Zehn Jahre G8

und der Kampf gegen die Hochgeschwindigkeitszugtrasse im Susa-Tal


 

zuerst veröffentlicht am 20. Juli 2011 bei www.controcorrentesinistraprc.org

Am 22. Juli 2001 sind auch wir nach Genua gefahren, fast tausend Personen aus dem Susa-Tal. Es war der Tag nach der Ermordung Carlos [Carlo Giuliani wurde bei den Anti-G8-Protesten in Genua durch einen Polizisten ermordert (Anmerkung der Übersetzerin)]. Unsere Opposition gegen den TAV [Treno ad alta velocita – Hochgeschwindigkeitszug (die Übers.)] dauerte schon mehr als zehn Jahre. Wir gingen nach Genua gegen die Mächtigen des Landes, gegen die großen Interessen, die im Namen des Profites unsere Existenz zerstören wollen, um Korridore für den Verkehr des globalen Marktes zu schaffen. Sie wollen Monster aus Stahl und Beton schaffen, an den alles vorbeirauscht und nichts bleibt, Monster, die alle Lebewesen, die Gesellschaft, gute und freie Arbeit verneinen.

von Nicoletta Dosio

Wir gingen auch um gegen die Repression, deren Bilder uns aus dem Fernsehen entgegenflutete, entgegenzutreten. Die Nachricht über den Jugendlichen, der durch „die Ordnungskräfte“ starb, schmerzte, Unmut begleitete uns auf dem Weg.

Unter uns waren nicht nur Aktivisten, sondern auch gewöhnliche Menschen, die aus den Kampf gegen den TAV, Kraft, Wissen und Großzügigkeit erlangt haben. Die ROBOT [Polizisten in voller Montur (die Übers.)] wie sie in ihrer Anti-Aufstands-Montur bis zum Abend kämpften, kannten wir schon: wir hatten mit ihnen am 29 Januar in Turin Erfahrung gemacht. Das war der Tag, an dem die italienische und französische Regierung im Palazzo Reale in Turin den Vertrag für die TAV-Strecke Turin – Lion unterschreiben wollten. Gegen diesen Vertrag sind wir mit 6000 Menschen aus dem Susa-Tal mit Bussen und Zügen angereist: eine heterogene bunte Vielfalt: Frauen und Männer jeden Alters, die Kinder inbegriffen, GewerkschafterInnen im Trikolor, Transparente, Luftballons, verkleidete Personen. Wie eine Wolke haben sich die Anti-Aufstand-Truppen ausgebreitet, haben uns in Richtung Via Roma gedrängt und mit Schlagstöcken die ersten Reihen traktiert, die gegen die Absperrung drückten. Zu den Palästen der Macht drang noch nicht mal das Echo unserer Stimmen.

Von dem Tag in Genua haben wir nichts vergessen: der Spalier, der unser Eintreffen erwartete, die Masse aus Stimmen die hinunter zum Meer zog, die Abkühlung durch das Wasser von den Balkonen, der getrennte Demonstrationszug; dann die Stockschläge, die Schreie, der Tränengasnebel. Unser demonstrationszug wurde eine Umzug von Blinden, der Hals und die Augen brannten, die Beine immer schwerer, und sie hinter uns, verkleidet mit Gasmasken, bewaffnet mit Schilder, ihre Schritte hallten wider. Über uns das Rattern des Helikopters, der unsere No-Tav-Fahnen im Auge behielt; die neuen Fahnen, die wir in Genova eingeweiht haben.

Wieder zu Hause stellt sich das Gefühl von Bolzaneto, der Diaz-Schule, [dort wurde in Genua 2001 mit brutalster Polizeiwillkür gegen G8-Gegner vorgegangen, (die Übers.)] und erdrückender und unkontrollierter Repression ein. Und dies alles, um eine heimtückische und gewaltsame  Macht zu schützen. Eine Macht, die ihre Institutionen so formt und so benutzt, dass es ihren eigenen Geschäften nützt, gegen das Volk und gegen die Zukunft aller.

