Der Professor und das Proletariat

Foto: https://www.flickr.com/photos/igmetalljugend/ CC BY-NC-SA 2.0
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Warum es wenig Proteste gibt – aber die nächste Revolution schon unterwegs ist

„Warum heute keine Revolution möglich ist“, ist ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 2. September überschrieben. Er stammt von Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Seine Thesen können auf einer Stimmung aufbauen, die zur Zeit unter vielen linken AktivistInnen in der Bundesrepublik besteht und diese verstärken. Deshalb wollen wir in diesem Artikel aufzeigen, wie falsch Professor Han liegt.

Von Georg Kümmel

Warum sind hier nur so wenige? – ist eine Frage die man derzeit häufig auf den viel zu kleinen Demos gestellt bekommt. Diese Frage ist aber unausgesprochen in den Köpfen von Millionen. Da wundert es nicht, dass auch aus den Reihen der Intellektuellen pessimistische Schlussfolgerungen gezogen werden und versucht wird diesen Pessimismus mit Argumenten zu untermauern.

Professor Han behauptet: „Die systemerhaltende Macht ist nicht mehr repressiv, sondern verführend.“ Früher, in der Industriegesellschaft seien die Macht-Verhältnisse klar gewesen: ausgebeuteter Fabrikarbeiter auf der einen Seite, ausbeutender Fabrikbesitzer auf der anderen. Das neoliberale System heute sei ganz anders strukturiert. „Es gibt kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, der die Freiheit unterdrückt und gegen den ein Widerstand möglich wäre. Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt der Gesellschaft.“

Am Beispiel der Entwicklungen in Südkorea nach der Asienkrise versucht er zu erklären, der Neoliberalismus sei von Repression, die Widerstand erzeugt, übergegangen zur Botschaft der individuellen Freiheit. Ergebnis sei, dass es in Südkorea (und allgemein) kaum mehr Widerstand gegen das System gebe, stattdessen würden die Menschen die Schuld für Probleme bei sich selber suchen, was zu Burn-out und hoher Suizid-Rate führe:

„Die Aggression nach außen, die eine Revolution zur Folge hätte, weicht einer Selbstaggression.“

Früher habe es Konkurrenz zwischen Unternehmen gegeben aber Solidarität der Beschäftigten innerhalb des Unternehmens. Das sei jetzt anders: „Heute konkurriert jeder mit jedem, auch innerhalb eines Unternehmens.“ Und: „Man kann den Neoliberalismus nicht marxistisch erklären. In ihm findet nicht einmal die berühmte „Entfremdung“ von der Arbeit statt. Heute stürzen wir uns mit Euphorie in die Arbeit bis zum Burn-out.“ Seine Schlussfolgerung: „Burn-out und Revolution schließen sich aus.“

Euphorische Beschäftigte?

Wie gesagt, setzt Han teilweise bei einer real vorhandenen Stimmung und Bewusstsein an. Bis in die 1980er Jahre galt in den Gewerkschaften der Grundsatz „Lohnverzicht schafft und sichert keine Arbeitsplätze“. Aber schon lange vertreten die Gewerkschaftsführer im Kern die gegenteilige Position. Lohnzurückhaltung, Überstunden, Arbeitszeitkonten, Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung werden als notwendige Opfer für den Erhalt der Arbeitsplätze verkauft. Das hat unter den Beschäftigten für Verwirrung gesorgt, insbesondere, weil die wirtschaftliche Erholung in Deutschland nach der Krise 2008/2009 die neue Position zu bestätigen scheint. Von Überzeugung oder gar „Euphorie“ bei den Lohnarbeitenden kann aber keine Rede sein. Jede/r, der oder die in letzter Zeit mal Betrieb von innen gesehen hat, weiß das.

Es stimmt auch, dass in Zeiten, in denen es relativ wenig kollektive Gegenwehr gibt, viele Menschen nach individuellen Lösungen (und auch Schuldzuweisungen) für ihre Misere suchen. Völlig falsch ist es aber, ein Ende der Solidarität unter den Beschäftigten zu schlussfolgern. Professor Han hat offensichtlich wenig von Marx gelesen oder verstanden. Marx und Engels schreiben im ‚Kommunistischen Manifest‘: „Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, … setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation.“ (Assoziation meint hier Zusammenschluss im Sinne erster Ansätze betrieblicher oder gewerkschaftlicher Organisierung.) Marx und Engels erklären also bereits, dass der Kapitalismus beides macht: er setzt die Beschäftigten in Konkurrenz zueinander und schafft gleichzeitig die Bedingungen für ihren Zusammenschluss.

