Wahlen in Chile: Niederlage der Rechtsextremen öffnet den Weg für neue Massenproteste

Gabriel Boric von der Koalition “Apruebo Dignidad” (Ich sage Ja zur Würde) hat den rechtsextremen Kandidaten Jose Antonio Kast in der zweiten Runde der chilenischen Wahlen besiegt. Boric erhielt 55,8 % der Stimmen, fast eine Million mehr als Kast.

von André Ferrari (Liberdade, Socialismo e Revolução – Schwesterorganisation der SAV in Brasilien)

Damit hat sich das Blatt seit dem ersten Wahlgang gewendet, wo Kast noch den ersten Platz errungen hatte. Damals war ein großer Teil der jungen Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse, die vom politischen System enttäuscht und von Borics gemäßigtem Ansatz nicht begeistert waren, nicht zur Wahl gegangen.

Arbeiter*innen und Jugendliche gehen wählen, um die Rechtsextremen zu besiegen

Angesichts des drohenden Sieges der “Pinochetisten” im zweiten Wahlgang (Kast unterstützt offen die Pinochet-Diktatur) war die Wahlbeteiligung diesmal höher, was zur Niederlage von Kast führte. Borics Wahlsieg bedeutet einen Rückschlag für die grausamsten Teile der herrschenden Klasse, die den großen Volksaufstand, der im Oktober 2019 in Chile ausbrach, gewaltsam niederschlagen lassen wollten.

Eine Regierung der extremen Rechten, die über eine signifikante Wähler*innenunterstützung verfügt, könnte die Repressionen und Angriffe noch verstärken, die bereits unter dem derzeitigen Präsidenten Sebastian Piñera durchgeführt werden – und die auf starken Widerstand stoßen und keinerlei Legitimität in der Bevölkerung besitzen. Jetzt setzt die herrschende Klasse darauf, Boric zurückzudrängen und zu zähmen, darauf, dass seine Regierung Arbeiter*innen, Jugendliche, Frauen und Indigene davon abhält, ihre Kämpfe fortzusetzen und zu intensivieren. Gleichzeitig wird die herrschende Klasse, die auf Borics künftigen Untergang setzt, die Voraussetzungen dafür schaffen, ihre Kettenhunde, der extremen Rechten, loslassen zu können.

Borics politische Mäßigung bietet keinen Ausweg

Dass die Bevölkerung Borics Wahlsieg vollkommen berechtigterweise feiert darf nicht vergessen lassen, dass die entscheidende Niederlage der chilenischen Rechtsextremen nur erreicht werden kann, wenn die Massenproteste wieder aufgenommen werden und sich die Basis in den verschiedenen Regionen, an den Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten organisiert. Mit all dem kann eine radikale Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft erreicht werden, die den Neoliberalismus, den Autoritarismus, die Ungleichheit und das System, das ihnen zugrunde liegt, ein für alle Mal beseitigt.

Die politische Mäßigung und die versöhnliche Haltung Borics und eines großen Teils der chilenischen Linken – oder des Mitte-Links-Spektrums – setzt in einem Kontext politischer und sozialer Polarisierung und dem Wunsch nach echtem Wandel fast alles aufs Spiel. Der Massenaufstand vom Oktober 2019 hätte Piñera stürzen und die Voraussetzungen für eine legitime und souveräne verfassungsgebende Versammlung schaffen können. Doch die Unterzeichnung des “Pacto por la Paz” (Pakt für den Frieden) und die Annahme einer verfassungsgebenden Versammlung mit begrenzten Befugnissen ermöglichten Piñeras Überleben und eröffneten der extremen Rechten den Raum, ihr hässliches Haupt zu erheben.

Keine Zeit zum Warten: Der Kampf der Arbeiter*innenklasse muss stärker werden

Der Sieg von Boric stellt für die chilenischen Massen eine Gelegenheit dar, die Dynamik des Kampfes der letzten Jahre wieder aufzunehmen und eine echte Alternative für die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten aufzubauen. Einen Waffenstillstand oder eine nationale Versöhnung können wir nicht akzeptieren. Wir können nicht einfach abwarten, welche Maßnahmen die neue Regierung ergreifen wird.

Wir müssen die Forderungen nach einem öffentlichen Gesundheitswesen und Bildungssystem, dem Recht auf Rente, der Verstaatlichung und der Kontrolle der natürlichen Ressourcen und der Schlüsselsektoren der Wirtschaft durch die Arbeiter*innen, der Verteidigung der Rechte von Frauen, der Garantie der Rechte der Mapuche (die größte indigene Minderheit in Chile, Anm. d. Ü.) und aller anderen indigenen Völker erheben. Wir müssen die Organisierung des Kampfes von unten stärken, die Bewegungen vereinigen und einen Generalstreik vorbereiten, der noch mächtiger ist als der vom November 2019. Wir müssen die Perspektive einer Regierung der Arbeiter*innen und Unterdrückten mit einem antikapitalistischen und sozialistischen Programm anstreben.

Nur so werden die chilenischen Massen ihren Sieg gegen die Rechten festigen und ein Leben in Würde erringen. Einmal mehr ist Chile ein Bezugspunkt für die Bewegungen der Arbeiter*innen, der Jugend und der Unterdrückten in Lateinamerika und der ganzen Welt. Lasst uns aus ihren Erfahrungen lernen, unsere Kämpfe miteinander verbinden und ein sozialistisches Lateinamerika und eine sozialistische Welt erkämpfen.

Foto: https://flickr.com/photos/mediabanco/51630148931/in/photolist-2mEo1vz-2mEiMkA-2m5k4bR-2m5oGUV-2mEpa89%E2%80%932mc7GqH-2m5sBCh-2m (CC-BY 2.0)