Interview mit Ginger Jentzen: Warum und wie US-Sozialist*innen Bernie unterstützen

Die Kampagnen für die US-Vorwahlen laufen auf Hochtouren. Bernie Sanders ist in den Umfragen stark im Aufwind. Wir sprachen mit Ginger Jentzen über die Bernies Kampagne und die Situation in den USA. Sie ist Mitglied der Socialist Alternative, der US-amerikanischen Schwesterorganisation der SAV. Als Aktivistin in Minneapolis spielte sie eine aktive Rolle im Kampf für einen Mindestlohn von 15 Dollar. Ende Februar bis Anfang März wird Ginger bei öffentlichen Veranstaltungen unserer Sektionen in Deutschland, Österreich und Belgien sprechen.

Alles zu der Speakerstour mit Ginger in Deutschland hier:

Hallo Ginger, du hast 2017 für die Socialist Alternative für den Stadtrat von Minneapolis kandidiert, 44% der Stimmen erhalten und den Sitz nur knapp verpasst. Hat Bernies Kampagne 2016 deine Entscheidung zu kandidieren beeinflusst?

Auf jeden Fall. Denn egal, wie es mit der reaktionären Trump-Administration im Weißen Haus aussehen mag, vor Ort in den USA gibt es eine wachsende Offenheit gegenüber sozialistischen Ideen. Tatsächlich war der erste Beweis dafür die Wahl von Kshama Sawant, einem Mitglied der Socialist Alternative, in den Stadtrat von Seattle im Jahr 2013 mit fast 100.000 Stimmen. Sie wurde allgemein als die Kandidatin der lokalen Occupy-Bewegung angesehen und mit dem Mandat gewählt, den ersten Mindestlohn von 15 Dollar in einer großen US-Stadt einzuführen. Ihre Wahl als offene Sozialistin erregte landesweite und sogar internationale Medienaufmerksamkeit. Die Jugend von heute ist die radikalste Generation seit den 1970er Jahren. Viele stehen vor einer düsteren Zukunft mit steigenden Studienschulden und niedrigen Löhnen. Kshama und Socialist Alternative zeigten 2013, dass eine organisierte revolutionäre Partei die Arbeiter*innen dazu anregen kann, Bewegungen aufzubauen, die die Ungerechtigkeit des Kapitalismus herausfordern und für eine radikale, sozialistische Alternative kämpfen.

Als Mitglied der Socialist Alternative habe ich, inspiriert durch Kshamas ersten Sieg, die Lehren aus dem Kampf um den 15-Dollar-Stundenlohn in Seattle gezogen. Ich wurde Executive Director [Geschäftsführerin] von 15-Now und führte die Basisbewegung an, um 2017 zuerst in meiner Stadt Minneapolis und dann in unserer Schwesterstadt St. Paul, Minnesota, zu gewinnen.

Es ist unbestreitbar, dass Bernies Kampagne 2016, die zu einer “politischen Revolution gegen die Milliardärsklasse” aufrief, das Vertrauen der arbeitenden Bevölkerung erheblich gestärkt hat. Unsere Kampagne für den Stadtrat 2017 in Minneapolis rief die Arbeiter*innen dazu auf, sich zu organisieren. Wie Bernie akzeptierte ich keinen einzigen Cent an Firmengeldern und würde im Falle meiner Wahl nur den Durchschnittslohn einer Arbeiterin in meiner Gemeinde annehmen. Wir haben uns für eine Mietpreisbindung, für die Besteuerung großer Bauunternehmer*innen und der Wohlhabenden eingesetzt, um günstigen sozialen Wohnungsbau und öffentlichen Nahverkehr zu finanzieren. Veröffentlichte E-Mails zeigten, dass die Großunternehmen unsere Kampagne an der Basis als die größte Bedrohung für ihre zukünftigen Erfolge bei den Stadtratswahlen ansahen. Wir stellten einen stadtweiten Rekord auf, als wir aus Hunderten kleiner Spenden über 160.000 Dollar zusammen bekamen. Obwohl wir die meisten ersten Vorzugsstimmen erhielten, wurden wir im dritten Wahlgang knapp geschlagen.

Obwohl wir die Wahl nicht gewonnen hatten, haben wir eine stadtweite Debatte begonnen, über Mietkontrolle und bezahlbaren Wohnraum, die Besteuerung der Reichen und die politische Organisation, die notwendig ist, um die Unternehmens-Elite herauszufordern. Ähnlich wie die Schlussfolgerung, die progressiven Bewegungen in Bernies Wahlkampf 2020 zu tragen, der kämpferischer und auf die Arbeiter*innenklasse ausgerichtet ist.