Vergessene Klassenkämpfe

Professor Han macht in seinem Artikel dasselbe, was auch die bürgerlichen Medien tun: er unterschlägt oder vergisst einfach die vielen kleinen und großen Kämpfe, die es auch in den letzten Jahren gab und gibt.

Tatsächlich leben wir in einer Periode von Massenbewegungen, die durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise seit 2007/08 eingeleitet wurde. In den letzten Jahren haben wir nicht nur die revolutionären Bewegungen des so genannten „Arabischen Frühlings“ gesehen, sondern auch riesige Massenbewegungen in der Türkei, Brasilien, Hongkong. In Spanien gab es im Frühjahr diesen Jahres die größte Demonstration der Geschichte. Griechenland wurde von über dreißig Generalstreiks erschüttert. In Irland demonstrierten am 12. Oktober 100.000 gegen die Einführung von Wassergebühren. Anfang 2013 beteiligten sich über 100 Millionen ArbeiterInnen in Indien am wahrscheinlich größten Generalstreik der Geschichte. Den Medien hier war das höchstens eine kleine Meldung wert. Und auch in Deutschland war bis vor zwei Jahren viel die Rede von der „neuen Protestkultur“ und dem „Wutbürger“, gab es Großdemonstrationen gegen Stuttgart 21, Castor-Transporte, Nazi-Aufmärsche etc.

Neben solchen Massenbewegungen gibt es permanent Streiks und soziale Kämpfe, mal größer, mal kleiner. Die Seite streikradar.de, informiert Reisende über Streiks im Flug- und Bahnverkehr. Von Mitte Mai bis Mitte September 2014 werden folgende Streiks aufgeführt: Streik in Frankreich (Öffentlicher Dienst), Streik Aer Lingus (Irland), Streik London (Airportzubringer), Streik in London (Techniker der U-Bahn), Bahnstreik in Italien, Bahnstreik in Frankreich, Fluglotsenstreik in Frankreich, Streik bei belgischer Bahn, Streik bei Lufthansa, Streik in Madrid (Airport-Beschäftigte), Fluglotsenstreik Italien, Bahnstreiks in Deutschland, Pilotenstreik Air France. London-Heathrow Streik Abfertigungspersonal.

Die Zahl der Streiktage bezogen auf alle Beschäftigten ist in Deutschland tatsächlich weiter niedrig. Aber es gibt eine hohe Streikbereitschaft, wenn die Gewerkschaftsführung (einigermaßen gut vorbereitet) aufruft. Über neun Monate zog sich der Streik im Einzelhandel im vergangenen Jahr. Über 200.000 Beschäftigte bei Bund und Kommunen beteiligten sich im März an der zweiten Warnstreikwelle. Die Lokführer stimmten Ende September mit 91 Prozent für Streik.

Repressiv oder verführerisch?

Ob die Herrschenden zu offener und gewalttätiger Repression von Protesten greifen oder andere Mittel einsetzen, ist von Land zu Land und Situation zu Situation unterschiedlich. Je mehr Sympathien ein Protest in der Bevölkerung hat, desto eher kann offene Repression verhindert werden. Das gilt aber auch nur so lange, wie es mit anderen Mitteln gelingt, eine Bewegung in bestimmten Grenzen zu halten. Im Hintergrund steht immer der bewaffnete Staatsapparat bereit. Die Bilder futuristisch aussehender Robocops im Einsatz gegen die Menschen in Ferguson oder ähnlich gegen die DemonstrantInnen gegen Stuttgart 21 oder die Blockupy-TeilnehmerInnen vor der EZB-Zentrale in Frankfurt, die prügelnde Polizei in Chile, Brasilien, Türkei, Griechenland sind die Realität, ebenso wie die Verschärfung des Demonstrationsrechts und allgemein der Abbau demokratischer Rechte, die Aufrüstung der Polizei in vielen Ländern.

