“Michael Kohlhaas”

471px-Heinrich_von_Kleist2Eine Filmkritik

Der Film „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist ist bereits die dritte Verfilmung des französischen Regisseurs Arnaud des Pallières.

von Dima Yansky, Aachen

Es würde den Rahmen dieses Artikels wahrscheinlich sprengen, die ursprüngliche Novelle von Heinrich von Kleist zu analysieren. Wir können nur hinzufügen, dass die Novelle in einer der dynamischsten Zeitabschnitte der menschlichen Geschichte entstanden ist. Die Zeit, in der die napoleonischen Armeen mit Bajonetten und Kanonenkugeln das Genick des alten, feudal-klerikalen Europas brachen. Die Zeit, als der Geist der französischen Revolution und Jakobinischen Diktatur zum Albtraum aller Schlossherren geworden ist, die Zeit, in der die Monarchen um ihr Leben und ihren Thron zitterten und die europäische Aristokratie endgültig durch die Bourgeoisie von der Weltbühne verdrängt wurde.

Der Regisseur versetzt die Geschichte der blutigen Rache eines brandenburgischen Kaufmannes an einen Junker in die raue Gebirgslandschaft der Cevennen. Trotz einiger grober historische Fehler ist es ihm gelungen, im Großem und Ganzen die Novelle im Kontext der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts zu übertragen.

Im Weiteren werden wir nicht über den historischen „Hans Kohlhaase“ und nicht über „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist, sondern über einen französischen Pferdehändler aus dem 16. Jahrhundert aus dem gleichnamigen Film sprechen.

Die Eröffnungsszene des Films zeigt die Auseinandersetzung zwischen einem erfolgreichen französischem Kaufmann, Michael Kohlhaas, und einem jungen Baron, welcher versucht, Wegzoll zu erpressen. Dieser frühmittelalterliche Anachronismus ist eigentlich längst abgeschafft. Michael Kohlhaas besteht auf seinem Recht und der wirtschaftliche Streit eskaliert allmählich in einem lokalen Bürgerkrieg. Seine kleine Bauernarmee stürmt die Burgen, setzt Kloster in Brand und attackiert sogar die königliche Armee.

Worum geht es Michael Kohlhaas? Um eine abstrakte Gerechtigkeitsfrage? Um Rache? Um Ehre? Um entgangenen Profit? Lassen wir uns ein wenig in den geschichtlichen Kontext vertiefen. Das Frankreich des Anfang des 16. Jahrhunderts erholte sich rasch von den Folgen des 100-jährigen Krieges. Handel und Handwerk erleben eine Renaissance, die Städte wachsen und eine gesellschaftliche Schicht gewinnt rasch an Bedeutung: das Bürgertum. Die Bewohner von geschützten aufstrebenden Städten, welche sich immer wieder der französischen Aristokratie widersetzen. Welche immer mehr ökonomische Macht in ihren Händen konzentrieren. Denn nichtsdestotrotz bleibt Frankreich das Land des Hochadels. Die Aristokraten besitzen die Ländereien, kontrollieren die hohen Ämter im Staatsapparat, in der Armee und in der katholischen Kirche. Für die wachsenden, aufstrebenden zielstrebigen Bourgeois wird die Luft immer dünner in den engen, flittergold manieristischen Strukturen der feudalen Gesellschaft. Handelsmänner, Handwerker, Juristen wollen klare Gesetze, offene Märkte, Gerechtigkeit und politische Macht für ihre Klasse.

Michael Kohlhaas von Arnaud des Pallières ist ein Familienpatriarch und ein gebildeter Kaufmann. Er beschäftigt sich nicht nur mit seinen Pferden, er liest auch eine gedruckte Bibel. Die neue Zeit bringt eine neue deutsche Mode in Frankreich. Protestantismus verbreitet sich und wird schnell zu einer Religion für die aufstrebende gebildete Klasse, die Bourgeoisie. Theologen-Humanisten übersetzen die Bibel in französische Sprache. Das Bürgertum eröffnet Druckereien und verbreitet die Bibel auf Französisch für die Massen.

Der katholische Klerus wurde daraufhin so beunruhigt, dass es sogar zu Pogromen und Verboten von Druckereien gekommen ist. Also ist Michael Kohlhaas nicht nur eine abstrakte Gerechtigkeitsfigur, sondern ein fortgeschrittener Repräsentant des Bürgertums. Er ist ein gebildeter und bewaffneter Kaufmann, der bereit ist, für seine Gerechtigkeit gegen den Adel und die katholische Kirche zu kämpfen. Allerdings ist die Gerechtigkeit von Michael Kohlhaas keine abstrakte Gerechtigkeit. Es ist die kristallisierte, konzentrierte Gerechtigkeitsforderung des „dritten Standes“. Er kämpft gegen die Freizügigkeit des Adels, für die Abschaffung des Zolls und für die Schaffung eines freien vereinigten Marktes. Für Gleichstellung vor Gericht – also für die politischen Forderungen der Bourgeoisie. Diese Forderungen scheinen unromantisch zu sein im Vergleich zu dem blutigem Rachefeldzug eines Einzelgängers. Aber genau dieses Programm brachte diverse Könige und Königinnen auf das Schafott und setzte der galanten Epoche des Hochadels ein blutiges Ende.

