Empire oder Imperialismus? (2. Teil)

Zweiter Teil der Buchbesprechung. Zurück zum 1. Teil

Wie kam es zur Globalisierung?

Der grundlegende Globalisierungsprozess ist die Ausdehnung des Welthandels (der grenzüberschreitende Handel ist nach Angaben der WTO von 1950 bis Mitte der 90er Jahre von sieben auf 23 Prozent des Weltbruttosozialprodukts gestiegen), die Aufblähung und Internationalisierung der Finanzmärkte und der auslän­dischen Direktinvestitionen (durch den Aufkauf von Firmen und den Aufbau neuer Fabriken). Dies hat seit Beginn der 80er Jahre massiv zugenommen (in den 80er Jahren haben sich ausländische Direktinvestitionen vervierfacht und in den 90ern zwei Billionen US-Dollar erreicht; sie überschreiten heute die weltweiten Exporte und sogar das weltweite Bruttoinlandsprodukt). Die internationale Arbeitsteilung und die Anzahl international operierender Konzerne hat enorm zugenommen. Die verschiedenen Einzelteile für ein Auto werden heute vielfach in verschie­denen Ländern produziert und dann zur Endmontage quer über die Erde transportiert. Ein entscheidender Prozess war das Niederreißen von Zollschranken und anderen Kapitalverkehrskontrollen. Diese wurden schon im langen Aufschwung der Nachkriegsperiode von 1950-1975 gesenkt, aber in der Zeit seitdem drastisch reduziert. Dieser Prozess führte zu einer enormen Dominanz des Weltmarkts und wachsender Exportabhängigkeit vieler Konzerne und Volkswirtschaften. Ökonomische Prozesse sind enger miteinander verflochten, was auch bedeutet, dass sich zum Beispiel wirtschaftliche Krisen in einem Teil der Welt rasant in anderen Teilen auswirken können. Wir werden noch zeigen, dass es sich hierbei allerdings eher um einen Prozess der Regionalisierung und Blockbildung handelt und die neokolonialen und ein Großteil der ex-stalinistischen Länder weitgehend von diesem Prozess aus­geschlossen sind.

Der Prozess der Globalisierung wurde durch die Aufblähung und Internationalisierung der Finanzmärkte angetrieben. In diesem Bereich hat auch am ehesten eine wirkliche Globalisierung stattgefunden. Finanzspekulationen haben die Produktion von neuen Waren als profitabelsten Bereich von Wirtschaftstätigkeit für Kapitalisten abgelöst. Schon in den 80er Jahren bestanden achtzig Prozent der ausländischen Direktinvestitionen nicht aus produktiven Investitionen. Das Volumen der Weltfinanzmärkte ist zwischen 1972 und 1995 von ca. 20 Milliarden US-Dollar auf 832 Milliarden US-Dollar angewachsen. Das entspricht einer 42-fa­chen Zunahme, während der Welthandel nur um den Faktor 12 gewachsen ist.  Die Umsätze im Devisen- und in­ternationalen Wertpapierhandel haben sich alleine seit 1985 mehr als verzehnfacht.

Globalisierung war keine bewusste oder geplante Politik der Kapitalisten und ihrer Regierungen. Globalisierung und Neoliberalismus (beides ist nicht zu trennen, denn letzterer ist die Politik und Ideologie, worin sich die Globalisierung ausdrückt) haben ihre Ursache in der krisenhaften Periode, in der sich der Kapitalismus seit der ersten Weltwirtschaftsrezession nach dem Zweiten Weltkrieg 1973-75 befindet – einer langanhaltenden Niedergangsphase, die geprägt ist von schwachen Konjunkturaufschwungphasen und tieferen Krisen. Ursache der Rezession waren eine strukturelle Überakkumulation von Kapital aus dem Nachkriegsaufschwung und fallende Profitraten. Damit setzte der Prozess der Aufblähung der Finanzmärkte ein. Mit Kapital wurde verstärkt an den Finanzmärkten spekuliert, weil hier höhere Gewinne zu erwarten waren. Investitionen in die reale Produktion rech­neten sich immer weniger. Wenn in die Produktion investiert wurde, dann vor allem in Rationalisierung statt in Erweiterung. Die Finanzmärkte hoben von der realen Ökonomie ab, entwickelten eine Eigendynamik und wurden zu einem besonderen Krisenfaktor für die kapitalistische Weltwirtschaft.
Durch die Globalisierung ist das Kapital weltweit auf die Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten gegangen. Dies ging einher mit einer Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Verlagerung der Produktion be­stimmter Bereiche in Niedriglohngebiete, durch Versuche die Arbeitszeit zu verlängern und Löhne zu drücken, durch die Ausweitung von Billigjobs und Leiharbeit, durch den Abbau von Sozialleistungen etc. Ein weiteres Phänomen dieser Zeit ist die Privatisierungswelle, die weltweit stattgefunden hat und immer noch stattfindet. Privatisierung ist Diebstahl an öffentlichem Eigentum. Mit öffentlichen Investitionen aufgebaute Unternehmen und Infrastrukturen werden zur privaten Profitmaximierung freigegeben. Auch hier gilt: es ist profitabler in schon be­stehende öffentliche Unternehmen zu investieren (sie – in der Regel zu Spottpreisen – aufzukaufen), als die Produktion auszuweiten und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Privatisierungen sind Geschenke von kapitalistischen PolitikerInnen an ihre Herren. Kein Wunder, dass nur gewinnträchtige Bereiche privatisiert werden und verlust­bringende in öffentlicher Hand bleiben.

Kapitalistischer Boom durch neue Technologien?

Die Propagandisten der Globalisierung haben in den 90er Jahren die These vertreten, dass Globalisierung und die Anwendung neuer Technologien eine neue Epoche kapitalistischen Aufschwungs einleiten würden.
Hardt und Negri bezeichnen das Empire als einen historischen Fortschritt. Der Schritt vom Imperialismus zum Empire ist für sie vergleichbar mit dem Schritt vom Feudalismus zum Kapitalismus. Sie schreiben: “Das Empire ist in dem Sinn besser, in dem Marx darauf bestand, dass der Kapitalismus besser sei als die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen, die ihm voraus gingen.” Für Marx war das entscheidende Kriterium für die historisch fort­schrittliche Rolle des Kapitalismus im Vergleich zum Feudalismus die Tatsache, dass der Kapitalismus in seiner Blütezeit die Produktivkräfte und damit die gesamte menschliche Gesellschaft, Zivilisation, Kultur weiterentwi­ckeln konnte, während diese in der Feudalgesellschaft stagnierten.
Dementsprechend ist es kein Zufall, dass Hardt und Negri keine ökonomischen Krisenprozesse im heutigen Kapitalismus (ihrem Empire) erkennen, sondern schreiben: ” Nun, während wir dieses Buch schreiben und sich das 20. Jahrhundert dem Ende zuneigt, ist der Kapitalismus auf wundersame Weise gesund und die Akkumulation kräftig wie nie.”
Wie so oft wird auch diese These nicht mit Fakten gestützt. Die Fakten sprechen auch gegen diese Einschätzung eines gesunden und boomenden Kapitalismus. Das Gegenteil ist der Fall: der Kapitalismus ist ein kranker Mann, dessen Krankheit sich tendenziell verschlimmert, die aber in Schüben kommt. Nach jedem Krankheitsschub gibt es eine Phase der Erholung, aber es geht dem Patienten niemals besser als vor dem letzten Schub.

