Kasachstan: Bilanz eines Aufstands

Die Proteste in Kasachstan waren die radikalsten Proteste der Arbeiter*innenklasse im Gebiet der früheren Sowjetunion seit 1991. Innerhalb von fünf Tagen entwickelte sich eine lokale Demonstration zu einem regionalen Generalstreik, einem Versuch,  Obleute-Räte in Aktau und Schangaösen zu gründen, und zum bewaffneten Aufstand in der größten Stadt des Landes. Nur mit Hilfe der Armee, russischer Truppen und der schweigenden Unterstützung der EU und USA gelang es, der kasachischen herrschenden Klasse, den Arbeiter*innenaufstand zurückzuschlagen. Was ist passiert?

Von Dima Yanski, Köln

Die Proteste begannen am 1. Januar mit einem Aufruf der Öl- und Gasarbeiter*innen und Arbeitslosen aus Schangaösen, die Gaspreissteigerung zu stoppen. Diese Preiserhöhung war nur die Spitze des Eisbergs – die Lebensmittelpreise hatten sich im letzten Jahr verdoppelt, in der abgelegenen Wüstenregion im Westen einige Preise sogar verdreifacht. Wie im ganzen Land herrscht dort Massenarbeitslosigkeit. Es ist eine „normale“ Situation, dass in einer Großfamilie mit mehreren Erwachsenen nur ein einziges Familienmitglied Arbeit hat. Arbeitsplatzverlust, Preiserhöhung oder Senkung der Löhne bedeutet für viele Familien buchstäblich Hunger. Im Dezember 2021 entließ TengizChevrOil, ein Mineralölunternehmen, das zu 50 % der Chevron Corporation und zu 25 % ExxonMobil gehört, in Westkasachstan 40.000 Arbeiter*innen. Alle diese Faktoren führten in Kombination mit der herrschenden Korruption und alltäglicher Polizeigewalt zur Radikalität und Kompromisslosigkeit der Proteste.

Als die Regionalregierung die Forderungen ignorierte, entwickelten sich die Proteste in Schangaösen bereits am 2.Januar zu spontanen Streiks in mehreren Betrieben, die eine 100-prozentige Lohnerhöhung, bessere Arbeitsbedingungen sowie das unbeschränkte Recht auf gewerkschaftliche Organisierung forderten. Da die Behörden den Forderungen nicht nachkamen, breiteten sich die Demonstrationen schlagartig auf das ganze Land aus. Am 3. Januar streikten die Regionen Manghystau und Atyrau. Am 4. Januar entwickelte sich der Streik von Öl-, Berg und Metallarbeiter*innen zu einem Generalstreik in der Rohstoffförderungs- und Verarbeitungsindustrie. Am gleichen Tag ergänzten die Arbeiter*innen wirtschaftliche Forderungen mit politischen: Demokratisierung, Rücktritt von Präsident Tokajew und dem Chef des Sicherheitsrats, Nasarbajew, von allen Posten, sowie Neuwahlen von Bürgermeister*innen und Gouverneuren.

Am gleichen Tag entflammten die Proteste in Südkasachstan, vor allem in der wirtschaftlichen Metropole Almaty. Bald fielen die ersten Schüsse. Insgesamt wurden am 4. Januar mindestens 500 Protestierende von der Polizei verletzt. Der verängstigte Präsident Tokajew rief zur “Vernunft” auf und warnte vor Provokateuren. Bei Tagesanbruch des 5. Januar verkündete er, die gesamte Regierung angewiesen zu haben, ihren Rücktritt zu erklären. Parallel dazu verhängte er über weite Teile des Landes einen zweiwöchigen Ausnahmezustand. Im ganzen Land waren Internet, Messengerdienste und soziale Netzwerke abgeschaltet worden.

Am nächsten Tag schlug die Welle der Proteste mit größerer Wut zurück. Die Jugend aus den Elendsvierteln attackierte das Polizeipräsidium, jagte Polizisten und Geheimdienstler durch die Straßen. Die Aufständischen bewaffneten sich mit erbeuteten Waffen. Die Polizei verschwand von der Oberfläche, Boutiquen und Banken wurden geplündert, Polizeiautos angezündet. Arbeiter*innen und Jugendliche entwaffneten die Polizist*innen, bauten Barrikaden und Kontrollposten im Zentrum von Almaty auf. Sie besetzten den internationalen Flughafen der Stadt und setzten den Palast des ehemaligen Präsidenten Nasarbajew in Brand. In Aktöbe weigerten sich die Hundertschaften der Polizei, die Demonstrant*innen anzugreifen. In Atyrau wechselten Polizist*innen die Seite und nahmen an der Demonstration teil. Jedoch hatten die Proteste in diesem riesigen Land keine zentrale Führung und Koordination. Der Generalstreik stachelte den Mut und die Opferbereitschaft der jungen Aufständischen an. In Almaty fegten sie den Staatsapparat von der Straße.  Doch war das nicht genug! Es fehlte eine Partei, die dem Aufstand klare Forderungen und Strukturen hätte geben können und vor allem die Zeit, diese zu formieren. Die meisten Städte im Norden und im Zentrum des Landes waren weiterhin fest in der Hand der Regierung. Am 6.Januar erschien ein neuer Spieler auf dem Schlachtfeld – Wladimir Putin. Blitzartig landeten tausende Fallschirmjäger und Einsatzkommandos aus Russland, Belarus, Armenien, Kirgisien und Tadschikistan in Almaty. Das Regime bekam Rückendeckung, konnte die Kräfte sammeln und mit loyalen Truppen eine Straße nach der anderen “säubern”. Laut offiziellen Angaben wurden innerhalb von wenigen Tagen 225 Menschen getötet, davon 19 Polizist*innen. Die Regierung berichtete von über 3393 verletzten Polizist*innen und Soldat*innen. Die Anzahl der verletzten Aufständischen ist unbekannt, da sie Angst haben, ihre Verletzungen an Krankenhäuser zu melden und sich strafbar zu machen. Aus ähnlichen Gründen begraben viele Familien heimlich ihre Toten.