Michael Kohlhaas ist ein religiöser Mensch, ein Hugenotte. Um Mut zu schaffen, um die Interessen seiner Klasse durchzusetzen, muss er auf Bibelzitate zurückgreifen. „Ich hoffe, dass mir mein Gott nie so vergibt, wie ich dem Herrn Baron vergeben werde“, sagte Michael Kohlhaas und packte sein Schwert aus. Er ist sozusagen der universelle Prototyp der Bürger, die Mut für ihren Kampf gegen das alte feudal-klerikale Europa im Neuen und Alten Testament suchten. Im Film trifft er sogar auf Jacques Lefèvre d Étaples, den Übersetzer des Neuen Testaments, einen Theologen und Humanisten, der von der katholischen Kirche zum Hetzer ernannt wurde. Auch die Prinzessin Margarete von Angouleme, die Michael Kohlhaas einerseits in Schutz nimmt und andererseits verrät, war eine Sympathisantin des Protestantismus. Die opportunistische Prinzessin steht symbolisch für den beginnenden französischen Absolutismus, der über allen Gesellschaftsschichten steht. Im 16. Jahrhundert hatte der Absolutismus noch einen progressiven Charakter. Die absolute Macht des französischen Königs zerstörte endgültig den feudalen Separatismus und die Zerrissenheit, vereinigte den nationalen Markt und unterwarf die Kirche dem Staat. In der Phase des Absolutismus verwandelte sich das mittelalterliche Bürgertum in eine moderne handels- und industrielle Bourgeoisie. Allerdings blieb das System widersprüchlich. Die soziale Basis der absoluten Monarchie – also die wichtigsten Offiziere, Beamten und Kleriker – waren nach wie vor die Aristokraten.

Leider war das Budget des Filmes wohl zu klein, um den Film in ein großes geschichtliches Epos zu verwandeln. Der „Michael Kohlhaas“ beeindruckt durch schön-düstere Bilder und gute Kameraarbeit. Der Regisseur versucht extrem realistische Bilder zu schaffen. Die Kamera verweilt lange auf dreckigen Händen, Füßen und verschwitzter Kleidung der Protagonisten.

Der Regisseur fängt die Wirklichkeit in ungeschönten Gesichtern sowie in ruppigen Naturaufnahmen ein. Es ist ihm gelungen, die Auseinandersetzung nicht in einen pseudogeschichtlichen Kostümball zu verwandeln. Die Handlung und die Figuren der spätfeudalen Gesellschaft (Kaufmann, Baron, Jurist, Bauer) bleiben weitgehend authentisch, wirken gleichzeitig sehr modern. Das Publikum wird nicht durch Glanz und Glitzer des Rittertums und der „schönen Damen“ abgelenkt.

Gleichzeitig wimmelt der Film von geschichtlichen Fehlern. So trägt die Hauptfigur hollywoodlike das Schwert auf dem Rücken anstatt seitlich in der Scheide. Die Nebenfiguren stehen meistens schweigend im Hintergrund und wirken generell sehr „blass“. Das Bauerntum, die größte Gesellschaftsgruppe dieser Zeit tritt nur einige Augenblicke ins Geschehen ein. Dennoch wird der Film durch die herausragende Leistung des Hauptdarstellers, Mads Mikkelsen, dominiert.

Was können wir aus Michael Kohlhaas lernen? Es gibt keine absolute, universelle und ewige Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist konkret und historisch-geschichtlich. Um seine Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit seiner Klasse durchzusetzen, musste Michael Kohlhaas die maroden, veralteten Gesetze der alten feudalen Gesellschaft brechen. Manchmal muss der lebendige Gesellschaftskörper aus dem rigiden Korsett der veralteten sozialen Verhältnisse ausbrechen.

Vor der Großen Französischen Revolution 1789, die Ludwig den XVI. aufs Schafott geschickt hat, standen 25 Millionen Franzosen des „dritten Standes“ 250 000 Aristokraten und Klerikern gegenüber. Heute stehen 99% der Erdbevölkerung 1% der Privilegierten gegenüber. Und die wichtigste Frage der Epoche bleibt dieselbe: Sind wir in der Lage, radikal die sozialen Verhältnisse zu ändern und die Gesellschaft auf einer neuen sozialistischen und solidarischen Basis aufzubauen? Sind wir bereit, unsere Gerechtigkeit gegen verdorbene Moral von Börsenzocker, Bankenbaronen und ihren politischen Lakaien durchzusetzen? Wo bist du, Michael Kohlhaas?