Kshama Sawant hat vor wenigen Monaten zum zweiten Mal ihre Wiederwahl gewonnen. Der reichste Mensch der Welt, Jeff Bezos, Besitzer von Amazon, investierte viel Geld in den Versuch, sie zu demontieren.

Ja, im November hat Socialist Alternative gemeinsam mit der Arbeiter*innenbewegung in Seattle einen großen Siegüber Jeff Bezos, Amazon und andere große Unternehmen errungen, die versucht hatten, die Stadtratswahl zu kaufen. Aber wir haben die größtmögliche Basisbewegung aufgebaut und gewonnen. Jetzt setzen wir diesen Elan mit einer Koalition zur Besteuerung von Amazon fort, um die bezahlbaren Wohnungen zu bauen, die Seattle braucht.

Was dieser Sieg in Seattle erforderte, war eine straffe Organisation, eine ständige intensive politische Diskussion über die sich verändernden Umstände der Wahl und eine Armee von Aktivist*innen, die täglich von Tür zu Tür gingen, um auf die andauernden Lügen und Angriffe gegen uns zu reagieren.

Aber vor allem war dies eine politische Aufgabe. Unser politischer Ansatz ist ein Ansatz der Bewegungsbildung in Verbindung mit einem entschlossenen Klassenkampf. Wir verbinden dies mit der Notwendigkeit eines grundlegenden sozialistischen Wandels. Wir denken, dass der gleiche Ansatz notwendig ist, damit Bernie gewählt und die Milliardärsklasse besiegt wird.

Die Medien haben lange Zeit versucht, Bernies Kampagne herunterzuspielen, aber er ist jetzt in vielen Umfragen zum Spitzenreiter geworden. Wie ist seine Kampagne so weit gekommen und wie sieht sie im Vergleich zu 2016 aus?

Bernies Kampagne ist radikaler und mehr auf die Arbeiter*innenklasse ausgerichtet als seine Kampagne 2016. Seine Formulierungen, als Präsident der “Organisator an der Spitze” zu werden und auf eine “Regierung der Arbeiter*innenklasse” hinzuarbeiten, haben den richtigen Ton getroffen. Im Gegensatz zu den anderen Kandidat*innen – die so tun, als würden sie den Druck der Wall Street und des Großkapitals nicht erkennen – ist Bernie der erste, der sagt, dass ein bloßer Wahlsieg nicht ausreichen wird. Die arbeitenden Menschen müssen sich organisieren.

Gegenwärtig ist Bernie der Hauptempfänger von Spenden von Landwirt*innen, Lehrer*innen, Arbeitslosen, Einzelhandelsangestellten, Bauarbeiter*innen, Lastwagenfahrer*innen, Krankenpfleger*innen und Busfahrer*innen. Sanders führt bei jeder Umfrage unter Jugendlichen, Frauen und youth of colour. Bernies unmissverständliche Plattform der Arbeiter*innenklasse inspiriert sie bestmöglich, wählen zu gehen.

Die Schlüsselfrage für Millionen von Menschen ist, wer den von Milliardären unterstützten Oberfanatiker, Präsident Trump, besiegen kann – und Bernie ist die beste Wahl. Sein Slogan “Nicht ich, sondern wir” aktiviert Menschen, die normalerweise von der Politik ausgeschlossen sind. Und im Gegensatz zu allen anderen demokratischen Kandidaten, einschließlich Elizabeth Warren, weiß er, dass wir uns im Kampf gegen die Klasse der Milliardäre befinden.

Alexandra-Occassio Cortez [AOC], eine starke Verbündete von Bernie Sanders, sagte kürzlich in einem Interview, dass sie selbst und Joe Biden in jedem anderen Land nicht in derselben Partei wären. Wie lange kann dieser Widerspruch innerhalb der demokratischen Partei bestehen?

Die weit verbreitete Wut auf das Establishment schafft eine Situation, aus der neue Parteien rechts und links von den Demokraten und Republikanern entstehen könnten. Seit 2016 haben wir die Anfänge einer Frauenmassenbewegung gesehen, die durch #MeToo ausgelöst wurde. Es gab Massenproteste von Jugendlichen gegen Waffengewalt und in letzter Zeit gegen den Klimawandel, und die bedeutendste Streikwelle seit Jahrzehnten, die mit der Lehrer*innenrevolte begann und nun auf andere Branchen, einschließlich der Autoindustrie, übergriff. Es gibt ein wachsendes Interesse an sozialistischen Ideen, mehr als je zuvor, wobei die Democratic Socialists of America (DSA) auf 60.000 Mitglieder angewachsen sind.