Ein kurzer Streik von Lokführern oder Piloten reicht aus, um seitens der „systemerhaltenden Macht“ sofort nach Verbot von Streiks zu rufen und gesetzlichen Regelungen gegen kleine, kämpferische Gewerkschaften zu fordern. In Griechenland drohte die Regierung ganz real damit, streikende Lehrer ins Gefängnis zu bringen oder zu entlassen. In Spanien wurde das Militär als Streikbrecher gegen Fluglotsen eingesetzt, die die Arbeit niedergelegt hatten.

Die Theorie von der nicht-repressiven, verführerischen Macht sind Hirngespinste. Richtig bleibt lediglich, dass die jeweils Herrschenden es bevorzugen, ideologisch zu herrschen statt mit purer Repression. Marx und Engels haben bereits im Manifest den berühmten Satz geprägt: Die Herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden. Ein wichtiger Teil dieser Ideen ist, dem ‚Volk‘ einzutrichtern, dass es sich nicht auf sich selbst, seine eigene Kraft und Stärke verlassen könne, dass Widerstand daher aussichtslos sei. Ironie der Geschichte: Es ist die Funktion von Artikeln wie dem von Professor Han (und den kapitalistischen Medien ganz allgemein). eben diese Ideologie der angeblichen Machtlosigkeit zu verbreiten und so Sprachrohr für die Ideen der Herrschenden zu sein.

Revolution unmöglich?

Bevor man behauptet, eine Revolution sei unmöglich geworden, sollte man den Begriff klären. ‚Revolution‘ ist nicht gleichbedeutend mit ‚erfolgreiche Revolution‘. Revolution im Zusammenhang mit dem Kampf der abhängig Beschäftigten, der Armen, Unterdrückten in dieser Welt meint zunächst nur, dass nicht nacheinander nur dieser oder jener Teil von ihnen auf die Straße geht, wie das zumeist der Fall ist. Revolution bedeutet, dass die Menschen massenhaft, also zeitgleich aufbegehren, gemeinsam, auf die Straße gehen, oft mit dem Ziel die Regierung zu stürzen. Klassisch waren die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die Ben Ali und Mubarak zu Fall brachten. In Portugal, Spanien, Griechenland gab es wiederholt Massenproteste gegen die Kürzungspolitik. Die jüngsten Massenproteste in Hongkong haben ebenfalls revolutionäre Elemente.

Im Endeffekt behauptet Professor Han, dass es keine Massenbewegungen mehr geben wird, die eine Regierung oder weitergehender, das kapitalistische System in Frage stellen werden. Diese Idee ist nicht neu. Immer wieder wurden die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt für tot erklärt. (Mit Arbeiterklasse ist die Gesamtheit aller abhängig Beschäftigten gemeint, einschließlich derer, die gelegentlich oder dauerhaft keinen Job haben und einschließlich der SchülerInnen, Studierenden, RentnerInnen, die das Arbeitsleben noch vor oder schon hinter sich haben). Oft genau kurz vor dem Ausbruch von Revolutionen oder revolutionärer Bewegungen. Mit Hinblick auf die große Ruhe in der Gesellschaft titelte die Zeitung ‚Le Monde‘ am 15. März 1968. „Wenn Frankreich sich langweilt“. Im Mai 68, keine zwei Monate später, rollte eine revolutionäre Welle durch das Land, die den Kapitalismus in Frankreich in Frage stellen sollte.

Sein und Bewusstsein

„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ 1

MarxistInnen haben ein unerschütterliches Vertrauen in die Arbeiterklasse. Grundlage für dieses Vertrauen ist nicht etwa ein religiös oder moralisch motivierter Glaube, dass die arbeitenden Menschen irgendwie von Natur aus edel und gut seien. Grundlage ist die Erkenntnis von Marx, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Das gesellschaftliche Sein unter den Bedingungen des niedergehenden Kapitalismus zwingt die Arbeiterklasse immer wieder sich zu wehren – direkt aus den Betrieben mit dem Mittel des Streiks oder in Form sozialer Bewegungen. In diesen Kämpfen werden Fragen gestellt und nach Antworten gesucht, hauptsächlich so entwickelt sich politisches Bewusstsein.

