Bonaparte auf dem Rückzug

Am 9. November 2022 bestätigte General „Armageddon“ Surowikin, Oberbefehlshaber der russischen Militärgruppierung, die Gerüchte über die geplante Aufgabe von Cherson, als er in seinem Bericht an den Verteidigungsminister Schoigu vorschlug, die Truppen auf das sichere linke Ufer des Dnjepr zurückzuziehen. Am Morgen des 11. November waren die russischen Truppen vollständig aus Cherson abgezogen, noch am gleichen Abend zogen mobile ukrainische Einheiten kampflos in die Stadt ein. Die eidesstattlichen Versicherungen der russischen Behörden, dass Cherson für immer zu Russland gehöre, endete in der “ehrenlosen” Flucht der russischen Armeeeinheiten und seiner Kollaborateur*innen über den Dnjepr.

von Sascha Rakowski

Diese Nachricht war für die Russ*innen und insbesondere für die allmählich schrumpfende Minderheit der Kriegsbegeisterten in Russland ein tiefer Schock. Nur einen Monat zuvor war in der Region Cherson ein Referendum abgehalten worden, welches die Angliederung von Cherson an Russland besiegelte. Russische Pässe wurden an die Bevölkerung ausgegeben. Die Propagandisten des Kremls hatten wochenlang die errichteten Verteidigungslinien angepriesen und einen Aderlass der ukrainischen Truppen gefordert. Doch statt einer “heldenhaften Verteidigung” oder gar einer Offensive, verloren die russischen Truppen kampflos ihre bis dato größte Errungenschaft in diesem Krieg.

Es ist nicht das erste Mal, dass die TV-Kriegsprediger*innen auf den Ruf aus dem hohen Turm im Kreml hin ihre Position abrupt ändern mussten. Sogar russische Nationalist*innen haben begonnen, die ukrainische Armee zu loben, wobei ein Führer der rechtspopulistischen Partei “Gerechtes Russland”, Prilepin, Präsident Selenski mit Komplimenten überschüttete und erklärte, die Ukrainer*innen kämpften so gut, weil sie eigentlich Russ*innen seien. Russische Nationalist*innen wissen gut, was kulturelle Aneignung ist.

Was ist also passiert?

In den Wochen zuvor hatten ukrainische Truppen wiederholt versucht, russische Stellungen im Süden der Ukraine zu stürmen. Spannungsreiche, zähe Kämpfe, an denen zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und Flugzeuge beteiligt waren, haben auf beiden Seiten viele Tausende Tote und Verwundete gefordert. Die Achillesferse der russischen Armee war die Logistik, die auf einer 100 Kilometer langen Front an zwei Brücken über den Dnjepr gebunden war: die Antonow-Brücke und die Brücke über den Kachowka-Stausee. Beide Brücken standen unter ständigem Beschuss durch ukrainische Langstreckenartillerie. Noch beängstigender für die russische Streitmacht war das Risiko, dass die 30.000 russischen Soldat*innen eventuell von 80 000 Ukrainer*innen eingekesselt werden könnten, wenn die Brücken zerstört würden. Die Manövererfolge der ukrainischen Armee in der Region Charkiw haben den russischen Generälen und dem Staatsapparat einen gehörigen Schrecken eingejagt. Obwohl es ihnen im Charkiw-Gebiet gelang, schwere Verluste zu vermeiden, konnten die Berichte und Videos von russischen Soldat*innen, die sich zurück zogen und dabei militärisches Material zurück ließen, nicht verborgen werden.

Die systemischen Probleme der russischen Armee

Der russische Geheimdienst und Generäle unterschätzten die Mobilisierung der Ukrainer*innen und das Erscheinen von Hunderttausenden neuer Soldaten an der Front. Der Versuch, das größte Land Europas durch einen Überraschungsangriff mit 200.000 Mann zu erobern, scheiterte. Die Generäle und Geheimdienstler*innen schrieben weiterhin Siegesberichte an seine Majestät Wladimir Bonaparte Putin, da sie fürchteten, ihre Epauletten und Privilegien zu verlieren. Im Frühsommer stand die russische Armee einer motivierten ukrainischen Armee von einer halben Million gegenüber. Im Herbst hatte die Zahl der ukrainischen Kombattant*innen bereits eine Million erreicht. Die Waffenlieferungen der NATO glichen die in den Kämpfen verlorenen ukrainischen Kriegsgeräte aus. Plötzlich verwandelte sich die „militärische Spezialoperation“ in einen blutigen Sumpf ohne Ausweg.

