Großbritannien: Brandkatastrophe im Grenfell Tower

Regierungsunabhängige Untersuchung dringend notwendig

Vorbemerkung:

Dieser Artikel erschien am 14. Juni, dem Tag des Brands im Grenfell Tower. Seitdem ist klar geworden, dass sich die Befürchtungen der Socialist Party bewahrheitet haben. Aktuell ist von 79 Toten bzw. noch Vermissten die Rede, die AnwohnerInnen sprechen von mindestens 150 Opfern. Das furchtbare Leid, welches BewohnerInnen und Angehörige durchmachen müssen, hätte verhindert werden können. Die jahrelange Kürzungspolitik der Tories hat fehlende Brandschutzmaßnahmen zu verantworten. Die Fassadenplatten waren der Grund für die extrem schnelle Ausbreitung des Brands. Das Unternehmen Rydon, welches 2015-2016 die Renovierungsarbeiten an der Außenwand des Gebäudes leitete, entschied sich bei der Materialauswahl der Fassadenplatten für die nicht feuerresistente, billigere Option. Pro Quadratmeter waren das zwei britische Pfund. Die Toten vom Grenfell Tower starben am kapitalistischen Profitsystem. Sie waren Menschen aus der Arbeiterklasse und der einfachen Bevölkerung. Sie starben, weil sie arm waren und nicht in den Luxusappartements von Kensington ein paar Straßen weiter wohnen konnten, wo es keine Probleme mit dem Brandschutz gibt.

Das wurde auch den Menschen aus dem Stadtteil klar. Die Untätigkeit der Kommunalräte, die nichts zur Unterbringung der obdachlosen Betroffenen beitrugen, veranlasste die Nachbarinnen und Nachbarn die Spenden zu verwalten und Hilfe selbst zu organisieren. Ihre Wut drückt sich in den bewegenden Fernseh-Interviews und den kämpferischen Protesten aus. Am Freitag stürmten hunderte die Stadthalle in Kensington und forderten eine unabhängige Untersuchung und Gerechtigkeit. Weitere Proteste sind abzusehen. Nach Jahren der Austerität führt diese Katastrophe zu einer weiteren Radikalisierung und zur Entwicklung von Klassenbewusstsein. All das vor dem Hintergrund der Krise der Tory-Regierung nach den kürzlichen Parlamentswahlen, bei denen Labour unter dem sozialistischen Vorsitzenden Jeremy Corbyn das beste Ergebnis seit über zwanzig Jahren erzielte.

Die Socialist Party versucht, diese Entwicklungen zu befördern, gibt Hilfestellungen bei der Organisierung von Mietergruppen und schlägt einen Mieterblock auf einer Großdemo gegen die Regierung am 01. Juli vor. Sie unterstützt die Forderung von Labour-Chef Jeremy Corbyn, die 1399 leerstehenden Häuser im Bezirk für die so dringend notwendige Unterbringung von Obdachlosen zu verwenden. Eine sozialistische Wohnungspolitik würde massiv in Wohnraum investieren, um auf der Grundlage der Verstaatlichung der Banken und der großen Baukonzerne günstige Mieten und sicheren Wohnraum für alle zu Verfügung zu stellen. Weiteres Material auf Englisch findet sich hier.

Video von Channel 4 mit Stimmen von AnwohnerInnen

 

Das Feuer im Grenfell Tower im Westen Londons verteilte sich in grauenhafter Geschwindigkeit. AugenzeugInnen beschrieben herzergreifende Szenen, bei denen AnwohnerInnen versuchten zu entkommen. Es ist eine furchtbare Tragödie, die eine Welle des Mitgefühls und der Solidarität mit den AnwohnerInnen und betroffenen Familien auslöste.

Von Paul Kershaw, Socialist Party in London

Wir wissen bereits von Todesfällen und 74 Menschen wurden in Krankenhäuser gebracht. Über zwanzig Sanitäterteams waren im Einsatz. Die genauen Details werden in der nächsten Zeit sicher bekannt werden, doch die Courage der Feuerwehrkräfte und der lokalen AnwohnerInnen ist bereits jetzt offenkundig. Wir verneigen uns vor dem Mut der Feuerwehrkräfte, der lokalen AnwohnerInnen und Sanitäterteams, welche mit selbst aufopfernder Geschwindigkeit reagierten.