Da unser Kampf weitergeht, seine Kräfte neu gesammelt hat, wird er zum Zeichen der Hoffnung, die nicht nur unser Tal betrifft, sondern auch von der Befreiung des Menschen und der Natur handelt. Er hat Ausstrahlungskraft, da es ein konkreter Kampf ist, der mit Entschlossenheit, die Schätze der Allgemeinheit und eine Zukunft für alle verteidigt. Die Kraft nährt sich aus dem Wissen, dass kein Vermittlung zwischen Ausbeuter und Ausgebeutetem, keine Vermittlung bei der Verteidigung der Gebiete und der Arbeitsplätze geben kann.

Also versuchen wir das Gebiet wiederzuerobern, das 45 Tage die freie Republik des Maddalena war, auf dem Gebiet von Chiomonte. Nun ist sie zur Festung der Verteidiger des Kapitals geworden, das Susa-Tal verwandelt sich wieder zur militärisch besetzten Zone wie Mompantero 2005 – mit Zäunen, Stacheldraht, Truppen in Anti-Aufstand- Montur. Sie verhindern den Zugang zu den Häusern, den Weinbergen, den Lavendelwiesen, zur Sozialküche, zu den Orten einer sicheren und befriedigenden Arbeit, von denen etliche Familie leben. Das archäologische Museum, das Fundstücke aus 6000 Jahren aus dieser Region beherbergt, wurde zur Kaserne umfunktioniert. Die neolithischen Grabstätten sind besetzt durch militärisches Gerät. Das Leben von Tier und Pflanze stirbt unter den tausenden von Litern Tränengas, das gegen die Menschen eingesetzt wurde. Gegen das Volk, das vom 27. Juni 2011 an versucht hat die Besatzungstruppen zu stoppen und am 3.Juli 2011 der militärischen Besetzung nachgegeben hat.

In diesen Momenten von großem Volkswiderstand haben wir wieder an Genua zurückgedacht. Als wir durch das Tränengas verletzt wurden (dies sind chemische Waffen, die nach internationalen Konventionen zwar verboten sind, aber eingesetzt werden), als sie mit Baggern gegen unsere Verteidigungswälle vorgingen, auf denen Männer und Frauen jeden Alters waren, als wir taub von dem Helikopterlärm waren. Und wir haben verstanden, dass sich die Institutionen für eine mögliche, andere Welt aus unserem Widerstand konkret entwickeln.

Wir spürten, dass Carlo bei uns war, und haben seinen Namen gerufen, genauso wie wir die Namen und Lieder der Partisanen hinausschrien, als die Robot uns überfielen.

An unserer Seite waren großzügige Menschen, die aus anderen Regionen gekommen waren, um einen kollektiven Kampf zu führen; einige von ihnen wurden verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Wir nennen sie unsere Söhne, denn mit uns haben sie die Erfahrung geteilt, eine andere Gesellschaft und eine andere Menschlichkeit zu verteidigen.

Die Medien des Regimes waren wie immer vehement gegen die Schwachen und zaghaft gegen die Starken. Sie haben versucht die gewohnte Kriminalisierung vorzunehmen, indem sie zwischen „guten“ und „bösen“, „gewaltfreien“ und „gewalttätigen“ spalten wollten. Wir weisen jegliche Spaltung zurück.

Es gab Gewalt, schwere Gewalt, ausgeübt von denen, die unsere Barrikaden zerstört haben, die uns im Wald verfolgt haben, die Schlagstöcke und Tränengas benutzt haben und die Verhafteten mit Schlägen und Angst eingeschüchtert haben. Es waren in erster Linie ihre Auftraggeber, die Herren der Institutionen, wie die Partei des Business, die Gewalt praktiziert haben.

Gewalt gegen Menschen und gegen Sachen: die Zelte, die Schlafsäcke, die Bücher, die Kleidung – zerrissen und durch Fäkalien beschmutzt – , der Menschen, die über einen Monat lang diese Orte verteidigt haben. Gegen jede Gewalt fordern wir das Recht auf Selbstverteidigung, entschlossen, ernst und durch das Volk, denn dies hat die Kraft des Verstandes, des Herzens und der Zukunft.

Übersetzt durch Maren Albert