordinatensystem l?sst sich jedoch nicht einfach anwenden. Denn neben offen faschistischen Kr?ften, die mit ihren Aufklebern penetrant pr?sent sind, hat eine verdeckt faschistische Gruppe namens ?Nationalbolschewistische Partei ? Linke Front? (NBP) einen rasanten Aufstieg geschafft. Wenn an eine Hauswand ?REVOLUTION!? mit Hammer und Sichel gespr?ht wurde, dann war das mit gr??erer Wahrscheinlichkeit die Arbeit von FaschistInnen. Die NBP bem?ht pseudorevolution?re und pseudosoziale Phrasen, ?hnlich wie der Strasser-Fl?gel der NSDAP oder die NPD heute. Die Zeitung, die sie herausgeben und die an vielen Kiosken zu kaufen ist, wird ?Zeitung f?r direkte Aktion? genannt, und die Kopfzeile der ersten Seite wird von einer Handgranate geziehrt! Gewalt, St?rke, Revolution, Aufr?umen, das Junge und Starke, der starke Staat, gegen das Alte und Schwache ? so etwa l?sst sich das NBP-Auftreten skizzieren. Innerhalb eines halben Jahres haben sich 100 begeisterte Jugendliche, die vom Hass auf das Establishment erf?llt sind, allein in Jaroslawl der NBP angeschlossen. In ganz Russland z?hlen sie etwa 5000 Mitglieder.
Diese Formation ist aber widerspr?chlich und instabil. Von Skinhead-Faschos ?rote Schweine? genannt und von den Roten ?Faschisten? stehen sie zwischen den Fronten. In Jaroslawl f?hrt die KPRF gemeinsame Kundgebungen mit der NBP durch. Deshalb organisieren unsere GenossInnen mit den anderen Attacies zusammen dort alternative Kundgebungen. Sehr erfolgreich war das z.B. am 1. Mai, als sich Hunderte unserer Demonstration anschlossen und die CWI-Gruppe sehr gut auftreten konnte. Aber es gibt auch die Notwendigkeit, NBP-Mitl?uferInnen eine wirklich linke und revolution?re Alternative aufzuzeigen, die zwar ?kompliziertere? Antworten gibt, aber daf?r eine ernsthafte Herausforderung f?r das System darstellt.
Der Kurs der NBP hat sich etwas ge?ndert, seit ihr Anf?hrer aus dem Gef?ngnis heraus einen neuen Kurs verordnet hat: mehr gegen den Staat, f?r den tschetschenischen Befreiungskampf etc. Wenn die NBP dauerhaft Erfolg haben will, wird sie weiter nach links gehen, m?glicherweise aber an inneren Widerspr?chen zerbrechen.

Politischer Prozess
Im September 2002 lief eine internationale Solidarit?tskampagne des CWI, die die kleinen Gerichtsb?rokratInnen der russischen Provinz m?chtig beeindruckte. Dass ein Student, dem wegen radikaler Umtriebe Einhalt geboten werden sollte, internationale Unterst?tzung mobilisieren konnte, kam ihnen doch mulmig vor.
Sergej ist den Herrschenden ein Dorn im Auge. Als CWI-Mitglied, ATTAC-Koordinator und Schwulenaktivist musste er eingesch?chtert werden. Sergej hatte der Presse ein Interview gegeben, in dem er berichtete, dass er von einer reaktion?ren Publizistin angegriffen worden sei. Diese brachte ihn und die Zeitung daraufhin vor Gericht, das sich als klar politisch herausstellte. Der Prozess wurde benutzt, um Linke zu diskreditieren und einzusch?chtern. Ein Bericht dazu findet sich auch auf unserer Homepage.
Es besteht die Gefahr, dass sich die Presse nicht mehr traut, ?ber ATTAC zu berichten, weil die Gefahr von gerichtlichen Konsequenzen besteht. Nach einer Verurteilung zu einer geringen Geldstrafe l?uft das Berufungsverfahren. Es kamen bereits weitere Vorw?rfe auf: Wegen Sergejs Kontakten zu ATTAC und zum CWI wird ihm Spionage f?r die Schweiz vorgeworfen. Seine Kontakte zu Betriebsr?tInnen machen ihn der Industriespionage verd?chtig.
Unsere neue Ortsgruppe darf und wird durch solche Tricks der Herrschenden nicht gebrochen werden. Sie gehen gut damit um, organisieren Pressekonferenzen, Solidarit?t und Proteste. Es ist wichtig, dass Sergej auch weiterhin die Unterst?tzung der Internationale bekommt.