Die Entwicklung neuer Technologien ist bedeutend und sie hat unser Leben verändert. Die Welt ist in vielerlei Hinsicht durch die Anwendung von Telefonen, Satelliten, Internet globalisiert. Aber es darf nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Menschen noch niemals ein Telefon benutzt, geschweige denn einen Computer gesehen haben. Auch in dieser Frage entpuppt sich die Globalisierung als eine Regionalisierung, die in den entwi­ckelten kapitalistischen Staaten und für eine kleine Elite in der neokolonialen Welt eine Wirkung hat, aber nicht für die Massen der armen Länder.
Außerdem müssen diese technologischen Veränderungen historisch eingeordnet werden und ihre Anwendung in der Ökonomie betrachtet werden. Die Anwendung technologischer Erneuerungen ist abhängig von der Phase, die die kapitalistische Wirtschaft durchläuft. So waren Erfindungen wie Gummi oder Plastik, die erst im Nachkriegsboom breite Anwendung fanden, schon in den 30er Jahren gemacht worden. Sie konnten aber wegen der Stagnationsphase des Kapitalismus noch keine Anwendung finden.

Die technologischen Erneuerungen der letzten zwei Jahrzehnte sind nicht vergleichbar mit der technologischen Revolution zu anderen Zeiten, zum Beispiel der Erfindung des Benzinmotors und von Kraftfahrzeugen, des Flugzeugs, des Telefons, des Radios, der Filmtechnik und anderer Erneuerungen um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts herum.
Charles Jonscher beschreibt in seinem Buch “Wired Life: Who we are in the Digital Age”: “In Paris und New York ist die Struktur unseres alltäglichen Lebens weitgehend unverändert. Einige neue architektonischen Stilrichtungen und Automodelle sind entstanden, aber der Verkehr staut sich immer noch, wie schon vor Jahrzehnten, vor den Städten. Die Menschen gehen dieselben Straßen und Alleen entlang, zwischen Bürogebäuden und Wohnblocks, Cafés und Restaurants. Die Infrastruktur, die uns mit Gas, Elektrizität und Wasser versorgt, besteht weitgehend aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts.
Unser Lebensstil wurde nicht durch das Reisen mit Raketen, magnetisches Schweben oder automatisierte Wohnungen transformiert, was für einen optimistischen Futuristen des Jahres 1950 sicher erstaunlich ist. Fünfzig Jahre später tanken wir unser Benzin immer noch an den selben Tankstellen für Autos, die mit Verbrennungsmotoren, Kolben, Kurbelwellen, Getriebegehäusen und Differentiale funktionieren. Wir beenden dieses halbe Jahrhundert sehr ähnlich, wie wir es begonnen haben. Benutzen Bügeleisen, um unsere Kleidung zu glätten, Staubsauger, um sauber zu machen und einen Schraubenschlüssel, um einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren. Infektionskrankheiten sind weiterhin weit verbreitet.”

Und auch für die kapitalistische Wirtschaft haben die neuen Technologien nur eine begrenzte Auswirkung. Sie wurden vor allem in der Informationstechnologie und im Finanzsektor angewendet. Natürlich auch in einigen Bereichen der Industrie, aber neue Technologien haben nicht zu einer qualitativen Steigerung der Produktivität geführt. Die durchschnittliche Produktivitätssteigerung in den 90er Jahren ist geringer als in den 80er Jahren, ge­schweige denn im langen Nachkriegsboom von 1950 bis 1975. Die Steigerung der Profite, die phasenweise Erholung der Produktivität in einzelnen Ländern und teilweise auch der Profitrate basierte nicht in erster Linie auf neuen Technologien, sondern auf der neoliberalen Politik, also der Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Die Anwendung von neuen Technologien ist vor allem intensiv und nicht extensiv, dass heißt sie führt zu effek­tiveren Arbeitsabläufen, aber schafft keine besonderen neuen Werte. Neue Technologien werden in der Industrie mehr für die Effektivierung des Managements, der Personalabteilungen und Verwaltungen, des Handels und der Werbung eingesetzt, als in der Produktion selber. Jonscher sagt dazu: „Büroautomatisierung wird helfen, Autos zu verkaufen oder die Sitzplätze in Flugzeugen zu füllen, aber wird diese Autos nicht herstellen oder die Flugzeuge zum Fliegen bringen. Wir müssen realistisch sein: während neue Technologie genauso wichtig ist, wie die alte als ein Mittel im Konkurrenzkampf, ist sie doch nicht vergleichbar als ein Beitragender zur allgemeinen wirtschaftli­chen Produktion.”

Die weltweite wirtschaftliche Krise, die sich seit der Asienkrise 1997 entwickelt, der Verfall der Aktienkurse welt­weit, die strukturelle Massenarbeitslosigkeit, der Kollaps ganzer Volkswirtschaften wie in Argentinien und der Türkei – all das spricht eine andere Sprache als Antonio Negri und Michael Hardt, die noch eine lange Wachstumsphase des Kapitalismus vor uns sehen. Auch damit desorientieren sie die Bewegung gegen die kapi­talistische Globalisierung. Leider haben wir nicht so viel Zeit, um den Kapitalismus abzuschaffen. Tatsächlich be­finden wir uns in einem Wettlauf mit der Zeit. Die historische Alternative, die Rosa Luxemburg formulierte – Sozialismus oder Barbarei – ist heute brandaktuell. Der Kapitalismus hat ungeheure Destruktionskräfte mobilisiert und diese wirken jeden Tag stärker und bedrohen unser Leben, unsere Umwelt, unsere Zukunft – ob durch Erderwärmung, (Nuklear-)Kriege oder den Zusammenbruch von sozialen Sicherungssystemen.

Globalisierung als Ideologie

Globalisierung ist ein realer Prozess. Aber Globalisierung ist auch eine ideologische Waffe in der Hand der Kapitalisten und ihrer PolitikerInnen und Medien. Sie wird als Totschlagargument benutzt, um ArbeiterInnen zu erpressen. “Wenn Ihr keine niedrigeren Löhne, keinen Arbeitsplatzabbau, keine schnelleren Bänder akzeptiert – verlegen wir die Produktion eben ins Ausland. Dort sind die Arbeiterinnen und Arbeiter genügsamer und geben sich mit weniger Lohn und längeren Arbeitszeiten zufrieden. Wir können sowieso machen, was wir wollen. Denn wir sind ja ein Multi und uns kann keine Regierung etwas sagen.” So oder so ähnlich wird argumentiert. Regierungen greifen diese Argumentation gerne auf, denn sie befreit sie von der Aufgabe, Konzernen Schranken aufzuzeigen und zur Sicherung von Arbeitsplätzen und sozialen Standards einzugreifen – man würde ja gerne, aber es geht ja nicht, denn man ist angesichts des globalisierten Kapitalismus und der freischwebenden multinationalen Konzerne leider machtlos.
Das ist nichts als Propaganda. Multinationale Konzerne sind nicht freischwebend und tatsächlich nur multinatio­nal, was ihr Operationsgebiet angeht, aber nicht was ihren Charakter angeht (siehe nächsten Abschnitt). Die Lohnkosten sind aus Sicht der Kapitalisten nicht der einzige und oftmals auch nicht der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, möglichst profitabel zu produzieren. Dies mag für einige arbeitsintensive Industrien, wie die Textilbranche, gelten – und diese ist dementsprechend weitgehend in Billiglohnländer abgewandert. Aber in vielen Bereichen machen die Lohnkosten nur fünf bis zehn Prozent der Gesamtkosten in der Produktion aus. In Deutschland zum Beispiel ist die Produktivität in der Regel um ein vielfaches höher als in Billiglohnländern. Hier können sich die Kapitalisten höhere Löhne leisten, weil die Produktivität noch höher ist. Entscheidend sind die Lohnstückkosten. Ein Unternehmer zahlt an seine ArbeiterInnen gerne den dreifachen Lohn im Vergleich zu einem anderen Land, wenn sie dafür das achtfache in der selben Arbeitszeit herstellen.
Auch andere Faktoren sind für Kapitalisten von Bedeutung, wenn es um die Frage des Produktionsstandortes geht: Marktnähe, Infrastruktur und politische Stabilität gehören dazu.

