Frankreich stürzt sich ins Getümmel Europas

Parlamentswahlen stärken die Herrschaft der sozialdemokratischen „Parti Socialiste“

Statement von „Gauche Révolutionnaire“ (dt.: „Revolutionäre Linke“; Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Frankreich)

Frankreich geht eben erst aus einer Phase hervor, die auf der einen Seite stark vom Wahlkampf beeinflusst war und andererseits von der Zuspitzung der Wirtschaftskrise gekennzeichnet ist. Obwohl Frankreich es noch nicht mit ähnlich harten, sogenannten Sparprogrammen zu tun hat wie andere Staaten der EU, vertieft sich die Ungleichheit zwischen den gesellschaftlichen Klassen und verschärft sich die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft. Dies spiegelte sich dann auch in den jüngsten Wahlergebnissen wider.

Nachdem zunächst der ehemalige Präsident von der konservativen UMP („Union für eine Volksbewegung“), Nicolas Sarkozy, beiseite geräumt worden war, versetzten die WählerInnen seiner Regierung eine herbe Niederlage und verschafften der sozialdemokratischen „Parti Socialiste“ (PS) die absolute Mehrheit. Eine ganze Reihe einflussreicher Minister aus der vorherigen Regierung verloren ihren Sitz in der Nationalversammlung. Die politische Rechte erlebt zur Zeit sowohl eine schwere ideologische Krise und eine Führungskrise in der Ära nach Sarkozy. Zudem wurde die UMP darin geschwächt, als starke Oppositionspartei gegen die von der PS geführte neue Regierung aufzutreten. Letztere ist nun unter dem vom neuen Präsidenten François Hollande berufenen neuen Premierminister Jean-Marc Ayrault zusammengetreten. Einen Beitrag zu dieser geschwächten Position der UMP leistet dabei sicherlich auch der rechtsextreme „Front National“ (FN), der ebenfalls die Oppositionsrolle beanspruchen wird.

Sarkozy hatte versucht, die UMP weiter nach rechts zu entwickeln, was auf den Unwillen des konservativ-traditionalistischen Teils ihrer Wählerschaft gestoßen ist, die sich mehr als Gaullisten verstehen. Verloren hat die Partei auch die Unterstützung eines Teils der Arbeiterklasse, deren Lebensstandard in den letzten fünf Jahren deutlich zurückgegangen ist. Hinzu kommt noch, dass viele sich lieber für „das Original als die Kopie“ entschieden und bei den Präsidentschaftswahlen gleich für die FN-Chefin Marine Le Pen und bei den Parlamentswahlen für FN-Kandidaten gestimmt haben.

Die PS, die in den letzten fünf Jahren alle Wahlen für sich entscheiden konnte, erscheint gestärkt. Doch einige Umstände widersprechen dieser Annahme. Obwohl die PS als der große Sieger aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist, ist ihr Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen vom Mai gegenüber der UMP kein so großer Erfolg. Mehr noch: Die niedrige Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen von nur 43 Prozent im zweiten Wahlgang bestätigt die wachsende Ablehnung der traditionellen Politiker und ihres Opportunismus. Dies legt nahe, dass besagter Urnengang auf Seiten der Arbeiterklasse einen stark taktischen Charakter hatte.

Trotz ihrer Handlungen in der Vergangenheit schätzt die Bevölkerung den wahren Charakter der PS noch nicht richtig ein. Das heißt, dass bisher nur wenige der Ansicht sind, dass auch die neue Regierung bald zu sogenannten Sparprogrammen greifen werde. Was die kommunale Ebene angeht, so gründet die PS sich dort auf Vetternwirtschaft und bestätigt vor Ort den Zustand der vollkommenen Verbürgerlichung der Partei, auch wenn sie weiter mit der passiven Unterstützung einiger Bevölkerungsschichten, vor allem in den Vororten, rechnen kann. Doch die Ruhe ist nur von kurzer Dauer und die Regierung hat für politische wie wirtschaftliche Manöver nur begrenzt Spielräume.

Frankreich befindet sich in Europa in einer einzigartigen Lage. Während viele Länder von instabilen Koalitionen regiert werden, kann Frankreich auf eine PS als Hegemonialmacht verweisen, die das Präsidentenamt inne hat, den Senat und die Nationalversammlung kontrolliert wie auch in den meisten Departements und Kommunalräten den Ton angibt. Dies verbirgt allerdings einen cleveren Balance-Akt zwischen den verschiedenen Strömungen innerhalb der PS und ihrer Verbündeten bei der Zusammensetzung der Regierung. Alle Beteiligten werden einem schwierigen Test ausgesetzt, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bald schon gravierendere Züge annehmen. Während der jüngsten Kontroverse über eine weitere Dezimierung der Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben wir bereits einen Geschmack davon bekommen.

Die meisten Leute betrachten die Maßnahmen wie zum Beispiel die Deckelung der Gehälter von Ministern und des Präsidenten, die Erhöhung der Reichensteuer sowie anderer Abgaben für Wohlhabende und andere Dinge natürlich als sehr positiv. Andere Maßnahmen wie etwa die Anhebung des Mindestlohns (auch wenn es dabei lediglich um zwei Prozent auf 21,50 Euro geht), die Einstellung von 1.000 LehrerInnen in den Grundschulen und die Ankündigung, dass Gespräche mit den Gewerkschaften geführt werden sollen, werden auch als sehr positiv erachtet; auch, wenn einige ArbeiterInnen sehen, dass diese natürlich unzureichend sind. Tatsache ist, dass es sich hierbei zunächst um das Gegenteil jener gewaltsamen Attacken und der Arroganz handelt, wofür die Regierung unter Präsident Sarkozy stand.

