Türkisches und iranisches Regime greifen die Kurd*innen an: In Rojava droht ein neuer Krieg

Eine neue große Landoperation der türkischen Armee gegen Rojava – die de facto autonome und überwiegend kurdische Region im Norden Syriens – könnte unmittelbar bevorstehen. Der im Niedergang begriffene Diktator und Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der von einer wachsenden Opposition und einer Wirtschaftskrise im eigenen Land geplagt wird, sucht nach militärischen Erfolgen im Ausland. Seit November hat die türkische Armee bereits umfangreiche Luftangriffe und Granatenbeschuss in Rojava sowie in Südkurdistan (der kurdischen Region im Nordirak) durchgeführt, bei denen Dutzende von Menschen ums Leben kamen.

Von Serge Jordan, International Socialist Alternative (ISA)

Anfang Dezember forderte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar die USA auf, „Verständnis“ für eine mögliche neue Militäroffensive in Nordsyrien zu zeigen, kurz nachdem US-Beamte ihren „starken Widerstand“ gegen ein solches Vorgehen zum Ausdruck gebracht hatten. Diese Opposition ist jedoch weitgehend rhetorisch, da sie mit Erklärungen verbunden ist, die klarstellen, dass die Türkei das „Recht hat, sich selbst zu verteidigen“. Bei einem zweitägigen Besuch in Ankara erklärte auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, dass die deutsche Regierung im Kampf gegen den Terrorismus „an der Seite der Türkei“ stehe, auch wenn dies mit der Aufforderung verbunden war, „verhältnismäßig“ zu sein.

Wenn es hart auf hart kommt, brauchen diese Mächte die Türkei an ihrer Seite, in erster Linie für ihr Projekt der NATO-Erweiterung durch die neuen Möchtegern-Mitglieder Finnland und Schweden, und sie werden nicht zulassen, dass kurdisches Blut ihnen im Weg steht. Die Verschiebung der geopolitischen Prioritäten der wichtigsten imperialistischen Mächte aufgrund des „Neuen Kalten Krieges“ sowie der Hebel, den die Türkei derzeit in der Hand hat, um zwischen beiden Seiten zu manövrieren, schaffen ein Zeitfenster, das Erdoğan nutzen möchte.

Krieg als Ablenkung

Erdoğan droht schon seit Monaten mit einer neuen Bodeninvasion in Rojava. Nach einer Bombenexplosion in einer Einkaufsstraße in Istanbul, bei der am 13. November sechs Menschen getötet wurden, sind diese Drohungen offener geworden, und entlang der Grenze wurde eine noch nie dagewesene türkische Verstärkung zusammengezogen. Das türkische Regime machte sofort die PKK (Arbeiter*innenpartei Kurdistans) und ihre syrische Schwestergruppe PYD (Partei der Demokratischen Union, der politische Zweig der YPG/YPJ) für den Anschlag verantwortlich, obwohl beide jede Beteiligung abstreiten. Seitdem hat die türkische Armee mit einer tödlichen Mischung aus Luft- und Artillerieangriffen kurdische Stellungen in ganz Nordsyrien und Irak unter Beschuss genommen.

Erdoğans Regime hat bereits drei grenzüberschreitende Offensiven gegen kurdische Kräfte in Nordsyrien durchgeführt – in den Jahren 2016, 2018 und 2019 – und dabei große Teile von Rojava erobert, darunter den strategischen Bezirk Afrin im Nordwesten (in dem das türkische Militär nun als Schiedsrichter zwischen konkurrierenden islamistischen und dschihadistischen Milizen agiert, die es gefördert hat) und einen Streifen entlang der Grenze, der wichtige landwirtschaftliche Flächen umfasst.

Ein anderes, unmittelbareres Motiv treibt den türkischen Präsidenten an: Er will versuchen, seine Herrschaft zu verlängern und von den tiefen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen abzulenken, mit denen er in der Türkei selbst konfrontiert ist, und zwar im Hinblick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023. Die offizielle Inflationsrate der Türkei liegt bei über 80 % und ist damit die vierthöchste in der Welt, während nach einer neuen Studie der Verbraucherschutzvereinigung des Landes mehr als 76,5 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben – das entspricht mehr als 90 % der türkischen Bevölkerung. Diese brisanten sozialen Bedingungen haben im vergangenen Jahr zu mehreren Streikwellen und einem stetigen Rückgang der Unterstützung für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geführt, die nun einen historischen Tiefstand erreicht hat.