Multis und Nationalstaat

Es ist ein Mythos, dass die multinationalen Konzerne keine nationale Basis mehr haben. Eigentlich kann man nur von sehr wenigen Konzernen sagen, dass sie keine nationalstaatliche Basis haben: ABB, Shell und Unilever sind die bekanntesten Beispiele. ABB ist ein schweizerisch-schwedisches Unternehmen, die beiden letzteren sind von ihrer Eigentümerstruktur her einigermaßen paritätisch niederländisch-britisch. Unter den einhundert größten euro­päischen Konzernen sind diese drei die einzigen, die nicht einem Nationalstaat zugeordnet werden können. In der großen Mehrzahl der Konzerne dominiert eine Nation. Das gilt für die Eigentumsstruktur, das Management, die Produktion, die Investitionen, die Forschung und Entwicklung und die Mehrzahl der Beschäftigten. In diesem Zusammenhang von einer Globalisierung des Charakters der Konzerne zu sprechen ist um so unsinniger, da die Exporte und Auslandsinvestitionen sich weitgehend auf die entwickelten kapitalistischen Staaten konzentrieren und hier wieder auf die drei dominierenden Blöcke NAFTA, EU und Japan. Rund 80 Prozent der weltweiten Exporte der 200 größten Konzerne konzentrieren sich auf die OECD-Staaten (50 Prozent und mehr entfallen sogar auf den Austausch zwischen den Konzernen).
Wir haben es sehr viel mehr mit einer Regionalisierung und Blockbildung zu tun, als einer Globalisierung im Sinne einer wirtschaftlichen Integration aller Teile der Welt. Das gilt für den Welthandel genauso wie für die aus­ländischen Direktinvestitionen. Die Konzentration von Reichtum und Kapital hat enorm zugenommen und findet in den entwickelten kapitalistischen Staaten der Triade Nafta/USA, Europäische Union und Japan statt. Die in diesen Blöcken beheimateten multinationalen Konzerne sind für vier Fünftel der weltweiten industriellen Produktion und mehr als zwei Drittel des Welthandels verantwortlich. Vierzig Prozent des Welthandels ist Intra-Firm-Trade, also Handel, der innerhalb der Konzerne stattfindet (wenn zum Beispiel das VW-Werk in Belgien be­stimmte Teile nach Wolfsburg liefert). Die neokolonialen Länder werden weiter abgehängt. Der Anteil des südlich der Sahara gelegenen Afrikas am Welthandel ist zum Beispiel von 1965  bis 1986 von 0,4 auf 0,2 Prozent gesun­ken und sinkt weiter. Heute konzentrieren sich auf 13 Prozent der Weltbevölkerung 66 Prozent der Exporte. In 44 von 93 sogenannten Entwicklungsländern sank das Bruttoinlandsprodukt im Zeitraum Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre. Es findet eine Internationalisierung der Ökonomie der kapitalistischen Industriestaaten statt, die vor allem die Form von Blockbildungen angenommen hat. Der Rest der Welt nimmt an diesem Prozess kaum teil.
Winfried Wolf hat in seinem Buch “Fusionsfieber” dazu einige interessante Fakten zusammengetragen:
“Rund 70 Prozent des Umsatzes der Multis wird im eigenen ‘Nationalstaat’ realisiert. Nimmt man als Bezugsgröße die ‘Blöcke’, dann konzentrieren sich z.B. bei den US-Konzernen mehr als 80 Prozent des Weltumsatzes der US-Großkonzerne auf die NAFTA. Für die EU-Konzerne dürften sich ähnliche Konzentrationen ergeben, wenn wir einmal von Sonderfällen wie DaimlerChrysler und Renault-Nissan mit ihren enormen transatlantischen Engagements absehen.”
“Das Eigentum an den größten Konzernen der Welt ist zu mehr als 90 Prozent insofern ‘national’, als es an einen der neun wirtschaftlich mächtigsten Staaten dieser Welt gebunden und in einen der drei größten kapitalistischen Wirtschaftsblöcke Nordamerika (NAFTA), Japan und Westeuropa (EU) eingebettet ist.”
“Es handelt sich bei den ‘100’ oder ‘200’ oder ‘500 Größten’ so gut wie immer um Konzerne, die in einem starken Nationalstaat verankert sind. Sie nutzen diesen Nationalstaat oder gegebenenfalls nationalstaatsähnliche Institutionen der NAFTA oder der EU für ihre weltweiten Aktivitäten und zur Verbesserung ihrer Position im in­ternationalen Konkurrenzkampf.”
Das Beispiel der Fusion des deutschen Daimler-Konzerns mit dem US-amerikanischen Autohersteller Chrysler ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Der Öffentlichkeit wurde diese Fusion als eine Ehe unter Gleichen präsentiert. Tatsächlich handelte es sich um eine Übernahme Chryslers durch Daimler – entstanden ist ein größerer weltweit operierender deutscher Konzern. Die bisherigen Daimler-Aktionäre erhielten mit 54 Prozent die Mehrheit am neuen Konzern. Auch in der Unternehmensführung wurden schnell die Verhältnisse wieder gerade gerückt. Nach zwei Jahren schied der vormalige Chrysler-Boss Bob Eaton aus. Von fünf Top-Managern von Chrysler war Mitte des Jahres 2000 noch einer übriggeblieben. Die DaimlerChrysler-Aktie wird auch nicht mehr in den US-amerikanischen Dow Jones-Aktienindex aufgenommen, denn die Wall Street führt den Konzern als deutsches Unternehmen. Wenn es um Geschäfte geht glaubt das Kapital nicht an seine eigene Propaganda, sondern nur an die Tatsachen: der Sitz der Firma ist in Stuttgart.
Interessant an dieser Übernahme ist auch, dass alle strategisch wichtigen Bereiche des Chrysler-Konzerns in den Jahren vor der „Fusion” an US-amerikanische Unternehmen abgegeben worden waren. Ähnlich hat DaimlerChrysler dann übrigens vor der Bildung des europäischen Rüstungskonzerns EADS gehandelt. Der strate­gisch bedeutende Triebwerkehersteller MTU wurde aus der DASA ausgegliedert und ging nicht in die EADS mit ein.

Übernahmen, wie die von Chrysler durch Daimler, haben nichts mit  transnationalen Konzernen zu tun, die keine nationalstaatliche Basis mehr haben. Dann hätte man auch behaupten können, dass die militärische Unterwerfung Europas in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs durch Nazi-Deutschland eine Form der Globalisierung war.

Das Gerede vom machtlosen Staat und den freischwebenden transnationalen Konzernen ist blanker Unsinn. Hardt und Negri fehlt auch ein Grundverständnis von der Rolle des Staates im Kapitalismus. Das kapitalistische System basiert auf dem Nationalstaat. Dieser ist eine historisch gewachsene soziale Einrichtung und hat viele Bestandteile: Geschichte, Tradition, gemeinsame Sprache, Kultur, Territorium usw.
Die Kapitalisten brauchen den Staat, denn er schützt sie sowohl gegenüber dem Widerstand der Arbeiterklasse als auch gegenüber anderen kapitalistischen Konkurrenten. Der Staat dient dazu die Bedingungen zur Profitmaximierung aufrecht zu erhalten. Dazu gehört auch, Aufgaben zu übernehmen, die der Einzelkapitalist nicht bezahlen kann oder die nicht in seinem unmittelbaren Interesse sind. Der Staat hat auch eine Vermittlungsfunktion zwischen den Klassen und zwischen den verschiedenen Einzelkapitalisten und Kapitalfraktionen.
Zum Beispiel war/ist es Aufgabe des Staates eine gute Infrastruktur zu schaffen, die es den Kapitalisten ermöglicht,  ihre Waren zu transportieren oder mit Kunden zu kommunizieren. Die Aufrechterhaltung eines Bildungswesens ist eine solche staatliche Aufgabe (was übrigens nicht durch die Versuche, Privatisierungen be­stimmter Bereiche des Bildungswesens durchzuführen widersprochen wird, zum Teil versuchen heute private Kapitalisten die vom Staat aufgebaute Infrastruktur zu übernehmen und profitabel auszunutzen).
Letztlich besteht der Staat aus speziellen Formationen bewaffneter Menschen – aus Polizei, Militär, Geheimdiensten und den dazu notwendigen Einrichtungen wie Justizwesen und Gefängnissen.
Es gibt heute keine internationalen Einrichtungen oder Strukturen, die staatliche Funktionen übernehmen könnten. Die Kapitalisten greifen weiterhin auf ihren Nationalstaat zurück, wenn sie ihn brauchen.
Und sie brauchen ihn im Kampf mit ihren ausländischen Konkurrenten, wenn es mit der Wirtschaft bergab geht. Nichts anderes geschieht, wenn George W. Bush Strafzölle auf Stahlimporte legt, die US-amerikanische Landwirtschaft subventioniert oder andere protektionistische Maßnahmen ergreift.

