Dritte Welle der Pandemie und konterrevolutionäre Unterdrückung

Regierung nutzt neuen Covid-19-Ausbruch als Vorwand um die Legco-Wahlen zu verschieben.

von Jo Yan

Die Massenproteste gegen Polizeigewalt, die letzten Juni begannen, sind inzwischen abgeebbt. Nun ist mit dem Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit (ab hier „Sicherheitsgesetz“) die konterrevolutionäre Unterdrückung durch die chinesische Regierung (KPCh) in Hongkong angekommen. Dass das neue Gesetz der Diktatur nicht dazu dient Hongkong zu “stabilisieren” zeigt sich in der Entscheidung der örtlichen Regierung die in einem Monat stattfindenden Wahlen abzusagen. Dabei beruft sie sich heuchlerisch auf den jüngsten Anstieg der Covid-19 -Infektionen.

Am 30. Juli schloss die Regierung zwölf Kandidat*innen von den Wahlen zum Legislativrat (Legco) aus, die ursprünglich für den 6. September angesetzt waren. Von den zwölf ausgeschlossenen Kandidat*innen waren vier pro-amerikanische “Aktivist*innen”, drei Lokalisten (rechtsgerichtete Hongkonger Nationalisten), vier Mitglieder der gemäßigten demokratischen Civic Party sowie ein weiterer gemäßigter Demokrat, der in den funktionalen Wahlkreisen kandidierte. Bei den funktionalen Wahlkreisen handelt es sich um undemokratische Sitze, die für spezielle Geschäfts- und Berufsgruppen reserviert sind. Sie machen die Hälfte der 70 Sitze im Parlament aus.

In den Jahren 2016 und 2017 hatte die KPCh nur Lokalisten und “Radikale” von Kandidaturen ausgeschlossen. Aber bei der aktuellen Wahl wurden selbst gemäßigte demokratische Politiker*innen ausgeschlossen. Der Widerstand in Hongkong gegen das chinesische Regime ist inzwischen so groß, dass trotz des Wahlsystems, das regierungsfreundliche Parteien stark bevorzugt, die Machthaber befürchten bei den nächsten Legco-Wahlen die Macht zu verlieren.

Demokratische Vorwahlen: Ein Akt des Widerstands der Massen

Bei einer “Vorwahl”, die im Juli von demokratischen Gruppen organisiert wurde, stimmten 610.000 Menschen für Anti-Regierungs-Kandidat*innen. Während die Wahl der Kandidat*innen enorme politische Widersprüche und das Fehlen einer klaren Alternative innerhalb der Proteste gegen die Regierung widerspiegelten, erschütterte die enorme Wahlbeteiligung so kurz nach Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes das Regime. Pekinger Beamte erklärten die Vorwahlen sofort für “illegal” und zur Verletzung des Sicherheitsgesetzes.

Da ihre Marionetten-Regierung wackelig und schwach ist, will die KPCh einen umfassenden Ausschluss von Oppositionskandidat*innen. Auch wenn der Legco nur ein völlig wirkungsloses Parlament ist würde sie niemals eine unberechenbare Zusammensetzung zulassen. Die KPCh kann unmöglich erlauben, dass die Opposition mehr als die Hälfte der Sitze kontrolliert. Das an sich wäre schon eine Demütigung durch die Wähler Hongkongs.

Darüber hinaus würde dies der Opposition erlauben die Finanzierung und die Aktivitäten der Regierung Hongkongs zu lähmen und sie in eine verfassungsrechtliche Krise zu stürzen. Die Regierung von Carrie Lam ist nicht gewählt und wird in keiner Weise von der Legco kontrolliert. Allerdings muss sie die Zustimmung der Legco für ihren Jahreshaushalt und bestimmte andere Entscheidungen einholen. Und noch viel entscheidender ist: Wenn die Opposition eine Legco-Mehrheit hat könnte dies große Auswirkungen auf die Menschen auf dem chinesischen Festland haben. Es würde die Behauptungen der KPCh zerschlagen, dass Hongkongs regierungsfeindliche Proteste nur eine Handvoll “ausländischer Kräfte mit eigenen Zielen” sind. Die Massen in China könnten dann die Version der Ereignisse des Regime in Frage stellen, und die Proteste in Hongkong könnten sogar auf China übergreifen.

