Das griechische Paradoxon

Warum die üblichen Erklärungen zur Schuldenkrise zu kurz greifen

Es erscheint widersinnig: Die Menschen in Griechenland sind immer ärmer geworden, aber die Schulden sind trotzdem immer weiter gestiegen. Jeden Tag droht die Zahlungsunfähigkeit. Wo ist das Geld geblieben?

von Georg Kümmel, Köln

Während die Staatsschulden im Jahr 2008 bei 265 Milliarden Euro lagen, ist der Schuldenberg Anfang 2015 auf 320 Milliarden Euro angewachsen. Dazwischen gab es sogar einen Schuldenschnitt, bei dem Gläubiger auf Forderungen in Höhe von circa 100 Milliarden Euro verzichtet haben sollen. Bislang haben die Euro-Mitgliedsländer und der Internationale Währungsfonds (IWF) im Rahmen der sogenannten „Rettungspakete“ rund 230 Milliarden Euro Kredite an Griechenland vergeben. Demnach müsste im Durchschnitt jeder einzelne Grieche, vom Baby bis zum Greis, 21.000 Euro Kredit bekommen haben. Tatsächlich gibt es aber eine in Friedenszeiten nie dagewesene Verarmung des ganzen Landes.

Erklärungsversuch „Verschwendung“

Natürlich lassen sich viele Beispiele für Korruption, Misswirtschaft und Verschwendung in Griechenland anführen. Aber das erklärt noch nicht den besonderen Charakter der Krise. Steuerhinterziehung und Verschwendung gibt es überall, das ist der Normalfall im Kapitalismus. Deutschland leistet sich Dutzende irrsinnige, teure Großprojekte: Elbphilharmonie, Kölner U-Bahn, Stuttgart 21… Auch in Deutschland gibt es Umsatzsteuerbetrug in großem Stil, der Schaden wird auf 15 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Ganz zu schweigen von den Milliardenbeträgen, die legal und illegal in Steueroasen versteckt werden.

Erklärungsversuch „Bankenrettung“

Die griechischen Banken, aber insbesondere deutsche und französische Banken und weitere private Gläubiger, wurden vom drohenden Ausfallrisiko ihrer an Griechenland vergebenen Kredite befreit. Über die „Rettungsschirme“ EFSF und ESM wurden ihnen ihre griechischen Staatsanleihen abgekauft. Die Gläubiger wechselten, der Schuldner blieb derselbe: Griechenland. Das Kreditausfallrisiko wurde fast komplett verstaatlicht. Im Jahr 2010 waren die Kreditgeber fast ausschließlich Banken und der gesamte private Finanzsektor; heute halten diese nur noch elf Prozent der Forderungen. Fast 90 Prozent seiner Schulden hat Griechenland nun bei den Staaten des Euro-Raums. Griechenland hat sich also weiter verschuldet (via ESFS und ESM), um die Forderungen der Banken weiter bedienen zu können.

„Aber die Banken und privaten Gläubiger haben doch beim Schuldenschnitt Anfang 2012 auf über 50 Prozent ihrer Forderungen verzichtet“, mag jemand einwenden. An der Börse, an denen auch diese Forderungen gehandelt wurden, waren sie längst weniger wert, weil klar war, dass Griechenland sie nicht würde zurückzahlen können, jedenfalls nicht auf absehbare Zeit und nicht zu dem vereinbarten (höheren) Zinssatz. Die Alternative wäre also ein Komplettverlust gewesen. Auch der Schuldenschnitt war Teil der Bankenrettung. Die Bankenrettung erklärt, warum das Geld nie bei den Griechen angekommen ist, sie erklärt aber nicht den weiteren Anstieg des Schuldenberges.

Krise der realen Wirtschaft

Entscheidend ist, was sich in der realen Wirtschaft abspielte. Die gesamte Wirtschaftsleistung Griechenlands, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), fiel von 242 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf 182 Milliarden in 2014.