Das demokratische Establishment weiß, dass das AOC und Bernie eine Bedrohung für das politische Konzept der demokratischen Partei darstellen, die ein zuverlässiger Partner des Großkapitals sein soll. Sie sähen lieber weitere vier Jahre Trump, bevor sie eine Sanders-Präsidentschaft akzeptieren. Tatsächlich würden sie eher die Partei spalten, bevor sie Sanders’ Programm unterstützen. Wenn es Sanders und seinen Millionen Freiwilligen gelingt, alle Hindernisse in der Vorwahl zu überwinden – und es gibt viele, viele Hindernisse – wird er eine Organisation mit zahlreichen Mitgliedern hinter sich brauchen. Er wird eine Partei innerhalb der Partei brauchen, die sich gegen die Sabotage des demokratischen Establishments bei den Präsidentschaftswahlen wehrt.

Es ist immer noch sehr wahrscheinlich, dass Sanders vom demokratischen Establishment blockiert wird, auch wenn er in den Vorwahlen die meisten Stimmen erhält. In einem solchen Szenario müssen die Sanders`Anhängre*innen eine Massenkonferenz einberufen, um die nächsten Schritte für unsere Bewegung zu diskutieren. Im Jahr 2016 hat das politische Establishment Sanders’ Kampagne zugunsten der konzernfreundlichen Demokratin Hillary Clinton zum Scheitern gebracht und Teile der Arbeiter*innenklasse und der jungen Sanders-Anhänger*innen ohne eine linke Alternative entfremdet – aber es besteht die Möglichkeit, eine neue Partei links von den Demokraten zu organisieren. Die Socialist Alternative würde sich dafür einsetzen, dass diese Konferenz die Grundlage für eine Partei der Arbeiter*innenklasse legt, ein Schritt, der für die Zerschlagung der Macht der Milliardärsklasse unerlässlich ist.

Socialist Alternative hat beschlossen, die Kampagne von Bernie Sanders zu unterstützen. Was sind die wichtigsten Gründe für diese Entscheidung?

Zu diesem Zeitpunkt dient Sanders’ Kampagne dazu, die Kräfte zu mobilisieren, die im Interesse der arbeitenden Menschen echte Veränderungen wollen. Als Marxist*innen sehen wir eine Reihe von Schwächen in Sanders’ Politik. Sanders’ Programm lässt Schlüsselfragen unbeantwortet und erklärt seinen Anhängern nicht, dass wir für diese Politik eine völlig andere Art von Gesellschaft brauchen, eine sozialistische Gesellschaft, was bedeutet, ein für alle Mal die Macht der Milliardärsklasse zu brechen. Aber Bernie appellliert eindeutig direkt an die Arbeiter*innenklasse, sich zu organisieren, und das ist ein großer Schritt nach vorn.

Socialist Alternative geht für Sanders’ Kampagne aufs Ganze. Wir legen in unseren Gewerkschaften Resolutionen zur Unterstützung von Sanders vor. Sozialist*innen setzen sich für demokratisch geführte Gewerkschaften ein, die für alle arbeitenden Menschen kämpfen, anstatt nur zu versuchen, sich an das Großkapital und seine Politiker zu klammern. Die Sanders-Kampagne ist eine Gelegenheit, Arbeiter*innen zusammenzubringen, die nicht nur in den nächsten Monaten, sondern auch darüber hinaus gegen den Kapitalismus kämpfen wollen.

Weiter zu gehen, einen Green New Deal für die Arbeiter*innen zu gewinnen, für die Bernie kompromisslos kämpft, bedeutet, die fossile Brennstoffindustrie zu bekämpfen, die von der Zerstörung unseres Planeten profitiert. Dazu muss die Industrie in öffentlichen Besitz überführt und der Übergang zu einem vollständig grünen Energienetz unter demokratischer Kontrolle der Arbeitnehmer*innen organisiert werden – und dabei Millionen von grünen, gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplätzen schaffen.

Um “Medicare for All” zu erreichen, müssen wir die privaten Versicherungen und die großen Pharmakonzerne zerschlagen und ein bundesweites, öffentliches, kostenloses Gesundheitssystem aufbauen.

Wir werden mehr tun müssen, um diese Kampagne zu einer eindrucksvollen Bewegung zu machen und zu gewinnen. Sanders weist in die richtige Richtung, aber die demokratische Partei wird fest von Konzerninteressen kontrolliert und kann nicht in eine Arbeiter*innenpartei umgewandelt werden. Das ist ein Widerspruch, der nicht mehr lange bestehen kann. Wir kämpfen für einen Sieg von Sanders, während wir gleichzeitig die Notwendigkeit einer neuen Partei diskutieren, die auf den Interessen der Arbeiter*innen basiert und Sanders, seine Anhänger und die politische Revolution am besten in die Lage versetzen würde, die Milliardärsklasse ein für alle Mal zu schlagen.