Doch neben dem riesigen Mitgefühl und der Trauer fühlt die lokale Bevölkerung große Wut. Mitglieder der Gewerkschaft Unite, die im Wohnungsbereich arbeiten, berichten von AnwohnerInnen in ganz London, die an diesem Morgen auf sie zugegangen sind und in Folge des Unglücks ihre eigenen Ängste offenbarten. Es gibt eine reale Angst, dass die Anliegen der BewohnerInnen ignoriert wurden und das fürchterliche Ereignis vielleicht hätte vermieden werden können.

Es gab in der Vergangenheit bereits Probleme mit der Wartung des Blocks und AnwohnerInnen hatten ihre Sorgen bezüglich des Brandschutzes zum Ausdruck gebracht. Die Anwohnergruppe „Grenfell Action Group“ sagte, sie hätten mehrfach die Eigentümer, den Tory-Stadtrat von Chelsea und Kensington und die Verwaltung des Blocks, auf „sehr niedrige Brandschutzstandards“ im Hochhaus hingewiesen. Sie meinen ihre Warnungen wären „auf taube Ohren“ gestoßen.

Obwohl Kensington und Chelsea die reichste Gegend in Großbritannien ist, gibt es auch viele AnwohnerInnen aus der Arbeiterklasse. Tatsächlich ist die Wut über die Wohnungssituation im Bezirk einer der Faktoren hinter dem Überraschungssieg der Labour-Kandidatin in den Wahlen von letzter Woche. Ihr Wahlkampf drehte sich vor allem um Wohnraum.

Der Rat an die AnwohnerInnen war, dass sie beim Brandfall in ihren Wohnungen bleiben sollten, weil die Branddämmung den Einsatzkräften Zeit für ihre Rettung geben würde. Die Überlebenden berichteten, wie froh sie darüber waren, dass sie angesichts der schnellen Ausdehnung des Brands diesen Ratschlag ignorierten.

Offene Fragen zur Renovierung

Zeugen sprechen von der erst kürzlich am Hochhaus angebrachten äußeren Fassadenverkleidung. Es kommt die Frage auf, wie feuerresistent diese Materialien waren. Das sind Fragen, die im Wohnungsbereich nicht neu sind. Interessanterweise berichtet Dawn Foster vom Guardian, dass die Firma, die für die Renovierungen der Fassade und der Umrüstungen am Grenfell Tower verantwortlich war, alle Bezüge zur Renovierung von ihrer Website genommen hat.

Die Londoner Feuerwehr beschriebt die Situation als „beispiellos“. Matt Wrack von der Feuerwehrgewerkschaft FBU sagte, es sollte gar nicht möglich sein, dass sich das Feuer auf diese Art und Weise entwickeln kann. Die Gewerkschaft fordert eine größere Untersuchung des Falles; eine Forderung, die von der Wohnabteilung der Gewerkschaft Unite ebenfalls erhoben wird.

Wie schon zuvor bei den kürzlich erfolgten Terroranschlägen bringt dieses furchtbare Ereignis die Tatsache zurück ins Gedächtnis, dass die Zahl der Feuerwehrkräfte in London um 550 gekürzt wurde. Zehn Wachen wurden geschlossen und bei anderen die Ausstattung gekürzt. Die Zahl der Feuertoten ist im letzten Jahr gestiegen und die Wartezeiten in den Notfallabteilungen sowie die Reaktionszeiten der Rettungskräfte verfehlen die Ziele. Das NHS steht vor der Belastungsgrenze und dennoch auch vor weiteren Kürzungen.

Landesweite Folgen

Die Ursachen des Feuers sind noch nicht bekannt, doch es muss befürchtet werden, dass die genannten Punkte auf ein inakzeptables Risiko im ganzen Land hindeuten.