Die Globalisierung ist ein Prozess, eine Tendenz der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft seit Ende der 70er Jahre. Der Kapitalismus ist unfähig diese Tendenz bis ans Ende zu führen. Imperialismus, Monopolkapitalismus, Globalisierung heben nicht den Konkurrenzkampf auf und können ihn nicht aufheben.
Die Globalisierung hat die Widersprüche des Kapitalismus nicht gelöst, sondern sie verschärft. Auf der Basis einer tiefen weltweiten Wirtschaftskrise wird die Tendenz zur Globalisierung aber zum Ende kommen und sich auch teilweise umkehren können. Konfrontiert mit sinkenden Profiten und Verlusten werden die Kapitalisten zu protek­tionistischen Maßnahmen greifen, um ihre Märkte zu schützen und sich gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen. Tatsächlich hat dies auch in den letzten zwanzig Jahren niemals aufgehört.

Die Entwicklung Japans in den letzten zehn Jahren zeigt eindrucksvoll, dass eine in die Krise geratene Kapitalistenklasse nach dem Eingreifen des Staates ruft, um die Krise zu überwinden. Aller Globalisierungsideologie und neoliberaler Doktrin zum Trotz hat der japanische Staat mit massiver Neuverschuldung, staatlichen Investitionsprogrammen und eine Null-Zins-Politik massiv in die Ökonomie eingegriffen. Das wurde auch von den Globalisierungsfetischisten in den anderen kapitalistischen Staaten begrüßt, weil sie die weltweiten Folgen eines Zusammenbruchs der japanischen Wirtschaft fürchten.
Ähnlich argumentieren zur Zeit immer mehr “Wirtschaftsexperten”, die europäischen Staaten dürfen sich nicht sklavisch an die Vorgaben des Maastrichter Vertrages halten und sollten stattdessen die Geldpolitik lockern. Die Aufhebung der Frist für die EU-Mitgliedsstaaten bis Ende 2004 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen ist ein Beispiel dafür, dass der Kapitalismus in der Krise von Globalisierung und Neoliberalismus abrücken kann und wird. Wie weit dieser Prozess gehen wird ist nicht genau vorherzusagen. Es wird wahrscheinlich keine vollstän­dige Deglobalisierung oder ein Zurück zu einer Situation wie in den 30er Jahren geben, als ausgehend von der Weltwirtschaftsdepression die internationale Integration der Wirtschaft zusammengebrochen war und Autarkiebestrebungen die Politik vieler kapitalistischer Staaten dominierten. Aber die Zunahme von ausländischen Direktinvestitionen und von Fusionen hat schon im letzten Jahr deutlich nachgelassen. Eine tiefe Rezession wird Handelsauseinandersetzungen und Protektionismus fördern.

Das Ende der Industriegesellschaft?

Für Hardt und Negri befindet sich die Welt im Zeitalter der Postmoderne. Ökonomisch hat die Industrialisierung das Zeitalter der Moderne eingeläutet. Die Postmoderne werde demgegenüber geprägt von der Dominanz von Dienstleistungen und immaterieller Arbeit. Sie schreiben unter anderem:

“Die zentrale Rolle bei der Produktion des Mehrwerts, die früher der Arbeitskraft der Fabrikarbeiter, dem ‘Massenarbeiter’ zukam, spielt heute überwiegend die intellektuelle, immaterielle und kommunikative Arbeit.”

“In der Gegenwart allerdings ist der Prozess der Modernisierung an ein Ende gekommen. Mit anderen Worten, die industrielle Produktion kann ihre Dominanz nicht länger über die anderen ökonomischen Formen und die sozialen Phänomene ausweiten.”

“(…)ist im Prozess der Postmodernisierung oder Informatisierung eine Abwanderung aus der Industrie in die Dienstleistungsjobs, in den tertiären Sektor der Ökonomie, festzustellen.”

“In diesem Sinne kann die postindustrielle Ökonomie als ein informationelle Ökonomie bezeichnet werden. Die Feststellung, dass der Prozess der Modernisierung beendet ist und dass die globale Ökonomie heute einen Prozess der Postmodernisierung hin zu einer informationellen Ökonomie unterliegt, bedeutet keineswegs, von einer Abschaffung der industriellen Produktion auszugehen oder zu unterstellen, sie habe, zumal in den dominanten Regionen der Erde, aufgehört, eine wichtige Rolle in der Ökonomie zu spielen. Wie schon die industrielle Revolution die Landwirtschaft nicht abgeschafft, sondern transformiert und ihre Produktivität gesteigert hat, so wird auch die informationelle Revolution die Industrie transformieren.”

“Das Detroiter Autowerk von 1930 war die Krone der globalen Ökonomie, es befand sich in beherrschender Position, dort wurde der höchste Wert produziert; die Autofabrik der 1990er, ob in Sao Paulo, Kentucky oder Wladiwostok, nimmt in der globalen Ökonomie eine untergeordnete Stellung ein – untergeordnet im Verhältnis zur Produktivität der Dienstleistungen, die den höchsten Wert produzieren. Jede ökonomische Tätigkeit tendiert heute dazu, von der Informationsökonomie beherrscht und von ihr qualitativ verändert zu werden.”

“Information und Kommunikation führen die heutige Produktion an, sie sind die eigentlich produzierten Waren.”

Natürlich ist es eine Tatsache, dass der Dienstleistungssektor im Vergleich zum Beginn des letzten Jahrhunderts oder im Vergleich zur Nachkriegsperiode eine größere Bedeutung hat. In vielen entwickelten kapitalistischen Staaten sind mehr Menschen im Dienstleistungsbereich beschäftigt als in der Industrie. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die heutige kapitalistische Ökonomie vom tertiären Sektor dominiert wird und immaterielle Arbeit den überwiegenden Teil des produzierten Mehrwerts erzielt. Auch in dieser Frage arbeiten Hardt und Negri mit Behauptungen, die sie weder erklären noch mit statistischem Material untermauern. Die Realität widerspricht ihnen einmal mehr.

