Die Aussagen von Friedrich Merz, der Migrant*innen als „Problem im Stadtbild” darstellt und junge Frauen als Kronzeuginnen dafür missbrauchen will, haben zu Empörung und Protesten geführt. Doch die Propaganda bleibt nicht ohne Wirkung. Merz verpasst realen Problemen eine rassistische Deutung. Die Union versucht damit erneut, die durch ihre Politik verursachten sozialen Probleme zur Spaltung der arbeitenden Menschen und der Armen zu nutzen.
Merz unterstellt, Ausreisepflichtige – faktisch nur 40.000 Menschen – würden das „Stadtbild” negativ bestimmen. Dies ließe sich mit noch mehr Ausweisungen und Abschiebungen verändern. Schon statistisch gesehen ist das Unsinn, und Merz weiß das. Es geht ihm um die Botschaft an seine Zielgruppe, für die es zweitrangig ist, ob die vermeintlich dominierenden, migrantisch aussehende Menschen hier geboren, eingebürgert, anerkannte Geflüchtete, Tourist*innen oder „ausreisepflichtig” sind. Bei diesen Menschen will Merz die Idee befördern, man könne das Land „deutscher” machen, oder, wie die AfD es formuliert, die „Remigration” einleiten. Von „Ausreisepflichtigen” ist offiziell die Rede, die Botschaft „ihr stört” geht jedoch an alle, die nicht wie „typische weiße Deutsche” aussehen.
Worte und Taten
Merz zielt darauf ab, Wähler*innen von der AfD zur Union zu holen. Das wird nicht funktionieren, denn er bedient damit das Narrativ der AfD. Deren Wähler*innen fühlen sich bestätigt, Nazi-Schläger werden ermutigt: jede Welle rassistischer Propaganda seitens der etablierten Parteien hat in den letzten Jahrzehnten zu einem Anstieg rassistischer Gewalt mit Verletzten und Toten geführt. Die „Asyldebatte” ab 1991 hat die Pogrome von Hoyerswerda und von Rostock-Lichtenhagen zur Folge gehabt sowie die Morde von Mölln und Solingen. Das Wiederaufflammen der Debatte im Jahr 2000 bildete den Hintergrund der NSU-Mordserie. Der Widerstand gegen die kurzfristige Grenzöffnung 2015 hat die Zahl der Anschläge auf Geflüchteten-Unterkünfte in die Höhe schnellen lassen.
Auch die Polizei will Kontrollen gegen migrantisch aussehende Menschen ausweiten. Die „Gewerkschaft” der Polizei (GdP) hat bereits mehr Kontrollen an Bahnhöfen und eine Aufstockung der Truppe gefordert. Mehr Polizei und mehr Kontrollen bedeuten mehr Racial Profiling, mehr Opfer von polizeilicher Gewalt, inklusive mehr Tote durch Polizeikugeln. Bürgerliche Politiker*innen wollen die Debatte zudem nutzen, um von der chinesischen Diktatur zu lernen und KI-gestützte Videoüberwachung im großen Stil einzuführen.
Rassistische Erzählung
Die Union und Merz vertreten nicht die gleiche Politik wie die AfD. Als Vertreter der Konzerne weiß Merz, dass es für das Kapital nützliche Migrant*innen gibt: „Der CDU-Politiker betonte einerseits, dass Deutschland auch in Zukunft Einwanderung vor allem für den Arbeitsmarkt brauche.” Das ist der Doppelcharakter der Union: Einerseits im Interesse der Konzerne kühl kalkulieren, dass Migration nötig ist, andererseits Wähler*innen fischen, indem an fremdenfeindliche Stimmungen angeknüpft wird.
Die Empörung nach Merz’ Aussagen war groß. Gut so. Allerdings reicht Empörung nicht. Das Gefährliche an seiner Methode ist, dass er reale Probleme benutzt, sie mit Ängsten verknüpft und ihnen so einen effektiven Spin gibt. Laut ZDF-Politbarometer stimmen 63% der Befragten Merz zu. Die Umfrage ist zwar nur begrenzt aussagekräftig, weil die Frage unklar und suggestiv gestellt war. Doch das passt zu Merz’ Methode, eher „gefühlte” Sorgen und Ängste aufzugreifen. Seine Andeutungen verfangen, obwohl nur ein Drittel in der Umfrage sagt, man fühle sich persönlich unsicher an öffentlichen Plätzen.
Sozialer Niedergang
Viele Innenstädte sind optisch in einem schlechten Zustand. Die soziale Spaltung wird in den Großstädten sichtbar. Die Zahl der Wohnungslosen ist gestiegen. Im öffentlichen Nahverkehr und auf den Straßen wird mehr gebettelt. Seit 2012 steigt die Zahl an Todesopfern durch illegale Drogen.
