Präsidentschaftswahlen in Ägypten: Linker Kandidat gewinnt 22% der Stimmen

Stichwahl zwischen Muslimbruderschaft und pro-Mubarak-Kandidat in der zweiten Runde

Im ersten Wahlgang bei den ägyptischen Präsidentschaftswahlen landete der Kandidat der Muslimbrüder, Mohamed Mursi, auf dem ersten Platz. Nur einen Prozentpunkt dahinter rangierte Ahmed Shafiq, der letzte Premierminister unter dem aus dem Amt gejagten Präsidenten Hosni Mubarak.

von David Johnson, „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)

Ist die Revolution, die am 25. Januar 2011 begann, im Rückwärtsgang gelandet? Die Wahlergebnisse deuten zwar darauf hin, dass sie hinausgezögert wurde, aber erneut aufbrechen wird. Der Gewinner der Präsidentschaftswahlen war in Wirklichkeit der größte Verlierer!

Nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse kam es in Kairo, Alexandria sowie anderen Städten und Ortschaften zu Massenprotesten. Diese richteten sich Berichten zu folge nicht nur gegen Shafiq, sondern auch gegen den Kandidaten der Muslimbrüder. Hunderte stürmten das Wahlkampfbüro von Shafiq in Kairo und setzten es in Brand.

Bei den Parlamentswahlen vor einigen Monaten hatten die Muslimbrüder (MB) zehn Millionen Stimmen (47 Prozent) bekommen. Diesmal kam Mursi nur noch auf etwas über fünf Millionen Stimmen (25 Prozent). Er war die zweite Wahl der MB, weil ihr eigentlicher Kandidat, Khairat al-Shater, aufgrund der Tatsache, dass er unter dem Mubarak-Regime verurteilt worden war, seine Kandidatur zurückziehen musste. Bei Al-Shater handelt es sich um einen der reichsten ägyptischen Geschäftsleute, was einen Hinweis auf die weitere Entwicklung der MB-Führung ist.

Bei den Parlamentswahlen heimste die ultra-konservative Salafisten-Partei „Nour“ 24 Prozent der Stimmen ein. Ihr Kandidat, Hazem Abu Ismail, erhielt ebenfalls keine Zulassung für die Präsidentschaftswahlen, weil seine Mutter angeblich in Besitz der doppelten Staatsbürgerschaft (ägyptisch und US-amerikanisch) ist. Abdel-Moneim Aboul-Fotouh, ein Kandidat, der sich von den MB losgesagt hatte und als Unabhängiger mit dem Anspruch angetreten war, einen säkularen Liberalismus zu vertreten, kam auf 18 Prozent. Das war weit weniger als die Meinungsumfragen vorhergesagt hatten. Er erhielt auch Unterstützung von den Salafisten, was ihn womöglich Stimmen derer gekostet hat, die gehofft hatten, er würde die Kluft zwischen Islamisten und den säkularen UnterstützerInnen der Revolution überbrücken.

Ein weiterer Kandidat, der laut Meinungsumfragen gute Chancen gehabt hätte, der ehemalige Generalsekretär der „Arabischen Liga“, Amr Moussa, landete mit 11 Prozent der Stimmen auf Rang fünf. Er war der Favorit des Establishments und trug gerade so viel an oppositioneller Aura mit sich, dass er in der Lage war zu behaupten, die Revolution vom 25. Januar unterstützt zu haben. Moussa und Aboul-Fotouh wurden im Vorfeld der Wahlen als die aussichtsreichsten Kandidaten betrachtet und bekamen daher die Möglichkeit, in einer Fernsehdebatte aufzutreten. Das allerdings scheint ihrer beider Ergebnisse beschädigt zu haben!

Rapider Zuwachs für linken Kandidaten

Die beiden Kandidaten, die besser als erwartet abschnitten, waren Shafiq, das unverfrorene Überbleibsel des alten Regimes, und Hamdeen Sabbahi. Von den aussichtsreichsten Kandidaten war es eben dieser Hamdeen Sabbahi, der am ehesten mit der Revolution in Verbindung zu bringen war. Er erhielt einen Stimmenanteil von 22 Prozent, was dem Doppelten von dem entspricht, was die Meinungsumfragen eine Woche zuvor noch angedeutet hatten, und siegte in Kairo, Alexandria und Port Said. Bei den Parlamentswahlen im Januar kam seine Partei namens „Karama“ (dt.: „Würde“) auf nur sechs von 478 Sitze. Sabbahi kann auf über 30 Jahre in der Opposition gegen das Mubarak-Regime verweisen und saß in dieser Zeit auch im Gefängnis. Sein Wahlmotto, „Einer von uns“, wie auch die Tatsache, dass er einer armen Familie entstammt, spiegelten dies wider.