Ein neuer Krieg könnte der Auftakt zu einem gesetzlichen Verbot der linksgerichteten und pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) sein, die trotz schwerer Repressionen (ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş sitzt seit 2016 im Gefängnis) immer noch eine große Basis in der kurdischen Bevölkerung hat. Ein solcher Schritt könnte der Regierungspartei im Erfolgsfall einen Wahlvorteil verschaffen.

Iranische Revolution

Der Zeitpunkt dieser neuen türkischen Militärkampagne, die im Gefolge des äußerst wirkungsvollen revolutionären Aufstandes im Iran stattfindet, ist ebenfalls kein Zufall. Die kurdischen Massen haben in diesem Kampf eine führende Rolle gespielt und waren ein ermutigendes Leuchtfeuer für die Kurd*innen in der Türkei, im Irak und in Syrien sowie für die Arbeiter*innenklasse der Region insgesamt, sich gegen repressive Herrschaft und bittere Armut zu erheben. Für die türkische herrschende Elite bedeutet dieser Faktor einen zusätzlichen Drang, den Kurd*innen eine „Lektion“ zu erteilen und die Spaltung zu schüren.

Es muss eine Massenopposition aufgebaut werden, um Erdoğans Kriegsmaschinerie und sein erneutes Abschlachten der kurdischen Bevölkerung zu stoppen, unter anderem durch die demokratisch organisierte und multiethnische bewaffnete Selbstverteidigung von Rojava durch seine Bevölkerung gegen jegliche Aggression der türkischen Armee oder ihrer dschihadistischen Stellvertreter-Fußsoldaten.

Um dies effektiv zu tun, darf man sich jedoch keine Illusionen über die Lobbyarbeit der imperialistischen Mächte machen, die dem kurdischen Volk schon so oft in den Rücken gefallen sind, dass man sich nicht an jedes einzelne Mal erinnern kann. Die Forderung nach einer „stärkeren“ Botschaft der USA, um einen türkischen Angriff zu stoppen, wie sie einige SDF- und PYD-Führer derzeit erheben – obwohl die türkische Armee bereits mehrmals in das Gebiet von Rojava einmarschiert ist, ohne dass die USA einen Finger gerührt hätten – wird den Weg für weitere Enttäuschungen, Verrat, Isolation und Niederlagen ebnen. Solche Appelle an den Imperialismus und die Verbreitung von Illusionen über die Unterstützung Washingtons sind zudem ein gefundenes Fressen für die Propagandamaschine von Regimen wie der iranischen Theokratie, die sich hinter einem antiimperialistischen Deckmantel verstecken, um ihre eigene blutige Unterdrückung der kurdischen Bewegung zu rechtfertigen.

Der revolutionäre Aufstand, der die iranischen Mullahs seit über vier Monaten erschüttert und bei dem kurdische Frauen, Jugendliche und Arbeiter*innen eine treibende Kraft waren, ist ein inspirierendes Beispiel für die Art von Kampf, der, wenn er politisch organisiert ist, Erdoğans Regime schließlich besiegen könnte, und für die Verbündeten, die die Kurd*innen von Rojava wirklich brauchen – um dem bevorstehenden Angriff zu widerstehen, aber auch, um ihre Bestrebungen nach Selbstverwaltung, echter Demokratie, Frieden, Frauenbefreiung und sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen. Wenn sie sich mutig für ein wirklich demokratisches sozialistisches Programm einsetzen, bei dem die wichtigsten Ressourcen der Region unter die Kontrolle von Arbeiter*innen und armen Bäuer*innen gestellt werden, und wenn sie auf dieser Grundlage bewusst an die Massen der Region appellieren, würden die Menschen in Rojava die Sympathie für ihren Kampf stärken und die Unterstützung für den Krieg innerhalb der Türkei selbst untergraben, auch unter den vielen armen, wehrpflichtigen türkischen Soldaten, die kein Interesse daran haben, ihn zu führen.

Erneute Angriffe

Das iranische Regime hat in den letzten Monaten zahlreiche Luftangriffe auf kurdische Gebiete im Nordirak geflogen und versucht, sein eigenes Narrativ der „ausländischen Einmischung“ in die Massenproteste, die seine Herrschaft erschüttern, zu verbreiten.

