Turbulentes Wahlergebnis in Italien zeigt nur eins: Die Kürzungspolitik wird abgelehnt

Foto: http://www.flickr.com/photos/93522438@N06/ CC BY-NC-SA 2.0
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Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache am 27. Februar auf der Webseite socialistworld.net

Zur instabilen politischen Lage, der Wirtschaftskrise und den sich daraus neu ergebenden Möglichkeiten

von Chris Thomas, „Controcorrente“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Italien)

Der bekannte italienische Kabarettist Beppe Grillo gab seiner Wahlkampagne den Titel „die Tsunami-Tour“ und bei seinen Wahlkampfauftritten im ganzen Land füllten zehntausende „ZuschauerInnen“ die piazzas. Nun hat es Grillos „5-Sterne-Bewegung“ tatsächlich vermocht, wie ein wahrer Tsunami das politische System Italiens durcheinander zu bringen. Zum Zeitpunkt der letzten Wahlen noch nicht einmal gegründet, wurde das „MoVimento 5 Stelle“ nun mit mehr als 25 Prozent auf Anhieb stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus. Ein weiteres Viertel der Wählerschaft zog es vor, gar nicht erst am Urnengang teilzunehmen. Das ist die niedrigste Wahlbeteiligung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Das Ergebnis der Wahlen vom 24. und 25. Februar bedeutet nur eins: den absoluten politischen Stillstand. Keine Partei oder Wahlliste kann sich auf hinreichende Mehrheiten stützen, sehr wahrscheinlich wird es Neuwahlen geben. Die Meinungsumfragen hatten einen Sieg der „Demokratischen Partei“ (PD) für die Abgeordnetenkammer vorhergesagt und die meisten KommentatorInnen erwarteten ein Zusammengehen der PD mit dem Wahlbündnis des (nie durch eine Wahl ins Amt gekommenen) vorherigen Premierministers Mario Monti im Senat. Allerdings haben die Umfragen das Potential der „5-Sterne-Bewegung“ wie auch der PDL eines Herrn Berlusconi vollkommen unterschätzt, die mit einem populistischen Programm an den Gefühlen derer anknüpfen konnte, die die Kürzungs- und Austeritätspolitik aber auch das politische Establishment allgemein ablehnen.

In der Abstimmung über die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses (camera) liegen das PD-Lager und die PDL lediglich 120.000 Stimmen auseinander. „Mitte-Links“ kam auf 29,5 Prozent, „Mitte-Rechts“ auf 29,2 Prozent. Im Vergleich zu den letzten Wahlen verlor die PD aber beinahe vier Millionen Stimmen und die PDL sechs Millionen! Trotz der Tatsache, dass die PD als „Wahlgewinnerin“ nach dem italienischen Wahlrecht Bonussitze erhält, die ihr im Abgeordnetenhaus die Mehrheit sichern, hat sie im Senat keine Mehrheit – auch nicht im Bündnis mit Monti.

Grillo hat jedes Bündnis mit anderen Kräften oder gar eine „große Koalition“ (zu der dann Bersani mit seiner PD und Berlusconi gehören würden) ausgeschlossen, auch wenn dies theoretisch möglich wäre. Für die PD wäre diese Option der politische Selbstmord. Die Karte namens „Technokraten-Regierung“ ist durch die Regierung Monti bereits gespielt worden, weshalb jetzt der Anbruch einer politische Krisenphase wohl am wahrscheinlichsten ist, die voraussichtlich auf Neuwahlen hinausläuft. Vielleicht wird vorher noch das Wahlrecht geändert, was dem Lager der „Grillinis“ nur weiteren Zulauf bescheren würde.

Das „Wall St. Journal“ beschrieb das Wahlergebnis als „das schlimmstmögliche Resultat“. Die Auswirkungen, die diese Wahl hat, werden weit über Italien hinaus spürbar sein. Am Tag nach der Wahl fiel der Mailänder Börsenindex so stark ab, dass der Handel vorläufig ausgesetzt werden musste. Gleichzeitig wurde die Differenz zwischen den Zinsen auf italienische und deutsche Staatsanleihen immer größer, was erneut fast zum Aufruhr auf den europäischen Märkten geführt hätte. Das Schicksal des Euro könnte nun eher von Italien als von Griechenland abhängen.