Andererseits kommt die PS – obwohl sie versucht hat, zuzulegen, indem sie die Wut über den schwerwiegenden Abbau des Industriesektors unter Sarkozy mit 300.000 verloren gegangenen Arbeitsplätzen in fünf Jahren ausdrücken wollte – auch selbst schon in eine ganz ähnliche Situation. Pläne über eine Restrukturierung, Entlassungen und Fabrikschließungen, die von den Privatunternehmen wegen der Wahlperiode bisher verschoben wurden, stehen nun wieder auf der Tagesordnung.

Als nächstes steht für die Regierung Ayrault im Herbst die Verabschiedung des nächsten Haushalts an. Bisher wurde dazu noch nicht viel in die Öffentlichkeit getragen, aber mit dem Ziel, das Haushaltsdefizit 2013 auf drei Prozent zu reduzieren, ist jeder und jedem klar, dass der öffentliche Dienst unter Beschuss geraten wird. Den Anfang wird dabei möglicher Weise der Gesundheitsbereich machen.

Diese Wahlen zeichneten sich auch dadurch aus, dass der FN einen großen Stimmenanteil erreichen konnte. Im Durchschnitt kam dieser auf rund zehn Prozent und schaffte in seinen Hochburgen phasenweise sogar fast die 20-Prozentmarke. Auch wenn diese Partei im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen ein wenig eingebüßt hat, schaffte sie es, zwei Sitze im Parlament zu ergattern. Ohne den Faktor Rassismus dabei außer acht lassen zu wollen, so ist doch auch klar, dass die Ablehnung der herkömmlichen Parteien, die enge Verbindungen zum Establishment haben (der FN nennt sie die „UMPS“), und die Tatsache, dass es einen gewissen Schwerpunkt auf die soziale Frage legte, ebenfalls eine wichtige Rolle für das Wahlergebnis des FN spielte.

Das neue Wahlbündnis namens „Linksfront“ kam auf etwas mehr Stimmen als die „Kommunistische Partei Frankreichs“ (KPF) vor fünf Jahren allein erringen konnte (nämlich plus 677.000). mit ihren 1.115.600 Stimmen blieb sie damit aber dennoch unter dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen (3.984.800). Davon abgesehen waren diese Wahlen zumal undemokratisch, und die Fraktion der „Linksfront“ wurde geschwächt. Dieser im Vergleich zur Präsidentschaftswahl niedrigere Stimmenanteil erklärt sich zum Teil durch den ziemlich herkömmlichen Wahlkampf im Stile der alten KPF und ohne konsequente Kritik an der PS. Außer im Wahlbezirk Hénin-Beaumont, im Nordosten des Landes, wo Mélenchon gegen Le Pen kandidierte, trat die Dynamik rund um den Wahlkampf von Jean-Luc Mélenchon in den Hintergrund.

In dieser Region ist die Enttäuschung besonders spürbar, und das Wahlergebnis für Le Pen war von besonderer Bedeutung. Schon in der ersten Runde schied Mélenchon aus. In diesem Wahlbezirk, der von Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet ist, war der FN in der Lage, die zunehmende und über Jahre hinweg gewachsene soziale Misere für sich auszuschlachten. Wegen des geringeren Gewichts, das die „Linksfront“ nun im Parlament hat, und der Tatsache, dass die PS auch ohne sie die parlamentarische Mehrheit inne hat, ist die Möglichkeit, dass die KPF an der Regierung beteiligt wird, bislang ausgeschlossen. Infolgedessen wird sich auch die Frage einer unmittelbaren Spaltung der KPF nicht sofort stellen.

Die Wahlergebnisse von „Lutte Ouvrière“ (Arbeiterkampf) und der „Neuen antikapitalistischen Partei“ (NPA) lagen noch nicht einmal bei einem Prozent. Die extreme Linke zahlt einen hohen Preis für jahrelang anhaltendes Sektierertum und eine falsche Analyse der politischen Lage. Auch die Folgen ihrer Unfähigkeit, die Bedürfnisse und Ansinnen der ArbeiterInnen und jungen Leute auf politischer Ebene auszudrücken, wiegen weiterhin schwer.

Auch wenn es zur Zeit in Frankreich relativ ruhig zu sein scheint, ist die wirtschaftliche Situation im europäischen Vergleich als instabil zu bezeichnen. Während Länder wie Griechenland und Italien sich in einer kritischen Lage befinden, sind die französischen Banken an faulen Investitionen in genau diesen Ländern beteiligt, was dazu führen wird, dass auch sie bald schon von den negativen Folgen daraus in Mitleidenschaft gezogen werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass die kleinen Reformen und die paar sozialen Gesten, die wir von Seiten der neuen Regierung Hollande bislang erlebt haben, sich rasch zu sogenannten Sparprogrammen hin entwickeln werden. In einer sich schnell verändernden Situation wird das Bewusstsein der Massen analog zu den neuen Verhältnissen aufholen. Zwangsläufig werden sich daraus neue Möglichkeiten für den Aufbau einer sozialistischen Massen-Kraft zur Bewaffnung der Bewegung der Arbeiterklasse ergeben.