Das Unverständnis über diesen Zusammenhang rührt entweder aus der Leugnung desselben oder aus der falschen Annahme, dieser sei mechanisch. Sein und Bewusstsein seien starr mit einander verbunden, wie Zahnräder in einem Getriebe.

Das Bewusstsein verändert sich eben nicht automatisch und vor allem nicht im selben Maße wie sich das Sein verändert. Das Bewusstsein folgt dem Sein immer mit Zeitverzögerung und auf verschlungenen Wegen. Umwege, Stillstand und selbst Rückwärtsbewegungen bei der Entwicklung des Bewusstseins sind nicht die Ausnahme, sondern historisch betrachtet die Regel.

Es ist wie bei zwei tektonischen Platten, die mit großem Druck gegeneinander geschoben werden. Ihre Bewegungen folgen nicht unmittelbar dem wachsenden Druck – wenn das so wäre, gäbe es keine Erdbeben. Vielmehr bauen sich Spannungen auf, die sich dann schlagartig in kleineren oder größeren Erdbeben mit den damit verbundenen Verwerfungen entladen. Der russische Revolutionär Trotzki hat einmal erklärt, dass es ja gerade deshalb Revolutionen gibt, weil die Bewegung von Sein und Bewusstsein die meiste Zeit nicht im gleichen Tempo stattfinden. In der Revolution holt das Bewusstsein die Bewegung nach, die es jahrelang versäumt hat. Das Bewusstsein macht eine Sprung.

Die Menschen setzen die Geschwindigkeit von Entwicklungen für gewöhnlich ins Verhältnis zu ihrer eigenen Lebensspanne. Da können ein paar Jahre sehr lang werden. Ein oder zwei Jahrzehnte sind bereits eine Ewigkeit. Seit mittlerweile rund dreißig Jahren erleben wir in den westlichen Industrienationen Reformabbau. Die Arbeits- und Lebensbedingungen wurden und werden tendenziell immer härter. Beschleunigt wurde diese Entwicklung mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in den Ländern Osteuropas. Angesichts dieser Entwicklungen ist der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit von Widerstand und der geringen Zahl an Protesten in Deutschland tatsächlich schwer erträglich.

Verantwortung

Die Verantwortung für diesen Widerspruch schieben viele Intellektuelle, aber auch die prokapitalistischen Führer in Gewerkschaften und selbst Teile der Linken/LINKEN den Massen zu. ‚Wir können nichts bewegen, weil die sich nicht bewegen‘. Das ist ebenfalls nicht besonders neu.

Die falsche Vorstellung, es könnte eine neue Zeit angebrochen sein, in der Proteste (Streiks, Demonstrationen gegen Sozialabbau etc.) dauerhaft auf niedrigem Niveau einschlafen, diese falsche Vorstellung hängt mit einer völligen Fehleinschätzung des Kapitalismus zusammen. Seine Möglichkeiten, einer Mehrheit in der Gesellschaft ein auskömmliches Leben zu garantieren, werden falsch beurteilt. Der Nachkriegsaufschwung endete in den 70ern. Während dieser ca. 25 Jahre währenden Aufschwungphase und zum Teil noch eine Weile danach, konnten viele Zugeständnisse erkämpft werden. Aber Ende der 70er, Anfang der 80er wendete sich das Blatt auch auf der politischen Ebene. In Großbritannien mit Thatcher, in den USA mit Reagan setzte eine Phase von Konter-Reformen ein. In der Bundesrepublik geschah das, zunächst noch zögerlich, unter der Kohl-Regierung. Ein Flügel der damaligen Jungsozialisten in der SPD vertrat die Theorie der 2/3 Gesellschaft. Der Kapitalismus würde 1/3 der Gesellschaft materiell abhängen, aber 2/3 der Gesellschaft werde es weiter gut gehen. Deshalb könne man mit den alten Klassenkampfkonzepten nicht weiter kommen. Heute, 30 Jahre später, haben wir die 2/3 Gesellschaft – nur im umgekehrten Verhältnis. Und selbst für die, die zum oberen Einkommens-Drittel der Gesellschaft, aber nicht zu den Superreichen hören, haben sich viele Bedingungen verschlechtert. In den USA spricht man (etwas übertrieben aber populär) von den 99 Prozent, die mittlerweile auf der Verliererseite stehen. Dass der Kapitalismus der Mehrheit nichts mehr zu bieten hat, lässt sich bildhaft an den Wahlergebnissen ablesen. Bei den Europa und Landtagswahlen in 2014 wählten nur noch rund 1/3 aller Wahlberechtigten eine der etablierten Parteien CDU, SPD, Grüne, FDP (Sachsen 30 Prozent, Thüringen 29 Prozent, Brandenburg 30 Prozent, Europawahl 37 Prozent).