Mehr als ein Viertel der Demonstrierenden, die bis Anfang Dezember bei der Unterdrückung der revolutionären Bewegung im Iran getötet wurden, stammen aus der kurdischen Gemeinschaft. In der Provinz Kurdistan (oder Ostkurdistan), dem Epizentrum des Aufstands, gehen das so genannte Korps der Islamischen Revolutionsgarden, die paramilitärischen Basiji, die Polizei und das Militär mit Gewalt gegen die lokale Bevölkerung vor und verwandeln die kurdischen Städte in kriegsähnliche Gebiete. Die regimetreue Propaganda beschreibt das Gebiet als ein Nest von Sympathisanten „separatistischer Gruppen“. Die iranische Diktatur will an den Kurd*innen ein blutiges Exempel statuieren und dadurch die Massen in anderen Teilen des Irans einschüchtern; sie hofft aber auch, den Massenkampf in eine bewaffnete ethnische Konfrontation abgleiten zu lassen, um die revolutionäre Bewegung zu spalten und das iranische Volk von der Straße zu drängen.

An der Spitze der zweitgrößten Armee des Bündnisses und in einer geostrategisch sehr wichtigen Region gelegen, nutzt der türkische Präsident seine Position aus, um in Zeiten der versuchten NATO-Erweiterung durch Erpressung Zugeständnisse zu erlangen. In diesem Zusammenhang verhalten sich andere NATO-Staaten mit einer bedeutenden kurdischen Diaspora zunehmend wie kriminelle Komplizen des türkischen Staates, indem sie gegen kurdische Aktivisten in ihrem eigenen Land vorgehen.

In Schweden, das an die Tür der NATO klopft und gerade eine neue rechtsgerichtete Regierung bekommen hat, kommt dieser Prozess am deutlichsten zum Ausdruck. Schweden hat die Anti-Terror-Gesetze verschärft, das Waffenembargo gegen die Türkei aufgehoben und die Abschiebung von Kurden beschleunigt, nachdem die türkische Regierung dies ausdrücklich gefordert hatte.

Die Arbeiter*innenklasse und die jungen Menschen in diesen Ländern haben einen gemeinsamen Feind mit dem kurdischen Volk: ihre eigenen kapitalistischen Regierungen, die der türkischen Diktatur zuarbeiten, den Lebensstandard der Mehrheit in ihren Heimatländern untergraben und militaristische Bestrebungen fördern, die durch erneute Sparmaßnahmen bezahlt werden sollen. Deshalb sollten linke, gewerkschaftliche und Arbeiter*innenorganisationen auf internationaler Ebene den Kampf des kurdischen Volkes für sein Existenzrecht und die demokratische Entscheidung über seine eigene Zukunft aktiv unterstützen, sich allen antidemokratischen und rassistischen Angriffen auf die kurdische Gemeinschaft widersetzen, sich allen Bestrebungen für weitere imperialistische Kriege und die NATO-Erweiterung widersetzen und Solidarität mit dem heldenhaften Kampf der iranischen Massen entwickeln.

Stoppt den Krieg des türkischen und iranischen Staates gegen die Bevölkerung in allen Teilen Kurdistans – türkische Truppen sofort aus Nordsyrien abziehen

Internationale Solidarität mit dem Widerstand der Kurd*innen in Rojava, mit der revolutionären Bewegung im Iran und mit allen Arbeiter*innen, Jugendlichen und unterdrückten Völkern, die in der gesamten Region kämpfen

Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung in jedem Teil Kurdistans – alle Kurd*innen müssen frei sein, eine demokratische Entscheidung über den Charakter des Staates zu treffen, in dem sie leben wollen – Verteidigung gleicher politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte für alle Minderheiten und unterdrückten Gruppen

Wiederherstellung aller demokratischen Rechte und Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei und im Iran

Kein Waffenhandel mit Erdoğans Kriegsmaschinerie

Für ein gemeinsames Vorgehen der kurdischen und türkischen Organisationen arbeitender Menschen gegen den Krieg und die Lebenshaltungskostenkrise

Nein zur NATO und zu einem neuen Wettrüsten

Stoppt die Abschiebung kurdischer Aktivist*innen aus Europa, verteidigt das Recht auf Asyl

Nieder mit dem Erdoğan-Regime, nieder mit den Mullahs und mit allen unterdrückerischen und ausbeuterischen Regimen der Region

Für eine freiwillige, demokratische und sozialistische Konföderation des Nahen Ostens

Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung. Das ungekürzte englische Original findet sich auf internationalsocialist.net