Die Verluste gegenüber dem Jahr 2008 summieren sich damit auf inzwischen 223 Milliarden Euro. Das heißt: Wäre die Wirtschaft nicht geschrumpft, sondern hätte auf dem Niveau von 2008 auch nur stagniert, dann hätten die Griechen Waren und Dienstleistungen von 223 Milliarden Euro mehr geschaffen. Dieser Rückgang der Wirtschaftsleistung entspricht ziemlich genau der Höhe der Kredite aus den sogenannten Rettungspaketen.

Es ist also diese Kombination aus direkter Unterstützung für die (deutschen, französischen, griechischen, …) Banken, aus Zinszahlungen für die Kredite und aus dem dramatischem Rückgang der Wirtschaftsleistung, die zu dem Paradoxon aus wachsender Schuldenlast und wachsender Armut geführt hat. Am teuersten kommt den GriechInnen der Umstand zu stehen, dass immer mehr GriechInnen arbeitslos sind, statt produktiv tätig sein zu können. Offiziell sind 26 Prozent arbeitslos, nach Angaben der Gewerkschaften sogar mehr als jeder dritte.

Politikversagen aus Dummheit?

Die mit den Rettungspaketen verbundenen Kürzungsmaßnahmen haben die bereits angeschlagene griechische Wirtschaft immer tiefer in die Krise gedrückt. Der „griechischen Kuh“, aus der man doch die Rückzahlung der Kredite plus Zinszahlungen melken will, nimmt man also gleichzeitig auch noch das Futter weg. Dass das nicht gut gehen kann, ist offensichtlich.

Sind die Euro-Politiker und Banker zu dumm, um das zu kapieren? Gerade viele in der LINKEN und bei SYRIZA meinen: ja, die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft begreifen das nicht, schätzen das Problem falsch ein; wir müssen ihnen erklären, wie man es richtig macht, wir müssen sie und den Kapitalismus vor sich selber retten. Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis denken so, die Führung der LINKEN in Deutschland auch. Aber der Fehler liegt nicht bei denen, die an der Spitze des Systems stehen, sondern im System selbst. Sie sind darin gefangen. Dem Kapitalismus kann man nicht mit Vernunft kommen.

Vernünftig wäre es, in Griechenland (und jedem anderen Land) einen Wirtschaftsplan zu erstellen und die Arbeitskräfte sinnvoll einzusetzen. Man würde alle Erwerbsfähigen sinnvolle Arbeit machen lassen. ArbeiterInnen und IngenieurInnen würden Solaranlagen bauen, ÄrztInnen und PflegerInnen würden wieder Kranke pflegen, Obdachlose in leerstehende Wohnungen einziehen. Man könnte ordentliche Löhne zahlen, weil von den Arbeitenden ein Gegenwert geschaffen würde. Das wäre vernünftig.

Aber Kapitalismus folgt nicht den Regeln der Vernunft, sondern den Regeln von Profit und Konkurrenzkampf. Im Konkurrenzkampf zu Dollar und Yen wurde der Euro geschaffen. Die gleiche Währung, aber geringere Produktivität führten dazu, dass Produkte griechischer Firmen nicht mehr konkurrenzfähig waren. Das Außenhandelsbilanzdefizit stieg von Jahr zu Jahr.

Dann kam die globale Wirtschaftskrise 2008, die drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands, die „Rettungspakete“, die alles nur noch schlimmer machten. Das alles hat seine Logik.

Es ist die Logik des Kapitalismus, der zu ungleicher Entwicklung und immer wieder zu neuen Krisen führt, deren Folgen immer wieder den Arbeitenden und Arbeitslosen aufgebürdet werden. Die Idee, man könne den Kapitalismus besser managen als die Kapitalisten, ist zum Scheitern verurteilt. Die Lösung liegt im Kampf – gegen die Kürzungsdiktate und für die Überwindung des Kapitalismus.