Eine Nachbetrachtung
von Beate Jenkner, München
Gustl Mollath hatte Glück. Er hatte Freunde und Anwälte, die um sein Recht gekämpft haben. Und zuletzt eine breite Öffentlichkeit, die auf sein Schicksal aufmerksam wurde. Erstmals wurde vielen Menschen deutlich, wie leicht man in die Psychiatrie eingewiesen werden kann und wie schwer es ist, dort wieder heraus zu kommen.
Auch für Gustl Mollath war der Weg bis zu seiner Freilassung ausgesprochen schwierig. Trotz der breiten Unterstützung. Ohne die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens hätte er auch noch weitere Jahre dort verbracht. Wie viele, weiss niemand. Und genau das ist das Problem und zeigt die Absurdität dieses Systems.
Häftlinge im Maßregelvollzug und der forensischen Psychiatrie gelten als Patienten. Damit gibt es im Gegensatz zu den Justizvollzugsanstalten keine Beiräte oder Justizvollzugsbeauftragte, die als Ansprechpartner für Häftlinge zur Verfügung stehen. Es gibt keine vergleichbaren Beratungen oder öffentliche Kontrollen dieser Einrichtungen. Keine unabhängige Beschwerdestelle. Die Rechte, die ein Häftling hat und zur Not auch einklagen kann, gelten hier nicht.
Es gibt keine Höchstgrenze, kein festgelegtes Strafmaß. Wie lange ein Patient in der Forensik bleibt, entscheiden die Klinikärzte und Gutachter. Es ist keine Seltenheit, dass die geschlossene Unterbringung bei relativ geringen Anlasstaten 8, 10 oder mehr Jahre dauern kann. Wäre Mollath im Knast gelandet, wäre er spätestens nach 1 Jahr entlassen worden. Er kam aber in die Psychiatrie. Pech für ihn. Wie für unzählige PatientInnen auch.
Mollath sagt, die Psychiatrie sei ein rechtsfreier Raum, die Menschen seien Ärzten und Personal ausgeliefert. Der frühere Leiter der Psychiatrie Kaufbeuren, Dr. von Cranach, ist der selben Meinung. Justizministerin Frau Merk weist dies weit von sich. Offensichtlich weiss sie nicht, was im Maßregelvollzug abläuft. Es scheint sie auch nicht zu interessieren. Wegsperren und vergessen, scheint die Devise. Kein Gericht fühlt sich für Beschwerden oder Klagen zuständig. Die meisten Klagen werden mit dem lapidaren Vermerk abgewiesen, dass der Maßregelvollzugsleiter, also die Klinikleitung, selbst entscheiden kann. Im Klartext: Die Einhaltung von Gesetzen oder die Entscheidung über Isolation, Fixierungen oder Zwangsmedikation obliegt dem Gutdünken der Klinik, Recht und Gesetz wird zur Auslegungssache der Ärzte.
Die Situation der PatientInnen ist trostlos. Sie sind in Zwei-Bett-Zimmern untergebracht, auf 15 qm. Bei Überbelegung teilen sich drei PatientInnen ein Zimmer. Privatsphäre gibt es nicht. Der Aufenthaltsraum ist oft auch Fernsehraum, das Programm bestimmt das Personal. Auch die Fernsehzeiten. Zeitungen kann man sich schicken lassen, aber sie kommen nicht immer an. Oder mit fehlenden Artikeln, weil die vom Personal rausgeschnitten werden können. Schließlich könnten bestimmte Informationen für den Patienten schädlich sein. Telefonzeiten sind reguliert. Manchmal nur 15 Minuten am Tag. Telefonate können abgehört werden. Wann und bei wem, wird nicht bekannt gegeben, obwohl dies gesetzlich vorgeschrieben ist. In der Frauenforensik in Taufkirchen müssen alle Patientinnen ihre Briefe offen abgeben. Verschlossene Briefe werden nicht weitergeleitet. Das Postgeheimnis darf nur bei dringend begründetem Verdacht eingeschränkt werden, nicht pauschal. Interessiert aber niemand. Soziale Kontakte nach außen sind zu fördern, so steht es zumindest im Gesetz. Aber Papier ist bekanntlich geduldig.