Aus politischen Gründen und vor allem aus Angst vor Protesten hat die Regierung Putins bis dato von einer Generalmobilmachung abgesehen. Der Einsatz der jungen wehrpflichtigen Soldaten*innen in dem Krieg würde eine sofortige Protestwelle auslösen. Die Freiwilligen und Söldner*innen-Bataillone konnten die Verluste der Armee aber nicht ausgleichen. Und die Verluste in diesem hochmechanisierten modernen Krieg sind immens. Der oberste Militärberater von Präsident Joe Biden und Chef der Generalstabschefs, General Mark Milley, erklärte, die russische und die ukrainische Armee hätten jeweils 100.000 Gefallene, Verwundete und Kranke zu verzeichnen. Auf Grundlage dieser Zahlen wurde die russische Invasionsarmee um ein Drittel, die ukrainische Armee um rund 10 % reduziert.

Das Paradoxe ist, dass Russland formell viermal mehr Truppen mobilisieren kann als die Ukraine. Aber ganz formell führt Russland laut Putin immer noch keinen Krieg. Die Durchführung einer Massenmobilisierung bedroht Putins Regime mit einer drastischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und einer massiven Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Selbst die begrenzte Mobilisierung in den letzten Wochen hat zu einer Welle von Antikriegsdemonstrationen in den betroffenen Regionen und mindestens drei Ausschreitungen der mobilisierten russischen Soldat*innen geführt. Die genaue Zahl der Menschen im Mobilisierungsalter, die aus Russland geflüchtet sind, ist nicht bekannt. Nach Schätzungen könnten es 300.000 bis 400.000 sein. Die Auswirkungen dieser Emigration auf die russische Wirtschaft sind nicht bekannt, aber das Bruttoinlandsprodukt Georgiens ist in diesem Jahr dank der russischen Immigration um einen Rekordwert von 10 % gestiegen.

Nach dem Verlust von Cherson beschlossen Putin und sein Gefolge, die Risiken zu minimieren: Angesichts der negativen Wahrnehmung der Mobilisierung durch die russische Bevölkerung konnten sie nicht das geringste Risiko hoher Verluste und einer möglichen Gefangennahme russischer Soldaten eingehen. Für Putin geht es jetzt darum, die Krise zu stabilisieren, die aus der Niederlage der russischen Armee in Charkiw und Cherson resultiert. Er und der russische Generalstab hoffen, die Situation mit der Ankunft von 300.000 mobilisierten Soldaten an der Front zu ändern. Aber es braucht Zeit, mindestens 2-3 Monate und Ressourcen, um aus dieser Masse von Menschen tragfähige, militärische Formationen zu machen.

In dieser Zeit wird die ukrainische Armee versuchen, ihren doppelten Vorteil der Stärke und des Besitzes der Initiative auszunutzen. Höchstwahrscheinlich wird es in der nächsten Woche zu einem Offensivversuch der ukrainischen Armee in der Region Saporischschja – dem Gebiet zwischen Cherson und Donezk – kommen. Wenn es Putin gelingt, die Front zu halten, wird die russische Armee bis zum Frühjahr einen zahlenmäßigen Vorteil erlangen. Wenn es der ukrainischen Armee gelingt, die Landbrücke zur Krim zu kappen, könnten sich die Schlachten bald auf die Halbinsel selbst stattfinden.