Wahlen verschoben

Das Regime ist immer noch geschockt von den Ergebnissen der historischen Bezirksratswahlen im November, bei denen 87 Prozent der Sitze an Oppositionelle gingen. Die KPCh und ihre Unterstützerparteien in Hongkong hatten geglaubt, dass die Stimmung in der Bevölkerung sich gegen die Proteste richtete. Ihre Einschätzung war so falsch, dass die vom chinesischen Regime kontrollierten Medien drei Tage lang nicht über das Wahlergebnis berichteten: Redakteur*innen und Zensor*innen wussten nicht, wie sie erklären sollten was passiert war oder wie sie es begründen könnten.

Unsicher ob man die Legco-Wahlen momentan kontrollieren könnte – selbst nach den neuen Ausschlüssen von Kandidat*innen – verschob die Regierung am 31. Juli die Wahlen um ein Jahr. Als Grund gab man die Pandemie an. Auch im nächsten Jahr gibt es keine Garantie dafür, dass die Wahlen abgehalten werden. Wie wir bei der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes am 30. Juni vorhersagten, stellt das Regime jetzt täglich neue Regeln und Beschränkungen auf.

Angesichts anhaltender Auseinandersetzungen im In- und Ausland, einschließlich erneuter Machtkämpfe innerhalb der chinesischen Staatsspitze, kann Chinas Regierungschef Xi Jinping nicht zulassen, dass seine Autorität zu sehr in Frage gestellt wird. Anstatt nach den Wahlen den Legco zu entmachten und das Kriegsrecht zu verhängen, hat sich das Regime entschieden, dass es besser ist jetzt die Proteste direkt im Keim zu ersticken.

Provisorischer Legco“

Da die Legco-Wahlen auf 2021 verschoben wurden, könnte die Amtszeit des derzeitigen Legco verlängert werden. Einige pekingfreundliche Politiker fordern allerdings die Einrichtung eines “provisorischen Legco”. Dieser würde von der Regierung ernannt werden und die Mitglieder des aktuellen Legco beinhalten. Allerdings würden wohl die drei derzeitigen Mitglieder, die bei den nächsten Wahlen nicht mehr kandidieren dürfen (Dennis Kwok, Alvin Yeung und Kenneth Leung Kai-cheong), nicht ernannt werden. Damit hätte das pekingfreundliche Lager die Kontrolle über mehr als zwei Drittel der Sitze. Dann wäre es der KPCh möglich, eine fingierte Reform des allgemeinen Wahlrechts durchzusetzen, ähnlich derjenigen, die 2015 auf Grund von Protesten nicht durchgesetzt wurde.

Die Wahl zu verschieben ist jedoch eine Verzögerung, die das kommende Jahr viel Raum für Instabilität und Auseinandersetzungen schafft. Das passt nicht mit Xi Jinpings Führungsstil zusammen. Wenn die KPCh hart durchgreift, wird sie sich daher für eine völlig manipulierte Legco-Wahl entscheiden. Viele nehmen jedoch an, dass Xi Jinping befürchtet, dass eine erkennbar gefälschte Wahl eine Sanktionswelle des Westens auslösen könnte.

Gleichzeitig wurden vier Studenten, darunter Tony Chung, der Einberufer der rechtsgerichteten pro-Hongkongischen Unabhängigkeitsorganisation „Studentlocalism“, festgenommen und wegen “Anstiftung zur Abspaltung” nach dem Sicherheitsgesetz angeklagt. Damit sind sie die ersten, die mit dem Sicherheitsgesetz ins Visier genommen wurde. Die Studentengruppe wurde vor der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes aufgelöst und erklärte eine Gruppe im Ausland gegründet zu haben. Dies bedeutet, dass das Sicherheitsgesetz tatsächlich rückwirkend angewandt wird.