Komprador*innen-Kapitalismus

Die Krise in Kasachstan war vor allem eine Krise des Wirtschaftsmodells des Landes. Kasachstan bleibt der treueste Vorreiter der neoliberalen Reformen in der Region. Kein anderes Land hat so schnell eine Privatisierung durchgeführt und freizügig eigene Ressourcen an die internationalen Konzerne verschenkt. Drei Viertel des kasachischen Öls und Erdgases gehören amerikanischen, holländischen, russischen und chinesischen Konzernen. Das Sozialsystem des Landes wurde in den letzten Jahrzehnten konsequent abgebaut. Seit 1996 hat Kasachstan ein neoliberales Rentensystem nach dem Vorbild Chiles, was Armut im Alter bedeutet. Die Interessen der herrschenden Klasse liegen nicht in der Entwicklung des Landes, sondern in der problemlosen Verfrachtung der kasachischen Rohstoffe ins Ausland im Interesse der ausländischen Hedgefonds und Banken. Diese halbkoloniale Elite, die in den Diensten des imperialistischen Auslandskapitals steht, nennen wir Komprador*innen.

Nach unterschiedlichen Einschätzungen arbeiten in der Rohstoffförderung sowie in der Verarbeitungsindustrie ungefähr zwei Millionen Arbeiter*innen. Weitere drei Millionen sind im Energiesektor, der Infrastruktur, in Verkehr und Administration tätig. Fünf Millionen Arbeiter*innen braucht die kasachische Komprador*innen-Wirtschaft, um zu funktionieren. Der Rest der Arbeitskraft landet im Prekariat mit drei Millionen sogenannten “Selbstständigen”, die keine geregelte Arbeit haben und von Tag zu Tag ums Überleben kämpfen müssen. Eine Million sind offiziell arbeitslos. Diese Menschen leben in den Elendsvierteln der kasachischen Großstädte. Die meisten sind ehemalige Dorfbewohner*innen, die vor der Armut in die Großstädte geflüchtet sind. Die Komprador*innen bieten ihnen keine Bildungsmöglichkeiten, keine Arbeitsplätze und keine Perspektive. Genau diese Menschen kämpften vom 4. bis 8. Januar auf den Straßen von
Almaty gegen die Polizei, Einsatzkommandos und die Armee, die von den russischen Truppen unterstützt wurde. Sie bildeten die kämpferische Spitze der Streik- und Protestwelle, die von qualifizierten und kampferfahrenen Arbeiter*innen in West-, Ost- und Zentralkasachstan gestartet wurde.

Diesmal verlor die Bewegung gegen die konsolidierten reaktionären Kräfte. Jedoch löste das Blutbad nicht die Gründe auf, die zum Aufstand geführt haben. Selbst der amtierende Präsident Kasachstans, Tokajew, sagte am 21. Januar beim Treffen mit der Businesselite des Landes, dass 162 Superreiche die Hälfte des nationalen Vermögens kontrollieren. Gleichzeitig haben 50 Prozent der Kasach*innen etwa 1300 Dollar pro Jahr zum Überleben. Laut Tokajew hat „das Einkommensgefälle zwischen Arm und Reich ein inakzeptables Ausmaß erreicht, und die Bourgeoisie muss etwas dagegen tun“. Er forderte die Oligarch*innen auf, Milliarden Dollar in die sozialen Projekte zu investieren. Das Land solle sich verändern, neue Arbeitsplätze schaffen, neue technische Universitäten bauen. Sogar einige Profiteure der Privatisierung und Plünderung des Naturreichtums des Landes haben verstanden, dass dieser Charakter der Wirtschaft in einem Bürgerkrieg endet. Doch die Optionen der herrschenden Klasse sind begrenzt. Die weltweite Wirtschaftsstagnation lässt den Reichen nicht viel Raum für Manöver.