Moskau

Protest gegen EU-Gipfel
Im Mai 2002 fand in Russland der erste wirkliche Protest gegen ein Gipfeltreffen statt. Die Mobilisierungs-Aufkleber hatten den Schriftzug ?Antiglobalisierungs-Aktion: Kundgebung und street-party gegen das Treffen Russlands und der Europ?ischen Union? Danach folgte einer der folgenden Slogans:
Globaler Marsch gegen die Macht des Kapitals
Kein Mensch ist illegal! Weg mit den Grenzen!
NEIN zur Miet-Reform!
Leben ? das ist unsere Politik! Keine Einfuhr von Atomm?ll!
Privatisierung JETZT einstellen! Die Welt ist keine Ware!
Die Generale ? in die Schlacht, die Soldaten ? nach Hause!
Her mit dem Lohn, weg mit dem neuen Arbeitsgesetz! Kein Eintritt in die WTO!
Prag, Genua, Moskau ? weiter gehtґs!
Der Hintergrund war, dass Russland und die EU Gespr?che aufgenommen hatten, in denen es z.B. Atomm?ll-Verschiebungen ging. Das CWI hatte zusammen mit ATTAC und radikalen Umweltsch?tzerInnen die Kundgebung organisiert. Sie wurde dann in letzter Minute verboten. Daraufhin organisierte der linke Abgeordnete Oleg Shejn eine legale Spontan-Kundgebung. Als einige der etwa 150 AktivistInnen aber Fahnen und Transpis auspackten, gingen Spezialkr?fte der Polizei mit gnadenloser Gewalt auf sie los, verhafteten 19 und verpr?gelten diverse AktivistInnen im Gef?ngnis so lange, bis die internationale Soli-Kampagne des CWI sie zur Freilassung zwang. Die Regierung hat anscheinend Angst vor einem Ausgreifen der Bewegung nach Russland. Der Protest erregte sehr gro?es Aufsehen. Alle russischen Zeitungen und Fernsehkan?le berichteten dar?ber. ?Antiglobalismus? ist jetzt vielen Menschen ein Begriff.

?Sicherheit?
Auff?llig im Moskauer Stadtbild ist das Bed?rfnis der Herrschenden nach ?Sicherheit?. Die verarmten Massen sollen niedergehalten, die Schere zwischen Arm und Reich notfalls gewaltsam offen gehalten werden. ?berall laufen einem Securities ?ber den Weg, in der Metro, in Gesch?ften, auf der Stra?e. Die Metro ist zudem so gestaltet, dass Schwarzfahren technisch unm?glich ist. W?re es doch ein zu gro?er Anreiz bei saftig gestiegenen Fahrpreisen. (In Woronesch bezahlt man im Bus noch 10 Cent, in Moskau bereits ?ber 30, Tendenz steigend.) In Gesch?ften muss man h?ufig erst an der Kasse bezahlen, und dann den Bon an einer Theke abgeben, um Waren zu erhalten. In Banken, Post?mtern, Wechselstuben ? ?berall verschanzt man sich hinter Panzerglas.
Ich war zusammen mit dem Genossen Rob an der Elite-Uni MGU, um dort Plakate anzuh?ngen f?r eine Veranstaltung. Wir kamen nicht in allen Geb?uden an den Securities am Eingang vorbei! Rob erz?hlte, dass, als er Ende der 80er nach Russland kam, er problemlos an den Unis rein und raus spazieren und mit allen Leuten reden konnte. Heute ist das unm?glich, die Elite braucht ?Sicherheit?! Diese Securities erzeugen eine mulmige Stimmung. Wie soll dort ein Uni-Streik oder eine Besetzung organisiert werden! Und es gibt auch nirgendwo legale M?glichkeiten zum Aufh?ngen von Plakaten. Ich stelle mir politische Arbeit an einer solchen Uni so vor wie in Russland unter dem Zarismus. Nat?rlich gibt es dort auch nur politische Gruppen von den etablierten b?rgerlichen Parteien, die dann noch nicht mal Politik machen (was mich wiederum an Deutschland erinnerte ;-).

