Krieg in der Ukraine – Sechs Fragen und sechs sozialistische Antworten

Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat bereits Hunderte von Toten gefordert und Hunderttausende in die Flucht getrieben. Die schwedische Regierung antwortet, indem sie Waffen schickt und sich noch tiefer in die Arme der NATO begibt. Was sagen Sozialist*innen dazu?

Wir veröffentlichen hier eine leicht gekürzte Fassung des Leitartikels der Wochenzeitung „Offensiv“ von Per-Åke Westerlund, Rättvisepartiet Socialisterna (ISA in Schweden). 

Schwedische Fassung und englische Fassung (beide online veröffentlicht am 2. März)

Die EU stellt der ukrainischen Regierung 450 Millionen Euro für den Kauf von Waffen zur Verfügung. Eine Reihe anderer Regierungen, darunter Schweden, versprechen Waffen und militärische Ausrüstung. Das bedeutet, dass Schweden zum ersten Mal seit 1939 Waffen in einen Krieg schickt.

Vertreter vom linken Flügel der Sozialdemokraten [in Schweden] bringen die Idee eines möglichen NATO-Beitritts Schwedens, wie auch Finnlands, ins Spiel. Die Veränderungen finden im Hauruck-Verfahren statt, als gigantische „Schockdoktrin“ – ein einschneidendes Ereignis wird genutzt, um einen drastischen Politikwechsel im Interesse des Kapitals durchzusetzen. Die Linke, die Arbeiter*innenbewegung und alle, die gegen den Krieg sind, brauchen eine demokratische Diskussion über diese Fragen.

Was kann Kriege stoppen?

Die russische Invasion ist nicht so glatt gelaufen, wie Putin gehofft hatte. In der Ukraine gibt es massiven Widerstand, einschließlich lokaler Verteidigungsgruppen. In Russland haben die Demonstrationen gegen den Krieg zugenommen. In Berlin versammelten sich bis zu einer halben Million Menschen gegen den Krieg.

Die Priorität der internationalen Arbeiter*innen- und Antikriegsbewegung sowie der Linken überall ist es, der ukrainischen Bevölkerung humanitäre Hilfe zu leisten und den Widerstand in Russland maximal zu unterstützen. Die Unzufriedenheit mit Putins Regime war schon vor dem Krieg weit verbreitet. Kriege und kriegerische Handlungen wurden in der Vergangenheit durch Massenbewegungen, Revolten und Revolutionen gestoppt, vom Kampf der Gewerkschaften 1905, der den Krieg [Schwedens] mit Norwegen stoppte, über die russische Revolution von 1917, die zum Ende des Ersten Weltkriegs führte, bis hin zum Rückzug der USA aus Vietnam, bei dem der Widerstand gegen den Krieg in den Vereinigten Staaten ausschlaggebend wurde.

Was hat zum Krieg geführt?

Wladimir Putin ist ein rücksichtsloser Despot, der bereit ist, jede Opposition zu zerschlagen und seinen Machtbereich auf die Ukraine, Belarus, andere Nachbarländer und Kriegsgebiete wie Syrien auszudehnen. Putins Regime ist das Ergebnis von Jahrzehnten, in denen das globale Kapital ungehindert Amok gelaufen ist. Das stalinistische System ist zusammengebrochen und wurde durch die Herrschaft kapitalistischer Oligarch*innen ersetzt. Eine Zeit lang schienen Putin und der Westen zu kooperieren. Für die Menschen in der ehemaligen Sowjetunion bedeutete dies eine drastische Senkung des Lebensstandards, einschließlich einer kürzeren Lebenserwartung.

Gleichzeitig wurden neue imperialistische Widersprüche aufgebaut. Es handelt sich um einen globalen Machtkampf – Kämpfe um strategische Gebiete, Ressourcen und Wirtschaftsräume, was heute als Geopolitik bezeichnet wird. Die heutige Welt wird politisch und militärisch zunehmend durch den neuen Kalten Krieg zwischen dem US-Imperialismus und dem chinesischen Imperialismus beherrscht. Putin rechnete damit, dass die relative Schwächung des US-Imperialismus nach Irak, Afghanistan, der Finanzkrise und dem neuen Kalten Krieg, ihm Raum geben würde, wie es in Syrien der Fall war. Aber der Krieg hat sich nicht so entwickelt, wie er dachte, und der Westen hat härter reagiert. Daher intensiviert sich sein Feldzug.

Die Hauptopfer des Krieges sind die Menschen in der Ukraine, während die Verantwortung bei dem globalen kapitalistischen System liegt, das Putin und die sich verschärfenden imperialistischen Widersprüche hervorgebracht hat.

Hat die NATO ihren Charakter geändert?

Die NATO ist das Kriegsbündnis, das 1999 über 70 Tage lang die Bevölkerung der serbischen Hauptstadt Belgrad bombardiert hat, das 2011 auch Libyen bombardiert hat und das ab 2015 den Krieg in Afghanistan geführt hat. Diese kriegerischen Handlungen wurden hinter Phrasen über Demokratie und „nation building“ versteckt (auch wenn die Bombardierung Belgrads nicht von der UNO unterstützt wurde). Aber genau wie im Irak haben die Bombardierungen nicht den Weg für demokratische Rechte geebnet. Das Ergebnis ist am deutlichsten in Afghanistan zu sehen, wo die Taliban an der Macht sind und die Bevölkerung hungert. In Libyen führte der Bombenkrieg der NATO mit schwedischer Beteiligung zur Niederschlagung des Volksaufstandes.