Verschoben – nicht aufgehoben

Richtig ist, dass wir seit Jahren eine schmerzhafte Verzögerung des revolutionären Prozesses erleben. Zuallererst muss man jedoch zu Kenntnis nehmen, dass wir uns weltweit bereits in einer Phase von Revolutionen und Konterrevolutionen befinden.

Aber die Arbeiterklasse zahlt bis heute den Preis dafür, dass die Führung ihrer Organisationen jahrzehntelang entweder den Stalinismus fälschlicherweise als sozialistische Alternative zum Kapitalismus angeboten hat oder Illusionen in einen zähmbaren, sozialen, friedlichen Kapitalismus verbreitet hat. Der Zusammenbruch der nicht-kapitalistischen Staaten vor 25 Jahren war für die Arbeiterklasse eine Niederlage von welthistorischem Ausmaß. Sie hat die Arbeiterbewegung für eine ganze historische Epoche politisch und folglich auch organisatorisch zurück geworfen. Das war nur möglich, weil abgesehen von den zahlenmäßig sehr schwachen Kräften des originären Trotzkismus, niemand auf der Linken diesen Zusammenbruch theoretisch für möglich gehalten hat. Auch im Nachhinein wir die Ursache für den Zusammenbruch der nicht-kapitalistischen Länder nicht korrekt erklärt. Bis heute weigert sich praktisch die gesamte Führung von Gewerkschaften und linken Organisationen in der ganzen Welt, die einfache Tatsache anzuerkennen, dass die entscheidende Ursache in der Existenz einer privilegierten Bürokratie bestand und, damit verbunden, fehlender Demokratie. Das einzusehen, würde allerdings bedeuten, die eigenen Privilegien als Gewerkschaftsführer oder Parlamentsabgeordneter als Problem zu sehen. So viel Einsicht darf man von den Privilegierten nicht erwarten.

Das hat zu der Situation geführt, dass dort, wo die Folgen der Krise des Kapitalismus am dramatischsten sind, reaktionäre Kräfte in dieses Vakuum gestoßen sind und es teilweise gefüllt haben. Das Fehlen einer linken Führung, die eine Alternative zum Kapitalismus anbietet, hatte zur Folge, dass die Revolutionen und Aufstände in den arabischen Ländern (und zuletzt in der Ukraine) in Konterrevolutionen und Bürgerkrieg umgeschlagen sind. Das Fehlen einer starken politischen Linken, die eine Systemalternative und damit einen Ausweg aus der kapitalistischen Misere anbietet, hat dazu geführt, dass nach unzähligen Streiks und Massenprotesten in den europäischen Krisenländern sich eine gewisse Demoralisierung breitgemacht hat. Diese Niederlagen haben wiederum Auswirkungen auf das Bewusstsein und die Bereitschaft zum Protest, nicht nur in diesen Ländern, sondern weltweit.

Niedergang hat Folgen

Auf die Frage, ‚warum wehren sich nur so wenige?‘, lautet die (vereinfachte) Antwort: weil es das kollektive Gefühl gibt: ‚Das bringt doch nichts.‘

Aber, und das ist der große Unterschied zwischen marxistischer Analyse und oberflächlichem, professoralem Pessimismus, diese Entwicklungen sind nicht das Ende der Geschichte. Der Kapitalismus ist ein System im Niedergang. Alles was an Wohlstand und demokratischen Freiheiten erkämpft wurde, wird durch die Krise des Kapitalismus in Frage gestellt. Was gestern wie eine Ausnahme aussah, (Griechenland) erfasst bereits weitere Länder. Wo gestern Friede war, kann morgen Krieg sein. Die stetig fortschreitende Umweltzerstörung wird zu noch größeren „Natur“- Katastrophen führen. Die breite Masse ist lernfähig, sie lernt aus ihren Erfahrungen. Alle Ideen werden getestet werden. Das Programm der Reformisten in der Arbeiterbewegung, die den Kapitalismus für reparierbar und reformierbar halten, wird scheitern. Auch die Ideen der rechten, religiösen und rassistischen Kräfte, die ebenfalls nur den Kapitalismus verteidigen, wird diejenigen enttäuschen, die als lauter Verzweiflung darin ihre Hoffnungen gesetzt hatten.