Russland, Deutschland, Brittanien, Zentralasien: weltweit f?r Sozialismus!
Zur ?ffentlichen Veranstaltung (?ArbeiterInnen-Europa ? Gegen Kapitalismus und Krieg?) kamen etwa 20 Leute, davon sehr viele G?ste. Einige von denen, z.B. drei Studis aus einer atheistischen Gruppe, wollen weiterhin mit uns zusammen arbeiten, m?glicherweise in ATTAC.
Als erster Redner berichtete ich von der Situation in Deutschland nach vier Jahren Rot-Gr?n und nach der Bundestagswahl. Diskussionen gab es danach zur Frage, ob die deutsche und die russische ArbeiterInnenklasse ?berhaupt ein gemeinsames Interesse haben, schlie?lich sind die Lebensbedingungen extrem unterschiedlich. Ich meinte dazu, dass die Tendenzen in Deutschland gerade in der kapitalistischen Krise die gleichen sind wie in Russland, und dass nur in einem solidarischen internationalen Kanpf verhindert werden kann, dass die KapitalistInnen uns spalten. Des weiteren wurde nach unserer Wahl-Strategie gefragt: W?re es nicht besser gewesen, Stoiber zu unterst?tzen, um die Arbeiterklasse zum Kampf zu zwingen? Ich erkl?rte, dass es nicht unsere Aufgabe sei, ArbeiterInnen zu verwirren, sondern ihr Klassenbewusstsein zu heben, indem wir auf die Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenpartei hinweisen.
Das Referat zur Antiglobalisierungsbewegung in Russland musste leider ausfallen. Rob berichtete dann von der gr??ten Antikriegs-Demo, die jemals in Brittanien stattgefunden hat. Au?erdem erkl?rte er unsere Haltung zum Irak-Krieg und argumentierte f?r eine sozialistische F?deration im Nahen Osten. Als letzter Redner sprach Mark, der im Auftrag des CWI Zentralasien besucht hatte. Ich kann allen nur w?rmstens seinen ausf?hrlichen Bericht empfehlen, der auf unserer Homepage zu finden ist.
Diskussionen gab es noch ?ber die Frage des Islam. Ein Teilnehmer fragte, ob der Islam nicht ein B?ndnispartner im Kampf gegen kapitalistische Globalisierung sein k?nne. Vor solchen Fragen standen die Moskauer GenossInnen schon mal, als sie Proteste gegen den Tschetschenien-Krieg zusammen mit der tschetschenischen Gemeinde durchf?hrten. Gerade in Moskau leben viele tschetschenische Fl?chtlinge, die jetzt einem hohen Grad an Rassismus ausgesetzt sind. H?ufig werden sie als TerroristInnen denunziert. Der Staat geht auch gegen tschetschenische Organisationen vor. Ein Genosse wurde verhaftet, als er an einer Konferenz tschetschenischer Fl?chtlinge teilnehmen wollte.

Betriebe und Gewerkschaften
Die ArbeiterInnenbewegung steht in den L?ndern der Ex-Sowjetunion vor ganz anderen Aufgaben als in Deutschland. Denn h?ufig gibt es nicht mal mehr funktionierende Gewerkschaftsstrukturen. Die offiziellen Gewerkschaften bestehen zwar, werden aber meistens nicht als Interessenvertretung anerkannt. ArbeiterInnen, die sich organisieren wollen, gr?nden ihre eigene unabh?ngige Gewerkschaft.
Dort, wo unsere arbeitenden GenossInnen die Gewerkschaften aufbauen, haben sie gro?e Erfolge erzielen k?nnen, z.B. beim Aufbau und der Verankerung in der recht gro?en unabh?ngigen Gewerkschaft ?Verteidigung?. In Kiew begann unsere Ortsgruppe vor einiger Zeit, eine unabh?ngige BusfahrerInnen-Gewerkschaft aufzubauen. In drei von vier Basen der st?dtischen Busgewerkschaft gibt es bereits Gruppen der Gewerkschaft. Die CWI-Mitglieder haben sich viel Ansehen erworben, zum Teil durch die Arbeit der Busfahrer-Genossen, zum Teil bei juristischer Sch?tzhilfe und zum Teil durch das Engagement nicht arbeitender GenossInnen, die beim Aufbau der Gewerkschaft mithelfen. Mittelfristig soll die Gewerkschaft jedoch von den KollegInnen selber getragen werden. Der Vorteil beim v?lligen Neuaufbau gewerkschaftlicher Strukturen ist nat?rlich, dass sofort k?mpferische Traditionen und demokratische Strukturen geschaffen werden k?nnen.
In Moskau verkaufen unsere GenossInnen die Zeitung ?Linke Avantgarde? regelm??ig vor Betrieben.