Die – begrenzt aussagekräftige – polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) weist einen Rückgang der Kriminalität während der Corona-Jahre, einen deutlichen Anstieg 2022 und 2023 und einen leichten Rückgang 2024 nach. Die PKS erfasst Tatverdächtige, nicht Verurteilungen. Angesichts der sozialen Spaltung des Landes, des völligen Versagens der Wohnungspolitik, des Anstiegs der Armut und den Fluchtbewegungen (ab 2015 v.a. aus Syrien und ab 2022 v.a. aus der Ukraine) ist der registrierte leichte Anstieg der Kriminalität erstaunlich gering. Die „gefühlte Kriminalität”, die von AfD, Union (samt FDP, SPD und Grünen), der Polizei-Lobby und den bürgerlichen Medien (von ARD und BILD bis WDR und Zeit) täglich verbreitet wird, ist von der Realität entkoppelt.
Sozialer Abstieg
Keines der im innerstädtischen Probleme hat ursächlich mit der Zuwanderung zu tun. Die neoliberalen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben den sozialen Wohnungsbau faktisch abgeschafft. Die Zahl der preisgebundenen Wohnungen ist von 2006 bis 2024 von rund 2 Millionen auf 1 Million gefallen. Teile der Jugend, ob deutsch oder migrantisch, sind in prekäre Jobs abgedrängt worden. Verstärkt durch die Corona-Pandemie sind die psychischen Erkrankungen angestiegen. Plätze für ambulante oder stationäre Psychotherapie wurden nicht entsprechend aufgebaut. Die kommenden Total-Sanktionen gegen Hartz-Betroffene werden weitere Menschen in die Obdachlosigkeit treiben und zum Betteln oder zur Kleinkriminalität zwingen.
Das „Stadtbild” leidet unter der Sozial-, Gesundheits- und Wohnungspolitik aller bürgerlichen Parteien auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, unter Einsparungen bei der Straßenreinigung und Müllbeseitigung, unter dem Abbau von nicht-kommerziellen Freizeit-Angeboten und dem zögerlichen Ausbau einer effektiven Hilfe für Drogenkonsument*innen.
Mit der nachgeschobenen Bemerkungen „fragen Sie Ihre Töchter” hat Merz der Debatte die nächste Aufladung verpasst. Seine Botschaft: die Migrant*innen versauen nicht nur optisch das Stadtbild, sie sind auch eine Belästigung oder gar Gefahr für das Wertvollste und Verletzlichste, was wir haben: unsere Töchter.
Auch damit nutzt er reale Probleme und gibt ihnen einen rassistischen Dreh. Viele Frauen fühlen sich in der Öffentlichkeit zu Recht nicht wohl – dumme Anmachen, Typen, die bewusst im Weg rumstehen, „Catcalling“, Übergriffe. Gruppen von männlichen Jugendlichen sind oft übel, v.a., wenn sie Langeweile haben und frustriert sind. Auf dem Land und im Osten sind das fast ausschließlich Deutsche, in den Großstädten natürlich auch Migrant*innen.
Echte Gefahren für Töchter
In den Großstädten sind auch oft 50% „der Töchter” migrantisch. Sie haben einen deutschen Pass oder einen legalen Aufenthaltsstatus oder sie sind „ausreisepflichtig” – und sind genauso von patriarchaler Übergriffigkeit bedroht wie andere Frauen.
Doch so belastend auf der Straße ist – Töchter, Partnerinnen, Mütter, Freundinnen werden nicht in erster Linie im öffentlichen Raum bedroht, sondern im eigenen Haus. 2023 gab es 360 Femizide. Täter waren zu 80% Partner, Ex-Partner und Verwandte, überwiegend deutsch, sowohl in armen Familien, bei Normalverdiener*innen sowie bei den Gebildeten und Reichen. Sexualisierte Gewalt steigt seit Jahren, allein von 2022 auf 2023 um 6%.
Während Merz schwurbelte, wir sollten die Töchter fragen, wurde die Immunität des CDU-Abgeordneten Tilman Kuban aufgehoben – wegen strafrechtlichen Vorwürfen im Rahmen der Trennung von seiner Partnerin, mutmaßlich häusliche Gewalt. Hinter deren Ruf, dass „unsere Mädchen” vor Migrant*innen gerettet werden müssten, steht letztlich die Botschaft „weil wir ihnen selber zeigen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist”.
Alternativen für ein besseres „Stadtbild”:
- Schluss mit Kultur- und Sozialkürzungen: Stattdessen Ausbau von nichtkommerziellen Treffpunkten, Freizeitangeboten und therapeutischen Angeboten für Suchtkranke.
- Feminismus statt Merz-Rassismus: Ausbau von Frauenhäusern und Programmen zum Schutz vor häuslicher Gewalt, Ausbau von Nahverkehrs- und im Nahverkehr integrierten Taxi-Angeboten, Beseitigung von Angsträumen durch z.B. bessere Straßenbeleuchtung.
- Bezahlbaren Wohnraum schaffen: Mietenstopp, Enteignung der Immobilienkonzerne und Wohnungsbau durch Staat und Genossenschaften