Dieser Lernprozess kann beschleunigt werden oder sich verzögern. Je langsamer der politische und organisatorische Wiederaufbau der Arbeiterbewegung vonstatten geht, je länger dieser Prozess dauert, desto höher und schrecklicher wird der Preis sein, den die Menschheit dafür bezahlt. Es wird neue Revolutionen geben, aber jeder Revolution, die scheitert, weil es an klarem Ziel, Organisation, Führung fehlt, wird abgelöst durch zunehmend blutige und barbarische Konterrevolution.

Es ist die Aufgabe jedes denkenden Menschen, diesen Prozess zu verkürzen, persönlich Verantwortung für das gemeinsame Schicksal der Menschheit zu übernehmen, aktiv zu werden. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den Ansichten des Philosophie-Professors Han und der Grundidee des Marxismus. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ 2

Weil es mit der kapitalistischen Wirtschaft tendenziell weiter bergab gehen wird, wird es neue, größere Proteste und auch neue Revolutionen geben. Daraus aber zu schlussfolgern, es gäbe heute so wenig Widerstand, weil es den Menschen noch ‚zu gut‘ gehe, wäre falsch. Dazu ein Zitat von Friedrich Engels:

„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. … Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – … üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmten in vielen Fällen vorwiegend deren Form.“ 3

Organisation nötig

Übertragen auf die heutig Situation heißt das: Wenn es heute starke, kämpferische Organisationen der Arbeiterklasse, insbesondere Parteien gäbe, die zum massenhaften Widerstand aufrufen und mobilisieren würden, die durch energischen Einsatz aller Kräfte in kleinen Kämpfen beweisen würden, dass Kämpfen sich lohnt, die eine Alternative zum Kapitalismus aufzeigen und deshalb bei ihren Forderungen nicht vor kapitalistischen Sachzwängen halt machen würden, dann wären Widerstand und Bewusstsein unter denselben gegebenen ökonomischen Bedingungen sehr viel weiter.

Deshalb muss man sagen, dass die Ursache für fehlenden Massenwiderstand nicht hauptsächlich ökonomische Gründe, sondern hauptsächlich politische Gründe hat. Die Menschen spüren – in Deutschland und weltweit – dass die Probleme nicht mit den alten Programmen und Protestformen gelöst werden können. Nach 32 ein- oder zweitägigen Generalstreiks in Griechenland in vier Jahren glaubt niemand mehr, dass der 33. befristete Generalstreik etwas lösen würde. Nach all den Kriegen glaubt niemand, dass ein Protest von ein paar Hundert oder auch ein paar Tausend Leuten etwas ändern würde. Die kleinen und großen Proteste bringen uns dann weiter, wenn sie als Teil eines größeren Kampfes verstanden und vermittelt werden. Wenn sie genutzt werden, um das politische Verständnis für die vor uns liegenden Aufgaben zu erhöhen, wenn sie immer mehr Menschen ermutigen, Teil dieses Kampfes zu werden. Die Probleme, die der Kapitalismus aufgehäuft hat sind so riesig und weltumspannend, dass auch bei der Lösung gelten muss: „think big“. Jeder Kampf, selbst gegen eine Fahrpreiserhöhung von 10 Cent, muss verbunden werden mit dem Kampf für die (Welt-)Revolution, oder mit den Worten Rosa Luxemburgs „alles andere ist Quark“.

Georg Kümmel ist Mitglied des SAV-Bundesvorstands und lebt in Köln. Er ist aktiv in der LINKEN und im Bündnis „Recht auf Stadt“. Von ihm erschien im letzten Jahr die Broschüre „Organisiert Euch!“.

1 Karl Marx, Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, Seite 9

2 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, Seite 533 ff

3 Friedrich Engels, Brief an Bloch (1890), MEW 37, 463f.