Einerseits will die KPCh die abschreckende Wirkung des Sicherheitsgesetzes demonstrieren, befürchtet aber auch, dass die Festnahme weiterer international bekannter demokratischer Politiker (wie Joshua Wong, Jimmy Lai usw.) eine starke Gegenreaktion der westlichen Regierungen auslösen könnte. Obwohl sich westliche Regierungen nicht wirklich um Demokratie- und Menschenrechtsfragen kümmern, ist Hongkong heute an der vordersten Front der weltweiten Machtkämpfe zwischen China und den USA. Daher ist es wahrscheinlich, dass westliche Regierungen zu neuen Gegenmaßnahmen greifen werden.

Dritte Welle

Vom 19. Juli bis zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels hat die 3. Ansteckungswelle in Hongkong mit mehr als 100 neuen Corona-Infektionen pro Tag begonnen. Die Regierung hat sich stets geweigert, die Grenze zu China vollständig zu schließen. Außerdem müssen chinesische und Hongkonger Geschäfts- und Seeleute nach der Einreise nicht in Quarantäne oder Isolation. Von Februar bis Ende Juli reisten mehr als 290.000 Menschen ohne obligatorische Quarantäne in die Stadt ein. Viele Expert*innen haben darauf hingewiesen, dass dies die Ursache für die 3. Welle ist.

Neben der Beschränkung der Kontakte auf maximal zwei Personen ordnete die Regierung auch an, dass Restaurants keinen Verzehr im Haus mehr anbieten durften. So werden unzählige Beschäftigte in einfachen Berufen (z.B. Bauarbeiter und Reinigungskräfte) gezwungen, auf der Straße zu essen. Gleichzeitig ist die Kantine der Zentralregierung weiterhin für den Verzehr geöffnet.

Diese absurde Politik löste eine gewaltige öffentliche Gegenreaktion aus, die Carrie Lam`s Regierung in nur zwei Tagen zum Zurückrudern zwang. Einmal mehr zeigte sich damit, wie wenig Vorstellung die Politiker*innen von der Lebenswirklichkeit der Menschen haben.

Am 26. Juli erreichte die Auslastungsrate von 649 Unterdruckstationen und 1.207 Unterdruckkrankenhausbetten 82,6 bzw. 78,9 Prozent. Darüber hinaus sind die Isolationseinrichtungen der öffentlichen Krankenhäuser einem enormen Druck ausgesetzt.

Die KPCh erklärte, sie werde Hongkong beim Bau eines “Behelfskrankenhauses” unterstützen und medizinisches Personal nach Hongkong entsenden, um groß angelegte Covid-19-Tests durchzuführen. Mitarbeiter*innen im Hongkonger Gesundheitswesens haben jedoch Bedenken geäußert, dass die KPCh diese Gelegenheit ausnutzen wird, um das Gesundheitssystem Hongkongs zu übernehmen, und sogar DNA-Proben von Hongkonger*innen während des Testprozesses für spätere politische Überwachungen sammeln könnte.

Spaltungen der KPCh

Das Ziel der aktuellen Politik von Xi gegenüber Hongkong ist aber weniger den Widerstand zu unterbinden, als vielmehr die Gegner*innen seiner Politik innerhalb des chinesischen Parteienstaates zu beeindrucken. Denn immer mehr Menschen innerhalb der KPCh-Elite sind der Meinung, dass die Innen- und Außenpolitik von Xi zu hart ist und der chinesischen herrschenden Klasse weitere Probleme bereitet.

Diese Opposition setzt Xi bisher beispiellos unter Druck. Er muss auch diese innenpolitischen Gegner unterdrücken, denn die durch die Epidemie ausgelöste Wirtschaftskrise hat das Land in eine Rezession gestürzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die hohe Arbeitslosigkeit die arbeitenden Massen zum Widerstand zwingt.

Momentan wäre jedes Nachgeben von Xi Jinping gleichbedeutend damit die Macht abzugeben. Und Diktatoren werden dies niemals freiwillig tun. Das Einzige, was er also tun kann, ist die Repressionen weiter zu verstärken. Aber die Wut der Menschen in Hongkong wird nicht abklingen. Es ist erkennbar, dass die politische Situation in China und Hongkong in einen Zustand von Revolution und Konterrevolution eintritt, und der Massenkampf auf dem chinesischen Festland wird zum Schlüssel werden. Socialist Action [Schwesterorganisation der SAV in Hongkong] unterstützt den Kampf der Arbeiterklasse gegen autoritäre Repression und Kapitalismus.