Jahrestag der Ägyptischen Revolution – Massen auf dem Tahrir-Platz

Augenzeugenbericht aus Kairo


 

Kairo, 25.1.2012: Al Jazeera berichtete von einer unzählbaren Menschenmasse am Tahrir-Platz, der im Januar 2011 zum Symbol der Revolution gegen das Mubarrak-Regime wurde. Seit den frühen Morgenstunden marschierten Menschen aus allen Teilen der Megacity zum Tahrir-Platz (dessen Name im Arabischen ‘Befreiung’ bedeutet). Um die Mittagszeit war der Platz so voll, dass es unmöglich war, ihn vom einen zum anderen Ende zu überqueren. Und nun – später Nachmittag in Kairo – sind es noch mehr Demonstrationszüge aus den abgelegeneren Teilen der Stadt. Viele der DemonstrantInnen, mit denen ich gesprochen habe, sagten dass es heute mehr Menschen sind als am Höhepunkt der Revolution letztes Jahr. Aber zurück zum Anfang: dem Beginn des ersten Jahrestages der Revolution.

von einem Korrespondenten aus Kairo

Die Stimmung am Tag davor war angespannt und nervös. Menschen standen bei den Bankomaten an, um Geld abzuheben und deckten sich mit Essen für mehrere Tage ein. Die Fenster von Geschäften und Restaurants nahe des Tahrir-Platzes waren mit Holz und Metall verbarrikadiert. Die Straßen in den Regierungsbezirken waren mit Stacheldraht und mannhohen Steinmauern blockiert. Aber weder die Polizei noch die Armee waren auf der Straße. Ich fragte einige Menschen, die um Geldbehebungen anstanden, warum sie das täten. Sie antworten: “Man weiß nicht, ob sie nicht wieder die Bankomaten ausschalten wie letztes Jahr”.

Als ich vor einer Woche in Kairo ankam, erklärten die MilitärführerInnen, dass sie keine “zweite Revolution” zulassen würden und dass sie der Polizei erlauben würden, wenn nötig, scharfe Munition zu verwenden. Kurz danach publizierten sie ihre Pläne die Revolution zu “feiern”: Eine große Feier am Tahrir-Platz inklusive Militärparade. Aber die Menschen in Ägypten haben darauf reagiert: Sie haben klargemacht, dass sie selbst demonstrieren würden und dass die Armee nicht willkommen sei.

Gestern Abend war der Platz mit zehntausenden von Menschen gefüllt – trotz heftigem Regen, Wind und Kälte. Die Stimmung auf der Demonstration war großartig – eine stolze Demonstration der Freude darüber, Teil dieser inspirierenden Bewegung zu sein. Die Menschen schrien sich die Wut über das Militärregime von der Seele, das sich immer noch an die Macht klammert. Dieser Abend war ein Test für die Bewegung – würde sie es schaffen genug Menschen zu mobilisieren? Die Antwort war ein klares Ja!

Heute Morgen wurde ich von den Sprüchen der DemonstrantInnen geweckt – Tausende übernachteten auf dem Tahrir-Platz. Millionen von Menschen strömen seitdem auf den Platz – eine Mischung aus Party und Demonstration. StraßenverkäuferInnen verkaufen Fahnen, Buttons wie auch Zigaretten, Tee und Essen. Die Menschen feiern ihr “freies Ägypten”. Aber gleichzeitig verlangen sie das Ende des Militärregimes. Wirklich laut wurde es, als sie “Nieder mit Tantawi” und “Nieder mit dem Militär” skandierten – ein überwältigender Chor. Ich habe bislang noch keine Demonstration von dieser Größe und Lautstärke erlebt.

