Charité verhandelt

Foto: Archiv
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Nach langem Zögern der Geschäftsleitung beginnen am Berliner Uniklinikum Tarifgespräche über personelle Mindeststandards. Warnstreikdrohung sorgte für Bewegung

Dieser Artikel erschien zuerst am 30. Juli in der Tageszeitung „junge Welt“

von Daniel Behruzi

Erstmals wird an einem deutschen Krankenhaus über einen Tarifvertrag zur Personalbemessung verhandelt. Dabei kommen Vertreter des Vorstands und der Gewerkschaft ver.di im Berliner Uniklinikum Charité zusammen, um über die Einführung personeller Mindestbesetzungen sowie über Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigtengesundheit und der Ausbildungsqualität zu beraten. Schon dafür war eine Menge Druck nötig. Denn die Klinikleitung weigerte sich über Monate beharrlich, das Thema zum Gegenstand von Tarifverhandlungen zu machen. Ihrer Ansicht nach greifen konkrete Vorgaben zur Personalausstattung der Stationen und Abteilungen in das unternehmerische Direktionsrecht ein. Die Belegschaftsvertreter sehen darin hingegen dringend notwendige Maßnahmen gegen Arbeitsüberlastung und »gefährliche Pflege«.

Mit der Bereitschaft, nun doch Tarifverhandlungen aufzunehmen, hat die Charité-Spitze einen drohenden Warnstreik zunächst abgewendet. Ver.di-Betriebsgruppensprecher Carsten Becker hat keine Zweifel daran, dass die Arbeitsniederlegung außerordentlich erfolgreich geworden wäre: »Die Mobilisierung war schon in ihrem Anfangsstadium überwältigend. Das hat bestätigt, wie groß das Interesse der Kolleginnen und Kollegen an einer Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen ist.«

In der Tat ist die Situation der Ärzte, Pfleger und Servicekräfte an Europas größtem Uniklinikum – ebenso wie in fast allen anderen deutschen Krankenhäusern – kaum noch erträglich. Für bis zu 15 Patienten ist eine Krankenschwester zum Teil zuständig. Dabei werden die behandelten Fälle immer komplizierter und arbeitsaufwendiger. Denn heutzutage liegen viele Patienten auf der Normalstation, die früher eine Intensivpflege erhalten hätten. Hintergrund ist unter anderem die Verkürzung der Liegezeiten, die sich an der Charité seit 2006 nach eigenen Angaben von durchschnittlich 7,7 auf weniger als 6,4 Tage verringert haben. Die Zahl der stationären Fälle stieg seither von 127500 auf über 139000, die der ambulanten Behandlungen gar von gut 500000 auf weit mehr als 600000. Doch zugleich stehen immer weniger Pflegekräfte zur Verfügung: Deren Zahl reduzierte sich zwischen 2006 und 2011 den Jahresberichten der Charité zufolge von 3752 auf 3565 Vollkräfte (inklusive Funktionsdienste).

Die ver.di-Tarifkommission hat errechnet, dass allein die am Uniklinikum geleisteten Überstunden, die Mehrarbeit und der Einsatz von Leasingkräfte zusammen rund 300 fehlenden Vollzeitstellen entsprechen. Mittlerweile schiebt die Charité-Belegschaft mehr als 130000 Überstunden vor sich her. Und dass die Beschäftigten ihre Überforderung fast täglich mit sogenannten Überlastungsanzeigen kundtun, ist ein weiterer Hinweis auf die unhaltbaren Zustände. Die Charité-Spitze hielt all das jedoch nicht ab, kürzlich in der Berliner Morgenpost mit Bezug auf die ver.di-Forderungen von einer »gewerkschaftspolitischen Inszenierung« zu sprechen. Angesichts solcher Töne ist eine schnelle Einigung eher unwahrscheinlich.

»Wir sind uns ganz sicher: Allein dem Druck unserer Mobilisierung ist es zu verdanken, daß wir am Mittwoch am Verhandlungstisch sitzen«, ist Becker überzeugt. Ver.di hatte gedroht, am Streiktag Betten und womöglich ganze Stationen zu schließen. Für einen Warnstreik in einem Krankenhaus ist das äußerst ungewöhnlich. Allerdings haben die Pflegekräfte an der Charité bereits gezeigt, dass sie in der Lage sind, die Wirtschaftspläne der Klinikleitung durcheinanderzuwirbeln: 2011 hatten sie bei einem einwöchigen Arbeitskampf bis zu 90 Prozent der Operationen und die Betreuung fast der Hälfte der rund 3200 Betten lahmgelegt. Das Ziel deutlicher Gehaltsverbesserungen wurde damit schnell erreicht.

Dieses Mal könnte der Konflikt langwieriger werden. Denn für tarifliche Mindeststandards beim Personal gibt es im Krankenhauswesen – anders als beispielsweise in der Druckindustrie – bislang keine Präzedenzfälle. Es ist nicht zu erwarten, daß die Charité-Spitze einen solchen tarifpolitischen Fortschritt ohne großen Widerstand zulässt.