PatientInnen dürfen für ihr Verhalten nicht sanktioniert werden. Die UN-Behindertenkonvention spricht von einem Recht auf Krankheit. Geht man also davon aus, dass man es mit einem psychisch kranken Menschen zu tun hat, ist Sanktionierung im Sinne von Bestrafung bei Nichtfunktionieren des Patienten absurd. Gesetzlich auch nicht zulässig. Soweit die Theorie. Praktisch stehen PatientInnen vor folgendem Problem: Sind sie aufgrund ihrer Medikation zu müde, um an einer Therapie teilzunehmen, bekommen sie Zimmerauszeit (Zimmerarrest wäre treffender), oder Ausgangssperre. Regen sie sich über etwas auf und werden laut, laufen sie Gefahr, ins Iso-Zimmer zu kommen. Das bedeutet, kein Kontakt zu Mitpatienten oder sonst wem, Telefonsperre, Besuchsverbot, Tabakentzug und ähnliches. Wehren sie sich gegen diese Maßnahmen, laufen sie Gefahr, fixiert zu werden. Wie lange, wissen sie nicht. Fixierung bedeutet, allein festgezurrt dazuliegen, keiner kommt, wenn sie rufen, sie wissen nicht, wie lange sie fixiert bleiben. Völlig isoliert, bewegungsunfähig. Bekommen sie Panik, werden ihnen Medikamente gespritzt. Gegen ihren Willen. Oftmals Haldol, was Atemnot und weitere Panikattacken nach sich zieht. Alle PatientInnen, die fixiert waren, sind davon traumatisiert. Dies kann man in allen Gesprächen feststellen. Wann und aus welchem Anlass man welche Sanktionen bekommt, ist unklar. Jeden Tag leben die PatientInnen in dem Bewusstsein, dass sie mit Sanktionen überzogen werden können, ohne zu wissen, warum. Therapie heisst in dem meisten Fällen Medikation. Die Aufklärung über Wirkung und Nebenwirkung ist oft mangelhaft. Verlangt der Patient Aufklärung, gilt er als nicht krankheitseinsichtig. Will er sie nicht nehmen, ebenso. Mitsprache hat er sowieso keine. Klagt er über Nebenwirkungen, bildet er sich die ein. Schließlich ist er krank.
Um Ausgang zu bekommen, brauchen die PatientInnen Stufungen. Dies ist das stärkste Mittel der Unterdrückung, dass man den Kliniken an die Hand gegeben hat. Über Stufungen entscheiden allein die Ärzte. Ohne unabhängige Kontrolle. Das funktioniert dann so: Weigert sich der Patient, Medikamente zu nehmen, ist er nicht krankheitseinsichtig. Beschwert er sich über die Art, wie er behandelt wird, sieht er alles wahnhaft gegen sich gerichtet. Versäumt er seine Therapien, ist das fehlende Complience. Hält er sich nicht genau an die – manchmal täglich geänderten- Stationsregeln, ist er nicht absprachefähig. Die Liste kann man endlos fortsetzen. Alles, was der Patient tut, kann gegen ihn verwendet werden. Heisst Rückstufung, kein Ausgang, sonstige Sanktionen. Deswegen hat Mollath auch 7 Jahre lang keinen Ausgang erhalten. Er hatte keine Stufung. Und selbst wenn ein Patient bereits Stufungen hat, z.B. Ausgang alleine oder bereits auf der offenen Station ist, reicht oft eine Kleinigkeit, und er kann alle Stufungen weggenommen kriegen. Nicht eins zurück, sondern auf Anfang. Rausgekegelt wie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht, kurz vorm Ziel. Etliche PatientInnen haben so mehrfach ihre Entlassung nach vielen Jahren schon vor Augen gehabt und waren dann wieder bei Null. Wenn ein Patient das einige Male erlebt, glaubt er an nichts mehr. Viele sagen, sie werden die Psychiatrie nur mit den Füßen voran wieder verlassen. Sie haben jeden Lebensmut verloren. Einige versuchen, sich umzubringen, um dem Irrsinn zu entkommen.
Was ich hier schildere, ist nur ein kurzer Ausschnitt. Der Patient wird nicht therapiert, er wird verwahrt, nicht selten körperlich durch die jahrelange Medikation zugrunde gerichtet, rechtlos und wehrlos allem ausgeliefert. Ohne Hoffnung auf ein Ende. Das ist die Realität. Und sie ist zutiefst zynisch und unmenschlich. Wenn also unsere Justizministerin sagt, sie könne hier nichts tun, ist dies die Bankrotterklärung des Rechtssystems vor der Psychiatrie.