„Nein“ zur Austerität

Das Wahlergebnis kann als überwältigende Reaktion auf die Austeritäts- und Kürzungspolitik von Mario Monti gewertet werden, der die öffentlichen Ausgaben heruntergefahren, für Steuererhöhungen gesorgt und Angriffe auf die Arbeitnehmerrechte durchgeführt hat. Als er im November 2011 Berlusconi ersetzte, wurde Monti als „Retter Italiens“ gefeiert, und die Märkte begannen sich nach Monaten der Instabilität und anhaltender Krisen wieder zu stabilisieren. In diesem Wahlgang war er der Kandidat Brüssels, Merkels und eines Teils der italienischen kapitalistischen Klasse. Diese hatten Sorge, dass eine PD-Regierung mit Mehrheiten in beiden Kammern unter den Druck der ArbeiterInnen und Gewerkschaften hätte geraten können, um Austerität und Kürzungen ganz über Bord zu werfen oder abzumildern. Wegen dieser Politik hatten Brüssel, Merkel & Co. Monti schließlich unterstützt. Eine Koalition zwischen PD und Montis Wahlbündnis wurde als sicherste aller Optionen betrachtet, um die „Agenda Monti“ fortsetzen zu können. Weil Montis Wahlbündnis bei der Wahl zur „camera“ aber nur auf 10,5 Prozent der Stimmen kam, ist diese Strategie kläglich gescheitert. Vor den Wahlen lag Monti bei der Frage nach der/dem beliebtesten PolitikerIn noch vor allen anderen ParteivertreterInnen. Das lag aber daran, dass es sich bei ihm um einen „Technokraten“ handelt (in Deutschland würden die bürgerlichen Medien von einem „Experten“ sprechen; Anm. d. Übers.) und nicht als Teil der verachteten politischen Klasse wahrgenommen wurde. Als er sich dann aber einreihte, eine Wahlliste gründete, zu „einem von ihnen“ wurde, waren seine Tage gezählt.

Die wahren Wahlsieger sind Grillo und seine „5-Sterne-Bewegung“. Ihr Wahlkampfmotto lautete: „tutti a casa“ (dt.: „Schickt sie alle nach Hause“). Das ist die Zusammenfassung dessen, was die „einfachen“ ItalienerInnen für die PolitikerInnen, die etablierten Parteien und ein völlig marodes politisches System noch übrig haben, das in einem Sumpf aus Korruption, Skandalen und Selbstbedienungsmentalität steckt, während die arbeitenden Menschen zu immer neuen Opfern gezwungen werden: absolute Verachtung.

Skandale

Während des Wahlkampfes schlugen Berichte über Verschleierungen und Betrugsfälle bei Italiens drittgrößtem Bankhaus „Monti dei Paschi“ wie eine Bombe ein und warfen ein negatives Licht auf die PD, die traditionell enge Verbindungen zum Management dieser Bank pflegt. Das bestätigte nur die tief sitzenden und weit verbreiteten Gefühle, das ganze System stinke bis zum Himmel. Täglich widmete sich die Presse seitenweise Geschichten, in denen es um PolitikerInnen ging, die für Gefälligkeiten Provisionen erhalten hatten. Berichtet wurde über Fälle, in denen öffentliche Gelder abgesahnt wurden, um den ausufernden Lebenswandel Einzelner zu finanzieren und von Konzernchefs (darunter auch der Vorstandsvorsitzende einer der größten und angesehensten italienischen Unternehmen, „Finmeccanica“), die wegen Betrugs und Korruption verhaftet wurden.

Grillo erhielt seine Stimmen von Seiten aller möglichen politischen Spektren: aus dem rechten Lager, dem linken Lager und von denen, die sich gar nicht politisch verorten. „Ich will ihnen allen in den Arsch treten!“, lautete die Begründung einer Grillo-Wählerin für ihre Wahlentscheidung. Sie fasste damit zusammen, was viele der UnterstützerInnen von „5 Stelle“ denken. Auf den piazzas skandierte Grillo populistische Parolen und lieferte prägnante Sprüche darüber, dass man die Macht und Privilegien der „politischen Kaste“ einschränken müsse. Er sprach von einem Bürgergeld, einem Referendum über den Verbleib in der Eurozone, die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Verstaatlichung der Banken und darüber, dass man die Umwelt schonen müsse. Das alles fand Anklang bei denen, die genug haben von Kürzungen und Korruption.