Die Produktion materieller Güter ist die Basis der gesamten Ökonomie. Die Dienstleistungsbranche befasst sich vor allen Dingen mit der Verteilung materieller Produkte (Handel, Werbung) oder mit der Finanzierung von Produktion (Banken). Es liegt auf der Hand, dass ohne materielle Produktion die sogenannte immaterielle Arbeit gar nicht stattfinden könnte.
Um in den Genuss von Kunst und Kultur zu kommen bedarf es materieller Produkte: das Fernsehen, den CD-Player, Ton- und Filmstudios, die Theatergebäude, das Holz für die Kulissen etc. Ohne Telefone keine Call-Center. Ohne Eisenbahnen, Flugzeuge, Busse und Hotels kein Tourismus. Ohne Halbleiter, Computer, Bildschirme kein Internet.
Die materielle Produktion ist die Basis der gesamten Ökonomie und auch der Dienstleistungsbranche. An jedem Industriearbeitsplatz hängen eine Reihe weiterer Arbeitsplätze bei Zulieferern und Dienstleistern. Wenn VW in Wolfsburg oder Opel in Bochum dichtmachen würden, würden Geisterstädte entstehen. Im Fall des britischen Rover-Werks in Longbridge hingen an den 5 000 Rover-Arbeitsplätzen über 15 000 Zulieferer, weitere 15 000 im Autohandel und  5 000 Dienstleister in der Stadt. Wenn, aus welchem Grund auch immer, alle Edeka-Filialen in München schließen würden, würde die Nachfrage nach den Lebens- und Reinigungsmitteln, die dort verkauft werden kaum nachlassen und die Produkte würden in anderen Geschäften gekauft oder eine andere Handelskette würde in die Verkaufsräume einziehen.
Außerdem hat ja die Zunahme des Dienstleistungssektors nicht etwas damit zu tun, dass die Produktion materieller Güter zurückgegangen wäre, sondern dass diese in immer produktiveren Fabriken von immer weniger ArbeitnehmerInnen hergestellt werden können. Die US-Industrie produziert heute mit derselben Anzahl von Beschäftigten die doppelte Menge an Produkten wie 1973.
Von den zwölf größten Unternehmen der BRD sind fünf zum Teil im Dienstleistungsbereich tätig. Die vier Spitzenplätze werden von reinen Industrieunternehmen belegt (Daimler, VW, Siemens und Veba). Unter den reinen Dienstleistungsunternehmen sind mit Metro, Rewe und Edeka drei Handelsketten, die wahrlich nichts anderes machen als materielle Produkte zu verkaufen. Selbst wenn diese einen höheren Umsatz haben als manches Industrieunternehmen liegt es auf der Hand, dass sie eine geringere Bedeutung in der Ökonomie haben als große Industriekonzerne.
Bei einer Betrachtung der größten Industriekonzerne der Welt, also der stofflichen Zusammensetzung des Weltkapitals, zeigt sich, dass wir weit davon entfernt sind in einer Mediengesellschaft zu leben. Es dominieren Öl-, Auto- und Rüstungskonzerne. Diese vereinen über 50 Prozent der Umsätze der einhundert größten Industriekonzerne. Die elektronische Industrie, Internet, Computerherstellung können nicht mithalten. Sie errei­chen nur etwas über ein Viertel der Umsätze der einhundert größten Industriekonzerne. Da kann Bill Gates der reichste Mann der Welt sein: Microsoft macht nur ein Achtel des Umsatzes von General Motors und steht auf Rang 210 der 500 größten Unternehmen (Zahlen von 1999).

Das Ende der Arbeiterklasse?

Ausgehend von der Annahme, dass die materielle Produktion in der Gesamtökonomie nur noch eine untergeordne­te Rolle spiele, negieren Hardt und Negri die Arbeiterklasse und sprechen stattdessen vom gesellschaftlichen Arbeiter und der Multitude/der Menge. Sie betonen, dass das Proletariat (im Sinne der industriellen Arbeiterklasse) seine Rolle als revolutionäres Subjekt verloren habe. Der gesellschaftliche Arbeiter ist für Hardt und Negri jeder Mensch – außer den Kapitalisten. Die Autoren benutzen auch den Begriff der Bioproduktion, wo­mit sie die Produktion des menschlichen Lebens selbst meinen, welche wiederum von allen Individuen immer und überall getätigt wird. Letztlich sind das abstrakte Kategorien, die dazu dienen sollen, der Arbeiterklasse den Rücken zu kehren. Diese Position wurde von Antonio Negri schon in den 70er Jahren entwickelt.
Negri war in den 70er Jahren einer der führenden Theoretiker der linksradikalen Bewegung in Italien. Er gehörte zur Gruppe Autonomia Operaia, die aufgrund der reformistischen Politik der Führung von Kommunistischer Partei und Gewerkschaften eine ablehnende Haltung gegenüber der Arbeiterklasse entwickelte. Negri bezeichnete Gewerkschafter damals als Kulaken (russische Großbauern) und IndustriearbeiterInnen als Kapitalisten. Für ihn war nicht mehr das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entscheidend und die Arbeiterklasse de­finierte sich nicht mehr durch ihre Stellung in der Wirtschaft. Der gesellschaftliche Arbeiter konnte StudentIn, Hausfrau, Arbeitslose(r) sein – wurde er doch gesellschaftlich durch den Kapitalismus ausgebeutet. Diese gesell­schaftlichen Arbeiter sollen das neue Proletariat sein, was nun aber sehr viel heterogener zusammengesetzt sei: “Die Klassenzusammensetzung des Proletariats hat sich gewandelt, und das müssen wir nachvollziehen. Wir verwenden einen weiteren Begriff von Proletariat und fassen in dieser Kategorie all jene, deren Arbeitskraft direkt oder indirekt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischen Normen unterworfen sind.” Dieses neue Proletariat ist die Multitude/Menge.

Letztlich werden sich in Hardts und Negris Definition all jene linken SkeptikerInnen wieder finden, die die Arbeiterklasse abgeschrieben haben. Die Idee, die Arbeiterklasse sei ein Phänomen der Vergangenheit ist nicht wirklich neu. Dieser Annahme liegt in der Regel eine falsche oder nicht vorhandene Definition von Arbeiterklasse zu Grunde. Für viele, die die Arbeiterklasse abgeschrieben haben, muss ein ArbeiterIn im Blaumann in der Fabrik, verschmutzt im Bergwerk oder Bier trinkend auf dem Bau malochen. Davon gibt es zwar immer noch ziemlich viele, aber zumindest in den USA und Westeuropa doch immer weniger. Auch wenn Hardt und Negri den Begriff des Proletariats nicht verwerfen verstärken sie doch diese Ideen über die Arbeiterklasse.

Doch für MarxistInnen macht sich die Arbeiterklasse weder an Äußerlichkeiten fest, noch daran, ob man in der in­dustriellen Produktion tätig ist. MarxistInnen nehmen eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Definition vor. Entscheidend ist, dass einE ArbeiterIn ihre/seine Arbeitskraft zum Verkauf anbietet und – so er/sie denn einen Arbeitsplatz hat – Mehrwert schafft. Ob dies im Bergwerk, bei Opel am Fließband, bei Mc Donald’s an der Kasse, im Call Center oder als ProgrammiererIn geschieht ist zweitrangig. Nun gibt es Lohnabhängige, die nicht direkt Mehrwert schaffen, weil sie zum Beispiel im öffentlichen Dienst beschäftigt sind und nicht von Kapitalisten aus­gebeutet werden. Sie sind aufgrund ihrer sozialen Stellung trotzdem Mitglieder der Arbeiterklasse. Genauso gibt es formell Lohnabhängige, die aber faktisch keinen Mehrwert schaffen und aufgrund ihrer sozialen Situation andere objektive Interessen haben und nicht zur Arbeiterklasse gehören – die Top-Manager in den Konzernzentralen (die aber in der Regel heutzutage sowieso gleichzeitig Großaktionäre sind).
Die Arbeiterklasse ist heute weltweit die quantitativ stärkste Kraft in der Gesellschaft. In der Bundesrepublik sind knapp 90 Prozent der Erwerbstätigen lohnabhängig. Zu Lebzeiten von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren das vielleicht vierzig Prozent, da ein viel größerer Teil der erwerbstätigen Bevölkerung selbständige Handwerker, Gewerbetreibende, Händler und Bauern waren.
Und selbst die Industriearbeiterklasse ist heute weltweit um ein vielfaches größer als zu Marxens oder Lenins Zeiten. In den 24 größten Volkswirtschaften gab es im Jahr 1900 51,7 Millionen IndustriearbeiterInnen, 1950 waren es 88 Millionen und 1971 waren es 120 Millionen. Diese Zahl ist bis zum Jahr 1998 leicht auf 112,8 Millionen gesunken.