Sabbahi trat mit einem Programm an, dass eine Anhebung des Mindestlohns von monatlich 700 ägyptische Pfund (~ 91 Euro) auf 1200 ägyptische Pfund (~ 157 Euro) vorsah, forderte eine Lohnobergrenze, Arbeitslosenunterstützung für junge Leute und eine Minimalversorgung i.H. von je 500 ägyptische Pfund (~ 64 Euro) für vier Millionen bedürftige Familien. Er stellte sich gegen die sogenannten Sparprogramme, die „einen schädlichen Effekt haben für die Lebensbedingungen der Bürger und ein Beitrag zur Inflation darstellen, für die die Bürger zahlen müssen“. Zudem schlug er eine umfangreiche Ausweitung der Nutzung von Sonnenenergie, eine staatliche Bank zur Unterstützung der Bauernschaft, die Einführung eines kostenlosen Bildungssystems und die Abschaffung des Analphabetismus vor.

Wenn auch durchaus begrüßenswert, so hätte es sich bei allen diesen Maßnahmen aus Sabbahis Programm um die alte Idee Abdel Nassers von „einer geplanten wirtschaftlichen Entwicklung und der Ausbalancierung der drei Wirtschaftsbereiche aus öffentlichem Sektor, der Privatwirtschaft und den Kooperativen“ gehandelt.

Obwohl Nasser in der Lage gewesen ist, sich für einige Jahre zwischen dem kapitalistischen Westen und der stalinistischen Sowjetunion halten zu können, bedeutet die weltweite Dominanz des Kapitalismus heute, dass öffentliche und privatwirtschaftlich organisierte Sektoren nicht „in Balance“ nebeneinander existieren können. Nur das öffentliche Eigentum an allen Großkonzernen, Banken und den großen Vermögen kann die Basis für eine „geplante wirtschaftliche Entwicklung“ schaffen. Und derlei Planung muss unter der Prämisse stattfinden, dass von den ArbeiterInnen, KleinhändlerInnen, Kleinbäuerinnen und -bauern demokratische Kontrolle ausgeübt wird, anstatt von einer bürokratischen Staatselite oder Militärs beherrscht zu werden.

Unterstützung für Kandidaten des alten Regimes

Shafiq trat als Kandidat auf, der am ehesten für die Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ sowie ein Mindestmaß an Sicherheit für all jene sorgen könne, die sich von den Aufständen seit dem 25. Januar 2011 bedroht fühlen. Bei vielen von ihnen handelt es sich wahrscheinlich um kleine LadenbesitzerInnen, HändlerInnen und Kleingewerbetreibende, die während der Unruhen Umsatzeinbrüche hinzunehmen hatten (darunter auch die, die vom Tourismus abhängen). Andere sind nach 16 Monaten revolutionärer und konterrevolutionärer Erhebungen einfach müde, weil es scheint, als klammere sich die herrschende Klasse und das alte Regime weiterhin an die Macht. Es ist überdies möglich, dass nostalgische Sentimentalitäten gegenüber einer scheinbar beständigeren Vergangenheit zunehmen. Sein Wahlkampf indes war finanziell gut abgesichert durch die Überbleibsel des alten Regimes und die Großkonzerne, die einen Präsidenten wollen, der die Errungenschaften der Revolution zurückdrängt.

Aufgrund ihrer zunehmenden Angst vor der Islamisierung des Staates und der Bedrohung durch Verfolgung, die infolgedessen zur Regel werden könnte, scheint auch die christliche Minderheit relativ stark für Shafiq abgestimmt zu haben. Und trotzdem kamen die beiden wichtigsten islamistischen Kandidaten, Mursi und Aboul-Fotouh, zusammen genommen auf „nur“ 43 Prozent. Bei den Parlamentswahlen waren MB und „Nour“ zusammen genommen noch auf 72 Prozent gekommen.

Die Wahlbeteiligung bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen war mit 45 Prozent sehr niedrig, was zweierlei widerspiegelt: die weit verbreitete Meinung, dass die Wahl nicht zur Veränderung der Lebensumstände der Bevölkerung führt, und dass bereits Enttäuschung gegenüber dem Parlament feststellbar ist. „Wir erwarten viel von diesem Parlament“, so brachte es ein Wähler der „Nour“-Partei noch während der Feiern zu deren Wahlsieg im Januar auf den Punkt. „Wir erwarten, dass sie unsere Bedürfnisse befriedigen und die Probleme lösen, die im Land bestehen, darunter die Arbeitslosigkeit und der Mangel an Gasflaschen“. (Ahram, 23.01.´12)