Darüber, welche Möglichkeiten und Fähigkeiten die „Grillinis“ haben, um das System tatsächlich aufmischen zu können, gibt es reichlich Illusionen. Fakt ist vielmehr, dass die „Bewegung“ (Grillo lehnt es ab, von einer Partei zu sprechen) kein ausgearbeitetes Programm hat, mit dem man in der Lage wäre, die Alltagsprobleme (Erwerbslosigkeit, Niedriglöhne und immer mehr zurechtgestutzte öffentliche Dienste) anzugehen, von denen die meisten „einfachen“ ItalienerInnen betroffen sind. Auf eine echte Verankerung in Betrieben oder unter Bürgerinitiativen kann Grillo nicht verweisen. Im Allgemeinen organisiert man sich über das Internet und soziale Netzwerke. Dabei entscheidet Grillo spontan und ad hoc selbst über Politik und Taktik. Erklärungen dazu gibt es nicht und oft fehlt jede Idee dafür, wie man diese Ansätze überhaupt in der Praxis umsetzten kann. Seine „Hasstiraden“ wirken verwirrend, verwirrt und unschlüssig.

Grillo hat eine zweischneidige Stellung mit Bezügen zur extremen Rechten und gegenüber der Immigration. Während seiner Wahlkampagne sprach er davon, die Gewerkschaften „eliminieren“ zu wollen, wobei er zwischen den Dachverbänden CGIL, CISL und UIL auf der einen und der wesentlich kämpferischeren Metallarbeitergewerkschaft FIOM sowie den Basisgewerkschaften auf der anderen Seite unterschied. Der Zeitpunkt wird kommen, da die Begrenztheit und Widersprüchlichkeit der „Bewegung“ deutlich wird – und sie zerreißen wird. Es ist möglich, dass „5 Stelle“ so schnell wieder von der Bildfläche verschwunden sein wird, wie sie aufgetaucht ist. Im Moment aber – und in Ermangelung einer linken, anti-kapitalistischen Alternative – ist sie zum wichtigsten Bezugspunkt für alle geworden, die ihre Wut, Frustration und Unzufriedenheit ausdrücken wollen. Und das sind Millionen von ItalienerInnen, die wahrscheinlich sogar noch mehr werden.

Ökonomische Krise

Hintergrund dieser Wahlen war die am längsten anhaltende Rezession in Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit Beginn der Wirtschaftskrise um sieben Prozent zurückgegangen. Die Erwerbslosigkeit hat sich verdoppelt und mehr als 37 Prozent der Menschen unter 25 Jahren sind arbeitslos. Schwer getroffen von Steuererhöhungen und sinkenden Löhnen sind die Einkommen der Durchschnittsfamilien auf dasselbe Level wie vor 27 Jahren gesunken. Trotz der Verzweiflung, mit der arbeitende Menschen und die Mittelschicht sich nach einem Ende der Austerität sehnen, bestand das Angebot der PD darin, den Kurs von Herrn Monti fortzusetzen. Lediglich ein paar „Modifikationen“ sollte es dabei geben. Sie verpflichteten sich darauf, den Fiskalpakt einzuhalten und den Haushalt auszugleichen, auch wenn dies Kürzungen in Höhe von 45 Milliarden Euro jährlich bedeutet hätte – und das trotz der massiven Verluste in Höhe von elf Prozent, die sie in den Umfragen im Laufe des Wahlkampfs hinnehmen mussten.