Die Arbeiterklasse ist die einzige Kraft in der Gesellschaft, die in der Lage ist den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Demokratie aufzubauen und zu gestalten. Warum? Aufgrund ihrer Stellung in der kapitalis­tischen Wirtschaft. Durch kollektives Handeln – Streiks, Betriebsbesetzungen, Arbeiterkontrolle und -verwaltung über die Produktion – ist sie in der Lage das weitere Funktionieren des Kapitalismus zu beenden, die Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen und demokratisch zu organisieren. Die Lohnabhängigen sind heute ausnahmslos von der Krise des Kapitalismus betroffen, durch Lohnkürzungen, Stress, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzverlust (oder zumindest der Sorge davor), Abbau von Sozialleistungen. Durch ih­re gemeinsame Tätigkeit am Arbeitsplatz – und das zum Teil nach wie vor in Großbetrieben bzw. großen Unternehmen zu vielen Tausenden – können sie ein kollektives Klassenbewusstsein entwickeln und zu kollektiven Handlungen und kollektiven Organisationsformen kommen.
Die Arbeiterklasse ist die einzige Kraft in der Gesellschaft die dieses Potenzial hat. Darüber ist sie sich nicht zu je­der zeit bewusst. Wie Marx es ausdrückte, muss sie von einer “Klasse an sich” zu einer “Klasse für sich” werden, also Klassenbewusstsein entwickeln. Das Bewusstsein der Arbeiterklasse ist heute international auf einem ver­gleichsweise niedrigen Stand aufgrund der Rückschläge für die Arbeiterbewegung und den Sozialismus in den 90er Jahren. Die Erfahrung mit der Krise des Kapitalismus und mit großen Klassenkämpfen, kombiniert mit dem Eingreifen sozialistischer Organisationen in diese Kämpfe, wird zu einem neuen Klassenbewusstsein und einem Bewusstsein für Sozialismus führen.
Die Macht der Arbeiterklasse hat sich nicht zuletzt bei den Generalstreiks in Italien und Spanien im Jahr 2002 ge­zeigt, wo sie die ganze Gesellschaft zum Stillstand gebracht und unter Beweis gestellt hat, dass der traditionelle Slogan der Arbeiterbewegung – alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will – nach wie vor gültig ist.

Welches Programm für welche Bewegung?

Wenn man darauf hofft, dass Hardt und Negri ein Programm und eine Strategie vorschlagen, wie der Kapitalismus abgeschafft werden kann, wird man enttäuscht. Sie wissen ziemlich genau, welchen Weg sie nicht beschreiten wollen, aber ihre Ausführungen zum Widerstand, zum Gegen-Empire, zu einem politischen Programm sind dünn und abstrakt und bieten keinerlei Anleitung zum Handeln.
Gleichzeitig weisen sie mit aller Vehemenz die traditionelle Arbeiterbewegung und den Marxismus zurück. Den Vorschlägen von Marx und Engels und ihrem Kommunistischen Manifest soll nach Hardt und Negri nicht gefolgt werden, um eine Gegenmacht aufzubauen. Die Zeiten des proletarischen Internationalismus sind für die beiden Autoren vorbei. An ihre Stelle tritt die Multitude/Menge und soziale Bewegungen. Unter anderem beziehen sich Hardt und Negri auf die mexikanischen Zapatistas. Der Idee der Arbeiterräte stellen Hardt und Negri entgegen: “Die Organisation des gesellschaftlichen Arbeiters und immaterieller Arbeit, eine Organisation produktiver und politischer Macht in Gestalt einer biopolitischen Einheit, die von der Menge koordiniert und gelenkt wird – sozu­sagen absolute Demokratie in Aktion.” Was genau darunter zu verstehen ist wird dem Leser und der Leserin nicht mitgeteilt.
Die Multitude/Menge, die ja aus Sicht von Hardt und Negri die industrielle Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt abgelöst hat, ist aus ihrer Sicht zwar eine mächtige und nicht aufzuhaltende Kraft – hat aber keine gemein­same Sprache, ist nicht organisiert, weiß nicht wer ihr Gegner ist, handelt nicht kollektiv. Die Autoren selber weisen darauf hin: “Das einzige Ereignis, auf das wir noch warten, ist dasjenige der Errichtung oder genauer: der revolutionären Erhebung einer mächtigen Organisation.” Allerdings müssen sie zugeben: “Feste Modelle haben wir für dieses Ereignis nicht zu bieten. Erst die Menge wird im praktischen Experiment diese Modelle bereitstellen und darüber bestimmen, wann und wie das Mögliche Wirklichkeit wird.”
Während sie in ihrer Analyse der Entstehung des Empire einen enormen Subjektivismus an den Tag legen (die Entstehung des Empire wird nicht auf objektive ökonomische Prozesse, der Entwicklung der Produktivkräfte, zu­rückgeführt, sondern als Antwort auf den internationalen proletarischen Klassenkampf verstanden – ein Aspekt des Buches, auf den in dieser Kritik leider nicht ausführlich eingegangen werden kann), fehlt hier jegliches Verständnis von der Rolle des subjektiven Faktors – sozialistischer Organisationen – Bewusstseinsentwicklungen und Kämpfe anzustoßen und zu beschleunigen. Letztlich sind die Aussagen von Hardt und Negri zu dieser Frage ein Rezept für Passivität – die Menge wird’s schon richten.

Hardt und Negri führen die aus ihrer Sicht wichtigsten Kämpfe der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts auf: den chinesischen Studierendenaufstand 1989, die palästinensische Intifada, die Revolte 1992 in Los Angeles, den zapa­tistischen Aufstand im mexikanischen Chiapas 1994, die Streikbewegungen in Frankreich 1995 und Südkorea 1996. Daraufhin behaupten sie, diese Kämpfe hätten keinen neuen internationalen Kampfzyklus ausgelöst, “weil die darin zum Ausdruck kommenden Wünsche und Bedürfnisse sich nicht in unterschiedliche Kontexte übersetzen ließen.” Sie sprechen auch davon, dass die unterschiedlichen Kämpfe in verschiedenen Teilen der Welt eine unter­schiedliche Sprache zu sprechen scheinen und formulieren: “Auch hier deutet sich eine wichtige politische Aufgabe an: eine neue gemeinsame Sprache zu finden, die uns die Kommunikation erleichtert, so wie es für die Kämpfe einer früheren Epoche die Sprache des Antiimperialismus und des proletarischen Internationalismus taten.”

Zurecht weisen die Autoren darauf hin, dass eine Strategie, die eine Lokalisierung von Kämpfen vorschlägt und keine globale Dimension des Widerstandes vertritt, schädlich ist. Gleichzeitig erkennen sie aber die globalen Auswirkungen der Kämpfe und den globalen Charakter der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung nicht. Man muss den Autoren zugestehen, dass sie ihr Buch vor den Massendemonstrationen gegen die Welthandelsorganisation in Seattle 1999 geschrieben haben, aber eben diese Proteste widerlegen Hards und Negris Einschätzung der sozialen Kämpfe.

Hardt und Negri unterschätzen die von ihnen selbst aufgeführten Kämpfe (auch wenn die Auswahl sehr willkürlich ist, so werden zum Beispiel nicht die Massenbewegungen erwähnt, die 1989-91 die stalinistischen Regime stürzten), denn alle diese Kämpfe hatten internationale Auswirkungen. Der Aufstand der chinesischen Studierenden war ein Vorbote der mächtigen Massenbewegungen, die das SED-Regime, die Ceaucescu-Diktatur und die anderen stalinistischen Regime hinwegfegten und motivierte diese (trotz seiner blutigen Niederschlagung). Die französischen Streiks von 1995 waren eine Motivation für die deutschen GewerkschafterInnen, die 1996 hunderttausendfach gegen Kanzler Kohl nach Bonn marschierten (“Mit Kohl Französisch reden” war einer der beliebtesten Slogans). Der Palästinenseraufstand hat zu einer Radikalisierung in der gesamten arabischen Welt ge­führt und der zapatistische Aufstand in Chiapas spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer internatio­nalistischer Proteste und Debatten, die Vorboten der Bewegung von Seattle und Genua waren.
Hardt und Negri versuchen aber gar nicht den Charakter von Kämpfen und Bewegungen in der post-stalinistischen Periode zu erfassen. Sie stellen fest, dass die verschiedenen Kämpfe (ihrer Meinung nach) keine gemeinsame Sprache gefunden haben, beantworten aber weder die Frage, warum dies der Fall ist, noch wie das zu ändern ist. Vor allem erkennen sie die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Stalinismus nicht.