Die All-Parteien-Parlamentariergruppe, die sich mit Brandschutz und Rettung befasst, fordert seit Jahren eine Überprüfung der Bauvorschriften. Mängel wurden nach dem zerstörerischen Hochhausbrand im Lakanal House in Southwark von 2009 aufgedeckt, bei dem sechs Menschen starben. Sie beinhalteten zu wenige Brandrisikoeinschätzungen und Fassadenplatten, die nicht genügend feuerresistent waren.

Im letzten Oktober wiederum sagte Wohnungsminister Gavin Barwell im Unterhaus, dass die Regierung 2010 „in Folge des Lakanal-House-Brands“ den Abschnitt B der Bauvorschriften überprüfen wird, welcher sich mit Brandschutz befasst. Ronnie King, ein ehemaliger Hauptfeuerwehrmann und Sekretär des Parlamentarischen Komitees meinte, dass die Bauvorschriften „die Untersuchung vom Lakanal-House-Brand oder neuere anerkannte Erkenntnisse nicht berücksichtige“. (Inside Housing, 7. März 2017)

Der Punkt war, dass Fassadenverkleidung zur Wärmedämmung tatsächlich den Brandschutz untergrub. Das Magazin Inside Housing konnte keinen Termin für die Regierungsüberprüfung zu dieser Zeit in Erfahrung bringen. Gavin Barwell war der verantwortliche Wohnungsminster zu der Zeit, da die Bauvorschriftsüberprüfung verschoben wurde. Er verlor in der letzten Woche seinen Sitz bei den Wahlen, wurde aber schnell zu Theresa Mays neuem Stabschef.

Eine Änderung der Bauvorschriften wäre keine angemessene Reaktion, da bereits bestehende Bauten nicht überprüft werden müssten. Die finanziellen Kosten wären bedeutend – doch Austerität darf kein Grund sein, dass man nicht rechtzeitig reagiert.

Es ist wichtig, dass den 400 bis 600 jetzt Obdachlosen schnell neuer, sicherer und bezahlbarer Wohnraum in lokaler Umgebung zu Verfügung gestellt wird. Die Regierung muss schnell handeln und Gerede vom fehlenden Geld kann in solch einer Situation nicht akzeptiert werden.

Wir brauchen eine tiefgehende Untersuchung des Grenfell House Brands und der daraus resultierenden Folgen für die landesweite Wohnungspolitk. Diese Untersuchung muss unabhängig von der Regierung sein. Ihr muss frei stehen, die Folgen von Ausgabenkürzungen zu benennen und Empfehlungen abzugeben, die bei der Sicherheit keine Kompromisse wegen der Austerität machen. Sie muss von Gewerkschaften und Anwohnergruppen angeführt werden und sich auf unabhängige Experten stützen.

Alle Kommunen sollten sofort die Sicherheit in jedem Wohngebiet untersuchen. Ohne Ausreden wegen Kürzungen sollte dringend in sichere Baustoffe, angemessene Notausgänge, Wohnraum usw. investiert werden.

Labour-Kommunalräte sollten sich weigern jede weitere Kürzung umzusetzen. Stopp aller Privatisierungen bei Wohnungen, Reparaturen und Renovierungen!

Sadiq Khan, der Bürgermeister von London, sollte sofort alle Kürzungen bei der Londoner Feuerwehr rückgängig machen.

Bob Sulatycki, Mitglied der Socialist Party in Westlondon kommentierte:

„Es ist jetzt schon klar abzusehen, dass das hier kein tragischer Unfall ist, sondern das vorhergesehene und kriminelle Ergebnis der Kürzungspolitik, der Privatisierungen, des Mangels an demokratischer Rechenschaft und der sturen Nachlässigkeit, die landesweit wie lokal auf der Tagesordnung stehen.

Alle MieterInnen in Sozialwohnungen aus der Gegend und darüber hinaus werden über die Wichtigkeit der Ereignisse nachdenken. Die Mittel des NHS für die Gegend werden weiterhin gekürzt, einschließlich der Notaufnahmen bei lokalen Krankenhäusern. Sie behandeln gerade die Verletzten und stehen gleichzeitig vor Kürzungen und Schließungen.“