Auf der anderen Seite war Berlusconi gerissen genug zu verstehen, wie die Zustimmung zu Montis Steuererhöhungen und dessen Kürzungspolitik seine Wählerschaft hätte kleiner werden lassen. Deshalb schoss er sich auf die Regierung Monti ein und führte einen populistischen, gegen die Austerität und Europa gerichteten Wahlkampf, in dem er sich als denjenigen darstellte, der für Steuersenkungen steht. Dazu zählte auch die waghalsige Behauptung, dass jeder Haushalt jeden Cent zurückerstattet bekommen würde, den die Menschen aufgrund der von Monti eingeführten IMU-Haushaltssteuer zu zahlen hatten. Aufgrund dieses Wahlkampfes erwachte die „Mumie“, wie eine französische Tageszeitung Berlusconi genannt hatte, wie Lazarus von den Toten. So war sein PDL-Bündnis in der Lage, 15 Prozentpunkte zurück zu gewinnen und am Ende Kopf an Kopf mit der PD zu landen.

Das bisschen, was an linken Kräften überhaupt noch übrig geblieben ist, wurde förmlich zermahlen. Die Partei SEL („Links-Ökologisch-Freiheit“) von Nichi Vendola, sich dem Wahlbündnis der PD angeschlossen hatte, kam darin auf lächerliche 3,2 Prozent. Wäre die Partei eigenständig angetreten, dann wäre sie noch nicht einmal über die Vier-Prozent-Hürde gekommen und ohne einen Sitz im Parlament geblieben. Dieses Schicksal ereilte die „Rivoluzione Civile“ („Bürger-Revolution“), die heterogene Wahlliste, die vom ehemaligen Richter Antonio Ingroia angeführt wurde.

Eine neue Kraft muss her

Statt mit einer klaren antikapitalistisch geprägten und mit ArbeiterInnen besetzen Wahlliste anzutreten, hat sich die „Rifondazione Comunista“ (PRC), die einmal eine Partei mit Massenunterstützung war, dazu entschlossen, in der „Rivoluzione Civile“ aufzugehen. Man zog es also vor, sich an einem vagen, liberal-reformistischen Bündnis zu beteiligen. Das war ein opportunistischer Schritt, der auf undemokratische Weise von oben entschieden wurde und bei dem es sich um den verzweifelten Versuch handelte, wieder im Parlament vertreten zu sein. Nachdem die PRC in eine Regierungskoalition mit der pro-kapitalistischen PD eingetreten war, hatte sie vor fünf Jahren alle ihre Parlamentssitze verloren. Und nach jeder neuen Wahlniederlage machte sich die Führung der PRC – anstatt zu versuchen, durch die Beteiligung an betrieblichen Kämpfen oder sozialen Auseinandersetzungen vor Ort ihre Wählerschaft auszuweiten – auf die Suche nach neuen, prinzipienlosen Wahlbündnissen. Jedes Mal wieder verlor sie dabei an Stimmen. „Rivoluzione Civile“ kam lediglich auf 2,2 Prozent der Stimmen, was ihr keinen einzigen Sitz einbrachte.

Das beispiellose Ausmaß an Unterstützung für Beppe Grillo kann man nur verstehen, wenn man den tragischen Zusammenhang zum Kollaps der italienischen Linken herstellt. Jetzt aber haben wir es mit einer vollkommenen Neuordnung der politischen Landschaft zu tun. Die Wut der Menschen aus der Arbeiterklasse ist zwar über die Wahlurnen und nicht auf der Straße oder in den Betrieben zur Geltung gekommen. Doch die anhaltende Krise und Instabilität wird dazu führen, dass sich auch neue und massenhafte Kämpfe entwickeln werden.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird klar werden, dass die „5-Sterne-Bewegung“ keine angemessene Basis bietet. Das wird dazu führen, dass Millionen von Menschen nach anderen Alternativen Ausschau halten werden und somit enorme Möglichkeiten für den Aufbau einer neue politischen Kraft bieten. Eine solche Kraft kann dann Massenunterstützung genießen und darf sich nicht mit krudem Populismus abgeben. Stattdessen muss sie auf Bewegungen der ArbeiterInnen und jungen Leute aufbauen und für die Probleme der arbeitenden Menschen eine echte Lösung anbieten, indem sie nicht nur eine Herausforderung für die PolitikerInnen darstellt, sondern die ökonomischen Wurzeln des gesamten, maroden, kapitalistischen Systems angeht.