Kehrt in Richtung betrieblichem Kampf

Mursi und Shafiq, die beiden Kandidaten, die nun in die zweite Runde gehen, erreichten zusammen nur 49 Prozent der in der ersten Runde abgegebenen Stimmen. Die Arbeiterklasse und die radikalisierte Jugend werden somit nicht die Möglichkeit haben, für eineN KandidatIn zu stimmen, die / der für die Ziele der Revolution und eine unabhängige Politik im Sinne der Arbeiterklasse steht. Deshalb kann es sein, dass sich in der zweiten Runde noch mehr Menschen der Stimmabgabe enthalten, weil viele ArbeiterInnen und junge Leute keinen Grund sehen, für einen der beiden Kandidaten zu stimmen, die beide Parteien und Kräfte repräsentieren, welche dem grundlegenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel im Wege stehen, auf den man seit dem 25. Januar 2011 wartet. Die MB mag – als „das kleinere Übel“ angesehen, in der Lage sein, Stimmen aus der Arbeiterklasse und unter den jungen Leuten sammeln zu können, nur um Shafiq zu verhindern. Andere WählerInnen, vor allem aus der christlichen Gemeinschaft, könnten für den Kandidaten aus der Ära Mubarak stimmen, weil sie Angst davor haben, dass Kräfte des politischen Islam das Präsidentenamt genauso übernehmen wie schon das Parlament. Die alten Freunde von Mubarak aus den Reihen der Großunternehmen werden Shafiqs Sieg herbeisehnen und für den Fall damit weitermachen ein Vermögen anzuhäufen, während die ArbeiterInnen und die Armen werden leiden müssen.

Wer von den beiden auch immer gewinnen mag: Die Arbeiterklasse und die Armen werden kämpfen müssen, um ihre Interessen gegen die herrschende Klasse verteidigen zu können. Ein Sieg von Mursi wird die Wählerschaft der MB mittelfristig enttäuschen, da er und die Führungsriege der MB mitnichten für irgendeine Art von echtem Wandel hinsichtlich der Lebensbedingungen der Beschäftigten stehen. Umgekehrt könnte dies wiederum zu neuerlichen Erfolgen für die „Nour“-Partei führen, sollte es in absehbarer Zeit nicht zum Aufbau einer angemessenen Alternative für die ArbeiterInnen kommen.

Dabei konnten die ArbeiterInnen bereits ihre Erfahrungen mit einem Wahlsieg rechtsgerichteter Kräfte des politischen Islam machen. Streikende Busfahrer mussten sich im März gegen Streikbrecher aus der Armee zur Wehr setzen, „während die Bruderschaft und salafistische Abgeordnete, für die wir in Port Said gestimmt hatten, unsere Forderungen einfach ignorierten“, so die Zusammenfassung eines der beteiligten Busfahrer. „Sie verteidigen nicht unsere Rechte oder die Rechte der Pendler“. („Egypt Independent“, 13.03.´12)

Die MB sagt, sie versuche „mit allen politischen Gruppen, vor allem den revolutionären Gruppen“ eine Koalitionsregierung zu bilden. Ein MB-Sprecher behauptete, er „glaube an den wahren Wert der nationalen Einheit“.

Jedwede revolutionäre Gruppierung, die in eine Koalition mit der MB einträte, um Shafiq zu verhindern, wäre rasch behaftet mit der gegen die Arbeiterklasse gerichteten Politik der MB. Sabbahi hat korrekter Weise jede Art von Koalitionsverhandlungen abgelehnt (wobei seine „Karama“-Partei im vergangenen Jahr für einige Monate der zur MB zu zählenden „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ in der „Demokratischen Allianz“ beigetreten ist).

Wie die Präsidentschaftswahl auch immer ausgehen mag: Klar ist, dass die ägyptische Gesellschaft sich weiterhin im Zustand des rapiden Verfalls befinden wird. Weder die Reaktion noch die Revolution war in der Lage, eine stabile Basis aufzubauen. Wenn Shafiq neuer Präsident Ägyptens wird, so wird er von Anfang an auf eine breite Opposition stoßen – vor allem vonseiten der ArbeiterInnen und der Jugend, die die revolutionären Kämpfe angeführt haben. Nach fast sechs Monaten unaufhörlichen Wahlkampfes wird sich die Aufmerksamkeit wieder anderen Mitteln und Wegen zuwenden, mit denen die Lebensbedingungen verbessert werden können. Wahrscheinlich sind mehr Streikmaßnahmen durch die gerade erst gegründeten unabhängigen Gewerkschaften, die Möglichkeiten bieten zu zeigen, dass ein Vorgehen aus Solidarität und Kampf erfolgreich sein kann.

Wobei klar sein muss, dass jede Errungenschaft immer von den Arbeitgebern bedroht sein wird (und vom Obersten Rat der Bewaffneten Kräfte, die weitreichende Wirtschaftsinteressen hegen). Der Aufbau einer politischen Partei, die die ArbeiterInnen, die jungen Leute und die Armen um ein Aktionsprogramm herum vereinen kann, das die Gesellschaft verändern will, kann die herrschende Klasse herausfordern.

Eine Regierung der Arbeiter und Armen, die ein sozialistisches Programm umsetzt, auf der Vergesellschaftung der Großunternehmen und wirklich demokratischer Kontrolle durch die Beschäftigten selbst basiert, würde die Diktatur des Kapitalismus beenden und die dadurch hervorgerufene Armut, Unterdrückung und Unsicherheit abschaffen. Der Kampf für echte Demokratie kann nicht losgelöst werden vom Kampf für Sozialismus.