Der Film Anora hat eine ganze Reihe von Preisen auf internationalen Filmfestivals gewonnen. Regisseur Sean Baker gelang es, sowohl die Goldene Palme der Filmfestspiele von Cannes als auch fünf Oscars zu gewinnen – und machte Anora damit zum vierten Film in der Geschichte, der mit den beiden wichtigsten Auszeichnungen des internationalen Kinos geehrt wurde.
Von Sascha Rakowski
“Ani”Anora Michéeva ist eine dreiundzwanzigjährige Stripperin und Tänzerin, die in einem Nachtclub in Manhattan arbeitet. Der Film beginnt mit Lapdance-Szenen, die durch eine monotone Routine unterbrochen werden: die Suche nach Kunden, der Tanz, das Trinkgeld, eine Zigarette, die nächste Kundensuche, wieder ein Tanz, wieder eine Zigarette – bis zum frühen Morgen, wenn Ani erschöpft in ihr kleines Zimmer in Brighton Beach zurückkehrt.
Der naive und unglaublich reiche Erbe eines russischen Oligarchen, Wanja, genießt das Leben in New York in vollen Zügen – befreit von seinen Eltern und der drohenden Arbeit im Management des Konzerns seines Vaters. Während einer seiner Partynächte landet er zufällig in dem Nachtclub, in dem Ani arbeitet. Ani, erschöpft von der Armut, ist nicht abgeneigt, sich mit gut bezahltem Escort auf der Villa des launischen, aber irgendwie sympathischenWanja etwas dazuzuverdienen. Irgendwann tritt die anfänglich geschäftliche Natur ihrer Beziehung in den Hintergrund – zwischen den beiden entsteht eine Art Nähe oder zumindest eine starke Illusion davon. Doch diese Verbindung, die für einen kurzen Moment die scheinbar unüberwindbaren sozialen Schranken überschreitet, ruft eine schnelle und harte Reaktion von Wanjas Familie hervor.
Diese kompromisslose soziale Tragikomödie knüpft an thematisch ähnliche erfolgreiche Filme an – Parasite (2019) und Das Spielzeug (1976) – und beleuchtet die Kollision zwischen Reichtum und Armut, die Reduzierung von Menschen auf Waren, Machtstrukturen und soziale Hierarchien.
In Anora sehen wir immer wieder die Konfrontation von sozialen Klassen, die sich normalerweise kaum berühren: die sozial und finanziell am Boden liegende Ani, der kräftige Problemlöser Igor, die schweigsame Putzfrau der Villa, Klara, der überloyale Manager Toros, die jungen Verkäufer Tom und Crystal aus dem Süßwarenladen auf Coney Island, der Koch im Restaurant – sie alle sind auf die eine oder andere Weise miteinander verbunden. Doch diese Verbindung ist einseitig: Sie alle kreisen um das Gravitationszentrum Wanja,den Millarsdärssohn. Wanja finanziert die Partys, den Alkohol, das Kokain, die Flüge nach Las Vegas und zurück, befreit von Alltagszwängen und Arbeit. Alle anderen Charaktere dienen direkt oder indirekt der Erfüllung von Wanjas Bedürfnissen – sie sind seine Angestellten, Kunden, Empfänger seines Geldes. Wer diesen Status vergisst, wird am Ende gnadenlos bestraft. Nicht, weil Wanja grausam wäre – im Gegenteil, er ist sanft, freundlich und eher willensschwach. Doch Macht, genau wie Kapital, fließt ausschließlich von oben nach unten, strukturiert und formt die gesamte Gesellschaft. Sobald der Geldfluss mit Wanja versiegt, verwandelt sich New York in eine graue, kalte, entfremdete und entfremdende Stadt.
Offiziell als Tragikomödie klassifiziert, ist dieser Film letztlich eher eine Tragödie. Die komischen Momente machen den Film vielmehr tiefgründiger, vielschichtiger und lebendiger. Dem Regisseur gelingt es, stereotype Darstellungen russischer Oligarchen, armenischer Mafiosi, osteuropäischer Einwanderer auf Brighton Beach und Stripperinnen zu vermeiden. Der Film hat einen dynamischen, pulsierenden Plot und ein offenes Ende. Die Figuren sind interessant und lösen echtes Mitgefühl aus. Sean Baker, der nicht offensichtlich politisch links ist, hat ein realistisches Gesellschaftsporträt geschaffen, das Millionen von Zuschauer*innen zum Nachdenken über die Stellung der Frau in der Gesellschaft, über soziale Hierarchien und die Klassengesellschaft bringt – eine Gesellschaft, in der Aschenputtel keine Chance hat, jemals Prinzessin zu werden.
Bild: Frank Sun