Der Zusammenbruch des Stalinismus war auch das Ende der Nachkriegs-Weltordnung und leitete eine Verschiebung im internationalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ein. Der Prozess von Globalisierung und Neoliberalismus, der schon Ende der 70er Jahre eingesetzt hatte, nahm einen starken Aufschwung. Die Arbeiterklasse und linke Parteien und Bewegungen wurden in die Defensive gedrängt, das Kapital organisierte eine ideologische Offensive mit großen Auswirkungen. Das politische Bewusstsein innerhalb der Arbeiterklasse fiel zurück, sozialistische Ideen verloren an Unterstützung. Die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse – Sozialdemokratie, Gewerkschaften, Kommunistische Parteien – vollzogen einen weitgehenden Rechtsruck und ak­zeptierten fast ausnahmslos die kapitalistische Marktwirtschaft. Im Falle der meisten sozialdemokratischen und einiger Kommunistischer Parteien führte diese Entwicklung zu einer völligen Transformation hin zu durch und durch bürgerlich-kapitalistischen Parteien, die eine aktive Massenbasis in der Arbeiterklasse und unter Jugendlichen verloren haben. In verschiedenen Ländern der neokolonialen Welt gaben linke Guerillabewegungen den Kampf auf, begannen Verhandlungen mit den kapitalistischen Regierungen und versuchten sich mit den Regimen, die sie jahrzehntelang bekämpften, zu arrangieren. Ein Vakuum entstand auf der Linken, welches von keiner Kraft gefüllt wurde.
Während Leo Trotzki im Übergangsprogramm von 1938 noch schrieb, die Krise der Menschheit sei die Krise der Führung des Proletariats und damit darauf hinwies, dass in vielen Fällen, wie der Spanischen Revolution, der Wille den Sozialismus zu erkämpfen, die Kampf- und Opferbereitschaft, die Massenaktivität innerhalb der Arbeiterklasse gegeben waren und es nur an einer schlagfertigen marxistischen Massenpartei fehlte, muss diese Aussage heute differenziert werden. Die Krise der Menschheit ist heute eine Krise von Bewusstsein, Organisation und Führung der Arbeiterklasse. Das bedeutet, dass sich Unzufriedenheit, Wut und soziale Kämpfe auf lokaler, re­gionaler und nationaler Ebene nicht sofort in politische Bewegungen und sozialistische Organisation verwandeln. Diese Rückschläge der 90er Jahre sind der Grund, warum der Globalisierung noch keine Welle von internationalen Kämpfen und Protesten entgegengesetzt wurde, die den Kämpfen der 20er/30er Jahre oder der 70er Jahre entspre­chen würde. Die Arbeiterklasse und die Jugend braucht Zeit und muss Erfahrungen sammeln, um den verlorenen Boden aufzuholen. Aber sie hat mit dem Aufholungsprozess begonnen: nichts anderes sind die Massendemonstrationen von Seattle, Prag, Göteborg, Genua, Barcelona, Sevilla, Berlin. Nichts anderes sind die Entstehung von Strukturen wie ATTAC, dem Weltsozialforum oder innergewerkschaftlichen Oppositionsgruppen. Nichts anderes sind die Streiks und Generalstreiks des Jahres 2002 in Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Deutschland, Großbritannien. Aus diesen Kämpfen, Protesten und Debatten heraus werden neue sozialistisches Bewusstsein entstehen und neue starke sozialistische Arbeiterorganisationen hervorgehen. SozialistInnen müssen heute ihre Kraft dafür einsetzen diesen Prozess anzutreiben und zu beschleunigen. Und sie müssen den Marxismus weiterentwickeln und eine revolutionär-sozialistische Organisation aufbauen, die die Basis für das Entstehen revo­lutionär-sozialistischer Massenparteien in der Zukunft bilden kann, die notwendig sind, um eine Revolution zum Sieg zu führen.

Die programmatischen Punkte, die Hardt und Negri vertreten sind schwach und weit davon entfernt, ein Programm zu sein, was der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung den Weg weisen könnte. Letztlich formulieren sie drei Forderungen:
– Das Recht auf Weltbürgerschaft und Bewegungsfreiheit
– Das Recht auf sozialen Lohn
– Das Recht auf Wiederaneignung

Das Recht auf Weltbürgerschaft und Bewegungsfreiheit

Die Forderung nach Bewegungsfreiheit und Weltbürgerschaft steht im engen Zusammenhang mit der Einschätzung vom Nomadismus, die Hardt und Negri vornehmen. Für sie ist der Nomade der neue Revolutionär. Migrationsbewegungen werden als eine aus der Multitude/Menge heraus kommende Widerstandsform betrachtet, die nationalstaatliche Autoritäten unterwandert: “Als die wahren Helden der Befreiung der Dritten Welt dürfen heute die Emigranten und die Bevölkerungsströme gelten, die alte und neue Grenzen zerstört haben.” Dabei lassen sie vollkommen außer Betracht, dass Migration unterschiedliche Ursachen hat, dass es freiwillige und erzwungene Migration gibt. Die Vorschläge der Hartz-Kommission sehen eine Mobilität vor, die sicherlich keine Widerstandsform ist, sondern der Zwang in der gesamten Bundesrepublik einen angebotenen Arbeitsplatz annehmen zu müssen. Die Flüchtlingsströme sind keine Widerstandsbewegungen, sondern Verzweiflungsbewegungen. Für die vollen bürgerlichen Rechte für alle MigrantInnen einzutreten ist richtig, doch die Forderung nach einer Weltbürgerschaft zielt ins Leere. Staatsbürgerliche Rechte sind weiterhin nationalstaat­lich festgelegt. Eine(n) WeltbürgerIn kann und wird es erst in einer weltweiten sozialistischen Föderation geben. Bis dahin muss die Linke die Forderung nach gleichen Rechten für alle in den jeweiligen Nationalstaaten lebenden Menschen aufwerfen. Das ist eine Forderung, für die mobilisiert und gekämpft werden kann. Die Forderung nach einem Recht auf Weltbürgerschaft ist unter den gegebenen Verhältnissen – der Fortexistenz der Nationalstaaten als der grundlegenden Einheit gesellschaftlicher Organisation – gleichbedeutend mit der Forderung nach Meinungsfreiheit für Säuglinge. Sie ist unsinnig und utopisch.

