Hong Kong: Größter Demonstrationszug für Demokratie seit vier Jahren

Über 70.000 fordern bei größter Demonstration seit Amtsantritt des neuen Chefs der Sonderverwaltungszone, Donald Tsang: „Eine Person, eine Stimme“


 

von Vincent Kolo, chinaworker.info

Es war sehr heiß gestern in Hong Kong – sowohl was die klimatischen Bedingungen angeht als auch in politischer Hinsicht. Nach Angaben der OrganisatorInnen des „Großen Marsches“ für Demokratie am gestrigen Nachmittag nahmen 76.000 daran teil. Das sind doppelt so viele wie im vergangenen Jahr, und es handelt sich somit um den größten Juni-Umzug seit Donald Tsang Yam Kuen 2005 zum neuen „Despoten“ (Verwaltungschef) wurde. Obwohl die OrganisatorInnen gehofft hatten, dass die Demonstration noch größer und die Marke von 200.000 TeilnehmerInnen überschreiten würde, die in Gedenken an das Pekinger Massaker von 1989 am 4. Juni zusammen gekommen waren, wurde die Manifestation zum bebenden Protest gegen die von Peking berufene Hong Konger Verwaltungsbehörde und in Folge dessen auch gegen die fälschlicher Weise als „kommunistisch“ bezeichnete Diktatur in Peking. Ein Regenbogenbündnis pan-demokratischer Organisationen fordert von der Regierung, ihre Verzögerungstaktik hinsichtlich der Demokratiefrage aufzugeben. Viele aus diesem Bündnis wollen Wahlen bereits in 2012 und zwar auf der Grundlage des Prinzips „Ein Mann bzw. eine Frau, eine Stimme“. Nicht, wie nach den weiterhin mehrdeutigen Verkündungen Pekings, wonach „frühestens“ 2017 ein neuer Verwaltungschef – und zwar nach allgemeinem Wahlrecht – und erst 2020 ein Gesetzgebender Rat gewählt werden soll.

Pekings Dilemma

Das Regime in Peking steckt, was Hong Kong und die Forderungen der dortigen Bevölkerung nach vollen demokratischen Rechten angeht, in einem Dilemma. Das Massaker in der chinesischen Hauptstadt, das womöglich an 1.000 protestierenden Studierenden und ArbeiterInnen im Juni 1989 verübt wurde, führte in Hong Kong zu einer Kettenreaktion, bei der die Demokratieforderung eine enorme Stärke entwickelte. Das war etwas, das die britische Kolonialverwaltung, die Hong Kong 156 Jahre lang (bis zur Übergabe am 1. Juli 1997) beherrschte, niemals gestattet hätte. Peking fühlt sich von diesen Forderungen bedroht. Man fürchtet, dass das „Virus der Demokratie“ sich auf den Rest Chinas ausweiten und Kräfte freisetzen könnte, die zum Sturz der Regierung führen könnten.

Gleichzeitig ist die Diktatur eingeschränkt durch eine Reihe ökonomischer und politischer Faktoren und kann nicht einfach rohe Gewalt walten lassen, um den „Geist der Demokratie“ wieder zurück in seine Flasche zu prügeln. Zum ersten würde damit die Gefahr eines Exodus aus der Sonderverwaltungszone drohen und das Risiko massiver mittelbarer Auswirkungen hinsichtlich ihrer Rolle als Finanz- und Justizmetropole sowie der damit einher gehenden Investitionen, die über Hong Kong nach Kontinentalchina transferiert werden, stiegen immens. Diese Fakten spiegeln sich auch in der offiziellen Hong Konger Berichterstattung über die Demokratie-Demonstration wider: Während ausgiebig von der offiziellen Flaggenparade und der dazugehörigen Feierstunde zur Wiedereingliederung Hong Kongs ins chinesische Kernland vor 12 Jahren berichtet wurde, erwähnte China Daily nur, dass „später am gestrigen Tag nach Polizeiangaben etwa 26.000 Menschen auf die Straße gingen, um zu protestieren.“