Die NATO treibt das weltweite militärische Wettrüsten voran, wobei die Militärausgaben überall drastisch erhöht werden. Die NATO wird vom US-Imperialismus geführt und handelt in dessen Interesse. Die Opposition gegen die NATO wurde während einer langen faktenbasierten Debatte in der schwedischen Arbeiter*innenbewegung und Gesellschaft formuliert. Sozialist*innen müssen heute sowohl gegen Putins Krieg kämpfen als auch weiterhin gegen die NATO sein.

Werden Waffenlieferungen Frieden und Freiheit bringen?

In den letzten 12 Monaten haben die Vereinigten Staaten Waffen im Wert von einer Milliarde Dollar an die Ukraine geliefert. Jetzt gibt es Drohnen aus Erdoğans Türkei, Raketen aus Deutschland und Schutzwesten vom schwedischen Militär. Das schwedische Militär hat bereits ukrainische Soldat*innen ausgebildet. Das finnische Parlament und das dänische Parlament haben einstimmig beschlossen, Waffen zu schicken.

Dass Regierungen jetzt Waffen in die Ukraine schicken, geschieht nicht aus humanitären Gründen. Dass nicht Humanität das Motiv der westlichen Mächte ist, hat sich auch in Afghanistan deutlich gezeigt. Mehr als 20 Jahre lang wurden dort militärische Operationen priorisiert, mit verheerenden Folgen.

Die Waffen, die jetzt geschickt werden, können möglicherweise den russischen Angriff verlangsamen, aber nur wenige glauben, dass sie den Krieg entscheiden können; es sind vielmehr eine Revolte gegen den Krieg zu Hause in Russland, Massenproteste auf internationaler Ebene und eine weltweite Blockade durch Beschäftigte gegen Putins Kriegsmaschinerie, die die größte Wirkung haben können.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Westmächte Luftstreitkräfte und Soldaten einsetzen werden, was einen großen Krieg nach sich ziehen würde. Aber der Druck für eine Eskalation der Maßnahmen wird wachsen. Im Krieg geht es auch darum, wer die Waffen kontrolliert und Entscheidungen trifft, um demokratische Kontrolle über das Militär.

Dass sich die öffentliche Meinung massiv für die Beendigung der Kriegsgräuel ausspricht, bedeutet, dass die Regierungen zunächst Unterstützung für Waffenlieferungen an die Ukraine erhalten können. Diese Unterstützung kann für eine schnelle Steigerung der Investitionen in das Militär und für die Fortsetzung der  NATO-Erweiterung genutzt werden.

Wie sollen sich die Menschen in der Ukraine verteidigen?

Präsident Selenskyj ist ein rechtspopulistischer Politiker, der nicht die Interessen der ukrainischen Arbeiter*innenklasse vertritt. Seine Regierung hat die Steuern für Großunternehmen gesenkt, während der Lebensstandard für die meisten Beschäftigten weiter gesunken ist. Viele Ukrainer*innen wollen eine Volksverteidigung, und Tausende wurden mobilisiert, sogar mit selbstgebauten Waffen. Mehrere Videos zeigen, wie die Menschen die russischen Soldaten auffordern, nicht zu schießen, und einige Panzer zur Umkehr bewegen.

Gibt es in der schrecklichen Notlage, in der sich das ukrainische Volk befindet, eine Möglichkeit, durch einen fortgesetzten politischen Kampf die Dinge selbst in die Hand zu nehmen? Die Verteidigungskomitees, die jetzt notwendig sind, um den Kampf gegen eine offenbare russische Besatzung fortzusetzen, erfordern eine demokratische Organisation und Koordination von unten. Eine NATO-geführte Ukraine ist keine demokratische oder gerechte Alternative.

Haben Arbeitende und Arme gemeinsame Interessen mit Regierungen, Kapital und Militär?

Der Staat ist nicht neutral, er ist letztlich ein Werkzeug für die Interessen der herrschenden Klasse, der Kapitalist*innen. Sozialist*innen warnen davor, dass bewaffnetes Militär und Polizei gegen Arbeiter*innenkämpfe und Massenproteste im eigenen Land eingesetzt werden.

Die Außenpolitik ist eine Fortsetzung der Innenpolitik. Leider haben mehrere linke und Arbeiter*innenparteien im Laufe der Geschichte Kriege und militärische Interventionen unterstützt, mit dem Ergebnis, dass sie damit auch die rechte Politik und den Niedergang im eigenen Land legitimiert haben.

Die Arbeiter*innenbewegung ist im Kampf gegen Militarismus und Krieg entstanden. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist, dass es der schwedischen Arbeiter*innenbewegung 1905 gelang, die Kriegspläne gegen Norwegen mit der Parole „Nieder mit den Waffen“ zu stoppen. Als die sozialdemokratische Führung während des Ersten Weltkriegs den sozialen Frieden (Unterstützung für die Regierung) versprach, reagierten die Linke und die Gewerkschaftsjugend mit einer Kampagne gegen den Krieg.

Für eine Bewegung gegen Krieg und Imperialismus

Für Sozialist*innen ist der Ausgangspunkt, auch im Krieg, immer das, was den Arbeitenden, den Armen und den einfachen Menschen nützt. Die besten Traditionen der Arbeiter*innenbewegung bestehen darin, Krieg und Militarismus zu widerstehen, eine unabhängige Linie zu verfolgen – und sich nicht mit der Rechten, dem Kapital und dem Staat zu verbünden.

Unabhängig davon, wie sich der Krieg in der nächsten Woche entwickelt, wird alles und jeder für eine lange Zeit betroffen sein: das Bewusstsein, die Machtverhältnisse und die Wirtschaft. Für alle, die gegen den Krieg sind, ist es wichtig, den Krieg und das globale kapitalistische System zu analysieren und dagegen zu mobilisieren.