Das Recht auf einen sozialen Lohn

Hardts und Negris Forderung nach einem sozialen Lohn muss im Zusammenhang mit ihrer Vorstellung des “gesellschaftlichen Arbeiters” und der “biopolitischen Produktion” betrachtet werden. Da sie davon ausgehen, dass jeder Mensch an dieser biopolitischen Produktion, die ja die Produktion des Lebens selber sein soll, teilnimmt, er­gibt sich daraus das Recht auf einen sozialen Lohn – unabhängig davon, ob ein Mensch Lohnarbeit verrichtet. “Arbeit – materielle oder immaterielle, geistige oder körperliche – produziert und reproduziert gesellschaftliches Leben und wird dabei vom Kapital ausgebeutet.” Und: “Die Forderung nach einem sozialen Lohn erweitert die Forderung, dass jede für die Kapitalproduktion nötige Tätigkeit durch gleiche Kompensation Anerkennung findet, auf die gesamte Bevölkerung, so dass ein sozialer Lohn letztlich ein garantiertes Einkommen darstellt. Und da die staatsbürgerlichen Rechte allen zustehen, können wir dieses garantierte Einkommen als Bürgereinkommen be­zeichnen, das jedem Mitglied der Gesellschaft zusteht.”
In der Schlussfolgerung ist Hardt und Negri zuzustimmen. Ein garantiertes Einkommen – SozialistInnen würden es als eine soziale Mindestsicherung nennen – ist eine zentrale sozialpolitische Forderung. Die Argumentation der Autoren ist aber gefährlich und definiert ihr Bürgereinkommen anders, als  SozialistInnen eine soziale Grundsicherung definieren würden. Eine soziale Mindestsicherung soll für ausnahmslos alle gelten: Für Erwerbslose, für InländerInnen und AusländerInnen, für Jugendliche und Alte – unabhängig von ihrer Tätigkeit. Hardt und Negri sehen produktive Tätigkeit als Basis für das Recht auf einen sozialen Lohn. Nun mögen sie sagen, dass sowieso jeder Mensch ein “gesellschaftlicher Arbeiter” ist und an der biopolitischen Produktion teilnimmt. Dies ist – selbst wenn man den Begriff der Bioproduktion akzeptiert – zu bezweifeln bzw. wird absurd, wenn man die Frage aufwirft, ob zum Beispiel obdachlose Straßenkinder produktiv tätig sind. Nach Hardts und Negris Logik würde diesen kein sozialer Lohn zustehen. Auch knüpfen sie die Forderung nach sozialem Lohn an die Bürgerrechte, die zwar allen zustehen sollten, es aber nicht tun. MigrantInnen sind also potenziell ausgeschlossen.

Das Recht auf Wiederaneignung

Wenn Hardt und Negri das Recht auf Wiederaneignung fordern beziehen sie das explizit auf die Produktionsmittel. Doch sie haben keine Vorstellung davon, wie das Proletariat sich die Produktionsmittel aneignen soll. Tatsächlich sind ihre Aussagen zu Fragen des Privateigentums an Produktionsmitteln äußerst wirr. So behaupten sie, dass Gemeinschaftlichkeit heute höher zu bewerten sei, als zu jeder anderen Phase der Gesellschaft und das Privateigentum sei daher ein abstrakter und transzendenter Begriff, der sich immer mehr von der Realität entfernt. Damit unterstützen sie die Idee, Eigentum sei heute nicht mehr greifbar, weil es sich zum Beispiel über Aktienpakete verschiedener Firmen und Firmengruppen definiert. Nach Ansicht der Autoren befinden sich die Produktionsmittel schon in der Menge, werden nur nicht von ihr kontrolliert. Das ergibt sich aus der Idee, dass die immaterielle Produktion überwiegt und diese unter anderem aus Worten und Affekten bestehe. Hardts und Negris Schlussfolgerung: “Das Recht auf Wiederaneignung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion.” Das ist leider blanker Unsinn. Wie wir schon oben ausgeführt haben, ist der Großteil der Produktion von physischem Charakter und wird weiterhin in real existierenden Produktionsstätten, auf Transportmitteln und in Verwaltungen ausgeführt. Diese gehören real existierenden Kapitalisten. Und auch wenn die Kapitalisten oftmals versuchen, in der Anonymität zu verschwinden, ist Privateigentum doch nachvollziehbar. Winfried Wolf fasst in seinem Buch “Fusionsfieber” zusammen: ” Die Familie Ford kontrolliert heute weiterhin den Autokonzern Ford, die Familie N.I. du Pont de Nemours beherrscht den Chemiekonzern Du Pont und gilt weiter als Hauptaktionärin von General Motors. Die Familie Quandt kontrolliert den Autokonzern BMW. Bill Gates ist Alleinherrscher bei dem Software-Riesen Microsoft. Der Thyssen-Konzern wird weiter in erheblichem Maß von der Familie Claudio Graf Zichy-Thyssen beherrscht; der Henkel-Konzern ist völlig unter der Kontrolle der Familie Henkel. Otto Beisheim hat bei der Handelskette Metro das Kommando. Die Familie Albrecht kontrolliert die Aldi-Ketten. Leo Kirch beherrscht mit seinem Medienkonzern unter anderem Pro Sieben, Sat 1 und die Agentur ddp und übt auch maßgeblichen Einfluss auf den Springer-Konzern aus. Die schwedische Familie Wallenberg beherrschte 1999 noch den Nutzfahrzeughersteller Scania und den Flugzeughersteller Saab, den Elektronikkonzern Ericson und den Kugellagerhersteller SKF. Die Familie Agnelli hat bei Fiat (mit Alfa und Lancia) das Sagen. Der führende Reifenhersteller Europas, Michelin, und der größte französische Autokonzern, PSA Peugeot, werden von Familienimperien kontrolliert. (…) Die Familie Quandt beispielsweise liegt auf Platz 15 der Weltmilliardärsliste; ihr Vermögen wird auf 12,8 Milliarden US-Dollar taxiert. Bill Gates gilt danach weiter als der reichste Mann der Welt, obgleich sein Vermögen um ein Drittel auf nunmehr 60 Milliarden US-Dollar schrumpfte. Kirch belegt mit einem privaten Vermögen von 1,5 Milliarden US-Dollar Rang 19.”
Privateigentum an Produktionsmitteln ist also nicht abstrakt und transzendent, sondern ganz konkret und greifbar. Wenn die Masse der Menschheit sich die Produktionsmittel aneignen und diese sinnvoll und nicht in Konkurrenz gegeneinander produzieren soll, dann muss dafür die Forderung nach Überführung der Produktionsmittel in öffent­liches Eigentum bei einer demokratischen Kontrolle und Verwaltung derselben durch die arbeitende Bevölkerung und ihre Organisationen aufgestellt werden.

Ein Programm, bei dem der Kampf für seine volle Durchsetzung die Ketten des Kapitalismus sprengt und den Weg zu einer anderen Gesellschaft weist, müsste sicherlich die Forderungen nach vollen staatsbürgerlichen Rechten für alle Menschen, nach einer sozialen Mindestsicherung und nach der Überführung der großen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung enthalten. Aber auch noch viel mehr: die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich und durch öffentlich finanzierte Investitionsprogramme in Bereichen wie Bau, Gesundheit, Bildung, Verkehr, Umwelt; die drastische progressive Besteuerung von Gewinnen und Vermögen; die Ablehnung jeglicher Privatisierungsmaßnahmen; ein öffentliches und kostenloses Gesundheitswesen; ein öffentliches und kostenloses Bildungswesen, das allen Kindern und Jugendlichen eine gute Bildung vermittelt; die Rettung der Umwelt durch die Stilllegung von Atomkraftwerken, den Ausbau regenerativer Energieformen, den Stopp umweltzerstörender Produktion und so weiter; die Auflösung kapitalistischer Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO und einige weitere Forderungen (siehe dazu zum Beispiel das Wahlprogramm der SAV zur Bundestagswahl 2002 und die Spalte “Wofür wir kämpfen” auf der Rückseite der SAV-Zeitung “Solidarität”)

Zu diesen Fragen schweigen Hardt und Negri. Sie bieten kein Programm und keine Strategie für die wachsende Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung an. Im Gegenteil: liest man ihr Buch, muss man Zweifel an den eigenen Fähigkeiten zum Widerstand bekommen – oder es kopfschüttelnd beiseite legen. Was sonst soll man ma­chen, wenn man Passagen wie die folgende liest: „Denn der Wille dagegen zu sein, bedarf in Wahrheit eines Körpers, der vollkommen unfähig ist, sich einer Befehlsgewalt zu unterwerfen; eines Körpers, der unfähig ist, sich an familiäres Leben anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierungen des traditionellen Sexuallebens usw. (Sollten Sie bemerken, dass ihr Körper sich diesen ‘normalen’ Lebensweisen verweigert, so verzweifeln sie nicht – verwirklichen Sie ihre Gaben!). Doch der neue Körper muss nicht nur radikal ungeeignet für die Normalisierung sein, sondern auch in der Lage, ein neues Leben zu schaffen.”