Sehnsucht nach Dystopia

Grelles Neonlicht erhellt die gigantischen Wolkenkratzer der Konzernzentralen, in deren Schatten brutale Gangs einen ewigen Krieg führen. Die Polizei ist nichts anderes als eine dieser Gangs, die sich, wie so viele in der Stadt, meistbietend verkauft. Zwielichtige Hinterhof-Ärzte, sogenannte Ripper-Docs, bieten allerlei Körperimplantate an, während Mega-Konzerne nicht nur Fäden ziehen, sondern sich direkt in die von Politiker*innen hacken.

Von Sebastian Rave, Bremen

Alles, was das namensgebende Cyberpunk-Genre hergibt, wurde in das PC-Spiel Cyberpunk 2077 implantiert. Ideen aus Neuromancer, Blade Runner, Ghost in the Shell, Shadowrun oder Matrix finden sich überall in der Story. Das Leitmotiv ist bekannt: Das Verhältnis von Technologie zum Leben. In dieser Geschichte ist es Protagonist*in V., der*die einen Chip im Hirn implantiert hat, in dem das Bewusstsein des toten Rockstars und Anarchisten Johnny Silverhand (gespielt von – wem sonst – Keanu Reeves) eingespeichert ist, das langsam den „Host“ übernimmt. Die zahlreichen Nebenzweige der Geschichte machen einen mit dem Moloch Night City und seinen vielfältigen verrückten oder liebevollen Bewohner*innen vertraut.

Crunchtime für den Aktienkurs

Die große, offene dystopische Stadt ist der Star des Spiels. Hier merkt man, was die kollektive Arbeit von bis zu 500 Entwickler*innen in über acht Jahren schaffen kann. Das polnische Entwicklerstudio CD Projekt, das auch die mittlerweile verfilmte Witcher-Serie veröffentlicht hat, wurde mit dem Marketing-Hype um Cyberpunk 2077 das höchstbewertete Börsenunternehmen im Spielesektor Europas.

Der Aktienkurs explodierte um 21.000 % seit 2019, der Unternehmenswert beläuft sich auf 9 Milliarden Dollar – CD Projekt ist damit eines der größten Unternehmen in Polen überhaupt. Allerdings sieht man auch, wozu die vorschnelle Veröffentlichung auf Druck von Investor*innen geführt hat: Die Konsolenversionen waren so verbuggt, dass sie als unspielbar wieder vom Markt genommen wurden. Aber auch in der PC-Version kommt es immer wieder zu Glitches, die einen manches Mal aus der Spielatmosphäre reißen. Viele vorher versprochene Features fehlen im Spiel komplett, das Gameplay bietet eigentlich nichts Besonderes. Die Missionen bestehen überwiegend aus Schleichen, Ballern, Autofahren. Dass das Spiel zumindest technisch dem Hype nicht gerecht wird, wurde für das Entwicklerstudio zum PR-Desaster, das zum Absturz der Aktien führte. CD Projekt versprach schnelle Patches, und ordnete den Angestellten dafür weitere Überstunden an. Diese als „Crunchtime“ bezeichnete übliche Praxis während der kritischen Entwicklungszeit ist in der Branche berüchtigt. Entwickler*innen von CD Projekt berichteten von 6-Tage Wochen mit bis zu 100-Stunden – teilweise über Jahre. Ein Vorgeschmack der Dystopie, die das Spiel beschreibt.

1980er-Jahre-Dystopie

Trotzdem ist das Spiel mit über zehn Millionen Verkäufe eines der erfolgreichsten Spiele der Geschichte. Das liegt wohl auch an der Kapitalismuskritik, die es dem Genre entliehen hat. Cyberpunk beschreibt die Welt, wie sie in fünfzig Jahren ohne eine soziale Revolution aussehen würde, mit Klimawandel, Konzernherrschaft, Cyberware und Neoliberalismus auf Steroiden. Es ist die No-Future-Zukunft, die die Punks schon in den 1980ern besangen. „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.“, so der Kulturwissenschaftler Fredric Jameson

Aber wer soll die Gesellschaft verändern? Die Geschichte bleibt im individuellen, es gibt kein Kollektiv außer den Gangs, allmächtigen und anonymen Konzernen, und ein paar Aussteiger-Rednecks. Cyberpunk 2077 scheint das Mantra von Margret Thatcher gefressen zu haben: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.“ Obwohl die gesellschaftlichen Verhältnisse in Night City nach Revolution schreien, bleiben die Arbeitenden, Unterdrückten und Armen in Night City stumm. Das ist wahrscheinlich der größte Bug im Spiel – und im ganzen Genre: Die Unterschätzung von gesellschaftlichen Dynamiken, die dafür sorgen, dass die Zukunft nicht einfach nur die lineare Fortschreibung der Gegenwart ist, sondern durch die Menschheit selbst geschrieben werden kann. Etwas, wofür sich Crunchtime tatsächlich lohnen würde.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitschrift sozialismus.info Nr. 54, Februar 2021.