Neue ArbeiterInnenpartei?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging die KPRF, die ja auch ein Motor der kapitalistischen Restauration war, noch weiter nach rechts. Als Vertretung der ArbeiterInnen wird sie von diesen, sowohl wegen ihrer Geschichte als auch wegen ihrer heutigen Politik h?ufig nicht angesehen.
Bei den letzten Wahlen erhielt Oleg Shejn, ein linker unabh?ngiger Kandidat, ein Direktmandat. Er ist auch au?erparlamentarisch aktiv (siehe ?Protest gegen EU-Gipfel?). Zusammen mit Funktion?rInnen unabh?ngiger Gewerkschaften rief er zur Gr?ndung einer neuen ArbeiterInnenpartei auf. Es wurde die ?Partei der Arbeit? (RPT) aus der Taufe gehoben. Der Aufbau dieser neuen Formation wurde auch vom CWI unterst?tzt. Die Erfahrungen sind inzwischen jedoch eher ern?chternd. Es gibt in Moskau Hunderte von Mitgliedern, aber es gab noch kein einziges Treffen. Selbst F?hrungsstrukturen bestehen zwar, treffen sich aber nicht. Zumindest in Moskau ist die RPT eine b?rokratische Totgeburt. In manchen St?dten gibt es auch aktive Gruppen. Teilweise hat die Initiative ein Vakuum ausgef?llt und wird als Vernetzung im Kampf gegen die Miet-?Reform? genutzt. Die Lehren sind bisher zumindest klar: Eine neue ArbeiterInnenpartei muss entscheidend von unten mitgetragen werden.

ATTAC
Die Entwicklung der ATTAC-Gruppe verlief in Moskau anders als in anderen St?dten. Mit der radikal?kologischen Gruppe ?BewahrerInnen des Regenbogens? konnte eine gute Zusam-menarbeit mit diesem Spektrum aufgebaut werden. Auch der Zugang zu neuen AktivistInnen verlief in den letzten Monaten haupts?chlich ?ber die ATTAC-Gruppe. Moskau ist jedoch von unseren Ortsgruppen die einzige, die sich in ATTAC mit offen reformistischen Positionen auseinander setzen muss, da eine akademische Gruppe mit solchen Positionen mitarbeitet. Unsere GenossInnen wollen bei der baldigen Neukonstituierung der ATTAC-Gruppe die Plattform der Gr?ndungskonferenz von ISR einbringen. Wegen anarchistischer und reformistischer Positionen wird diese Plattform wahrscheinlich nicht mehrheitlich ?bernommen werden, aber die Diskussionen um eine konsequent antikapitalistische Ausrichtung der Gruppe sind enorm wichtig, auch f?r die Diskussionen mit unserem Umfeld. Es gibt in Moskau viele am CWI interessierte Jugendliche. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit diesem Umfeld soll ?ber ATTAC erm?glicht werden.

Linke Kunst
In Moskau haben unsere GenossInnen intensiven Kontakt zu einer Reihe linker K?nstlerInnen. Es wurden bereits mehrere Veranstaltungen mit ihnen zusammen durchgef?hrt, auf denen es sowohl um Fragen der gesellschaftlichen Bedeutung radikaler Kunst ging, als auch allgemein um die Aufgaben der Linken. Das CWI konnte sich hier viel Anerkennung erarbeiten.

Hans Tunger, Trier, November 2002