In den Blogs und den ägyptischen Medien konnte ich einige Berichte aus anderen Teilen von Kairo finden. In Dokki, einer Gegend in Giza auf der anderen Seite des Nils, wartet noch eine Demonstration von mehreren zehntausend Menschen darauf, sich in Richtung Tahrir-Platz zu bewegen – die Brücken über den Fluss sind verstopft vor lauter DemonstrantInnen. Es gibt außerdem mehrere Demonstrationen in den südlichen Teilen Kairos – jede mehrere Tausende stark – die den Tahrir-Platz nicht erreichen konnten – weil die Straßen voller DemonstrantInnen sind.

Und wo sind Armee und Regierung? Sie akzeptieren offensichtlich, dass sie diesen Tag nicht für sich reklamieren können. Nicht ein einziger Polizist oder Armeeoffizier hat sich auf den Tahrir-Platz oder in dessen Nähe gewagt. Als ich vor einigen Stunden vor Ort war, konnte ich nur eine kleine Handvoll Polizisten auf den blockierten Straßen in der Nähe des Parlaments finden. Die Regierung hat entschieden nicht an den Feiern teilzunehmen – alles was sie tun ist, Autos mit Trinkwasser und einige Rettungswägen zur Verfügung zu stellen.

Die ägyptischen Medien berichten, dass mehr als eine halbe Million Menschen durch Alexandria marschieren und Zehntausende in Suez demonstrieren. Berichte aus Port Said besagen, dass die ganze Stadt auf der Straße sei. In jeder größeren Stadt des Landes gibt es Demonstrationen.

Die westlichen Medien berichten, dass es eine Spaltung gäbe, zwischen jenen, die eine zweite Revolution verlangen und jenen, die Parteien wie die Muslim Brüder unterstützen. Ja, es gibt eine ganze Reihe an unterschiedlichen Strömungen in dieser Bewegung, aber eines zeigt sich ganz deutlich: Die ÄgypterInnen sind der Revolution nicht müde – sie sind immer noch gewillt für die Sache, für die sie gekämpft haben, zu demonstrieren.

Ahram Online, ein großes Internet-Newsportal in Kairo, berichtet gerade, dass die Straßen in der Innenstadt von Kairo voller Menschen sind, mit vielen Sprüchen gegen das Militärregime. Auch Menschen die in Straßencafés sitzen schließen sich an.

Die Muslim Brüder haben ihre Mitglieder aufgerufen, heute Abend nach Hause zu gehen, um zu demonstrieren, dass sie eine Wiederbesetzung des Platzes, wie von der sogenannten “revolutionären Jugend” gefordert, nicht unterstützen. Es ist nun 19.00 in Kairo und der Platz platzt immer noch aus allen Nähten – immer noch treffen Demonstrationszüge ein.

Die sogenannten “Salafisten” wurden aus mehreren Demonstrationen rausgeschmissen – von wütenden Jugendlichen, besonders in Alexandria. Hier am Tahrir-Platz konnte ich nur ein paar von ihnen finden. Gestern Abend gab es ein paar Hunderte die “Alla al Akbah” skandierten, aber nur für ein paar Minuten, dann folgte ein machtvolles “Nieder mit Tantawi” – quasi als Antwort auf die Frage, wofür die Menschen wirklich demonstrieren würden.

Heute ist die Stimmung in Kairo voller Freude, aber den meisten Menschen hier ist klar, dass die Revolution noch einen weiten Weg vor sich hat. Der nächste Schritt in ihren Augen ist es, die MilitärführerInnen los zu werden, die so viele ihrer alten Privilegien wie möglich retten wollen. Aber die soziale Frage – Jobs, Wohnen, Gesundheit wie auch die fundamentale Frage “Wer hat denn eigentlich meinen Chef gewählt?” oder “Warum wählen wir eigentlich unsere Manager nicht?” tritt mehr und mehr in den Vordergrund.

Der bekannte Autor Aymann El Sayyad twitterte heute: “Ich erinnere alle Medien daran, dass sie genau sein müssen – wir feiern nicht den ersten Jahrestag der Revolution, wir beleben die Revolution wieder! Hört euch die Slogans und Demo-Sprüche genau an!”