Rolle der NATO

Die Dynamik der militärischen Operationen wird jedoch direkt von den militärischen Lieferungen der NATO und der finanziellen Unterstützung durch die USA und die EU bestimmt. Tatsächlich hat die ukrainische Armee nicht nur sowjetisch produziertes militärisches Material und Waffen aus ihren eigenen Beständen, sondern auch aus ganz Mitteleuropa verbraucht. Aufgrund der Schwächung ihrer eigenen militärischen Produktion, ist die Ukraine auf Lieferungen von Patronen, Gewehren, Militärelektronik, Panzerhaubitzen, Panzern, Fahrzeugen, Elektrogeneratoren, Decken und sogar Winteruniformen aus Europa und Nordamerika angewiesen. Eine noch größere Rolle spielen die US-Satellitenaufklärung und die ständige Luftraumüberwachung durch AWACS-Flugzeuge, die zusammen mit der ukrainischen Luftabwehr die russische Luftwaffe lähmen. Die Kommunikation der ukrainischen Truppen basiert auf dem System Starlink von Elon Musk. Auch finanziell ist die Ukraine auf westliche Hilfe angewiesen. Der ukrainische Haushalt benötigt jährlich etwa 40 Milliarden Euro an Finanzhilfen, um zu überleben und Staatsapparat am Laufen zu halten.

In vielerlei Hinsicht kann die NATO die Intensität des Konflikts regulieren. Die Lieferung von Marschflugkörpern mit großer Reichweite könnte den Beschuss der Krim-Brücke ermöglichen, von der die Versorgung der Halbinsel Krim mit Lebensmitteln und Militärgütern abhängt. Verstärkte Lieferungen an die Ukraine könnten zu einer größeren Waffenkonzentration als bei der russischen Armee führen. Die weitere Lieferung von Luftabwehrsystemen könnte die russischen Drohnen- und Flugzeugangriffe massiv reduzieren.

Putins Kriegsmaschinerie könnte mit mehr Einheiten an der Front und weiteren Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur reagieren. Gezielte Angriffe in den letzten Wochen haben die Industrieproduktion und die Stromverteilung zum Erliegen gebracht. Ein Großteil der ukrainischen Städte wird stundenlang in Dunkelheit getaucht. Dass bei diesen gezielten Angriffen die Wasserversorgung, Krankenhäuser und die Zentralheizung ohne Strom sind, stört die russischen Generäle nicht sonderlich. A la guerre comme à la guerre (etwa: Im Krieg sind alle Mittel erlaubt). Putin und seine staatsoligarchische Kamarilla wollen die Kosten des Krieges nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ihre Verbündeten im Westen in die Höhe treiben. Nur so hofft er, nicht nur an der Macht zu bleiben, sondern auch mit minimalen Verlusten und vielleicht sogar mit einem kleinen Gewinn aus der ukrainischen Falle herauszukommen. Wenn er nicht die ganze Ukraine erobern kann, wäre er bereit, sich mit einer Landbrücke zur Krim zufrieden zu geben. Ein Pyrrhussieg ist ein Sieg, zumal er ausschließlich auf Kosten der Arbeiter*innenklasse errungen wird.

Russland steht so oder so vor weiteren Mobilisierungswellen, einer Militarisierung der Wirtschaft, einem starken Anstieg der Kriegsausgaben und einer Verschlechterung des Lebensstandards. Eine Politisierung der Bevölkerung, verstärkte Proteste, eine vermehrte Ablehnung des Krieges und eine Zunahme der Streiks sind unvermeidlich. Die Niederlagen alarmieren die Russen*innen, zerstören das Bild eines weisen, fehlerfreien Präsidenten und kompetenten Staatsbeamten. Der Flucht einiger Oligarchen und die Bereicherung der anderen Superreichen an diesem fürchterlichen Krieg zerstört den fragilen auf Kompromissen und Polizeiapparat gestützten sozialen Frieden. Die russische Arbeiter*innenklasse, die von Putins Führungsriege in die die Rolle eines Rammbocks zur Verwirklichung ihrer imperialistischen Ambitionen gezwungen wird, könnte ihre Rolle dramatisch verändern. Der Gaul der russischen Arbeiter*innenklasse, sprich 99% der Bevölkerung, könnte den Gendarmen Osteuropas zu Boden werfen. Und dieser Fall könnte für Einige der letzte sein. Nur eine Revolution in Russland kann langfristig und nachhaltig das Recht der Ukrainer*innen auf Selbstbestimmung schützen und jegliche revanchistischen imperialistischen Pläne der russischen herrschenden Klasse ein Ende setzen.

Bild: Rr016, CC BY-SA 4.0