China Daily brachte zwar nichts dazu, weshalb der „Protest“ stattgefunden habe, da hingegen jedoch einiges darüber, dass mehrere tausend Menschen an einem gesonderten Protest gegen die Bankhäuser teilgenommen haben, die mit in die Kleinanleger-Affäre in der Sache Lehman Brothers drin hängen. Ohne genauere Hintergründe anzugeben (so erleichterten die großen US-amerikanischen und auch Hong Konger Ableger der Banken aus Kontinentalchina zusammen rund 48.000 KleinanlegerInnen um einen Gesamtbetrag von nahezu 20 Milliarden Hong Kong-Dollar), machten die etablierten Medien den Eindruck, mit sicherem Gefühl über einen gegen die Banken gerichteten Protest berichten zu können, aber nicht über einen solchen, der die Vorgehensweisen und die Legitimation des chinesischen Regimes in Frage stellt.

Selbst das jedes Jahr sich wiederholende Gezänk zwischen Polizei und VeranstalterInnen um die richtige Teilnehmerzahl ist Teil der behördlichen Bemühungen, die Demonstration vom 1. Juli klein zureden. Wie oben beschrieben gab die Polizei die lächerlich niedrige Zahl von 26,000 für die gestrige Pro-Demokratie-Demo aus. Das ist nur ein Drittel der Schätzung der VeranstalterInnen. Bei der von offizieller Seite unterstützten Pro-Peking-Parade mit der dazugehörigen Zeremonie waren sich Veranstalter und Polizei hingegen sehr einig. Beide sprachen hierbei von 40.000 Teilnehmern! Später am gestrigen Tage kam es noch zu unschönen Szenen als die Polizei einige Tausend einkesselte, die in der brütenden Hitze warteten, um sich der Demo anschließen zu können. Viele mussten von Erste-Hilfe-Teams behandelt werden, weil die Temperatur bisweilen 32° C im Schatten überstieg. Ein Politiker beschuldigte die Polizei sogar, sie habe bewusst verhindern wollen, dass die Demonstration während des Zuges durch die Stadt größer würde.

Immer mehr ArbeiterInnen und Jugendlichen beteiligen sich

Das Wichtigste an der gestrigen Demo ist, dass sie über ihren bisherigen Charakter als „reiner“ Demokratie-Marsch hinaus ging. Einige Gewerkschaftsgliederungen reihten sich erstmals mit ein, die ihr Missfallen über das Regierungshandeln in der Krise kundtaten. Dies ist eine äußerst wichtige Entwicklung und offenbart die Möglichkeit, den Kampf um demokratische Rechte auf eine höhere Ebene hieven zu können, indem man diesen entschieden mit der organisierten Arbeiterklasse verbindet statt wie bisher, da es sich um eine aus professionellen Gruppierungen und Intellektuellen der Mittelschicht dominierte Bewegung handelt.

Postbeschäftigte, die gegen Kürzungen kämpfen, und ein großes Kontingent von Behördenbediensteten, die aufgrund von Ausgliederungen von Stellenstreichungen betroffen sind (eine Berufsgruppe übrigens, deren Branchensprecher sich traditionell scheute, eine „politische“ Haltung anzunehmen), war mitten drin dabei. Auf 160.000 Hong Konger Behördenbedienstete wird momentan Druck ausgeübt, um eine Einkommenskürzung von 5,8 Prozent hinzunehmen, damit die Situation im Privatsektor „widergespiegelt“ werden kann, wo mehr als 40 Prozent der Beschäftigten unter Lohnkürzungen leiden. Auch mehrere tausend WanderarbeiterInnen aus Indonesien, den Philippinen und anderswo waren mit dabei, die mehr Sicherheit und Berücksichtigung durch ein neues Mindestlohngesetz einforderten. Nicht zum ersten Mal waren diese, in erster Linien weiblichen Arbeiter, die seit etlichen Jahren von zu Hause entwurzelt sind, um in Hong Kong sicher zu stellen, dass es nicht an den grundlegenden Dienstleistungen mangelt, die kämpferischsten und ausgestattet mit dem höchsten Klassenbewusstsein. Auf ihren Transparenten stand zu lesen: „Wir sind Arbeiter, keine Sklaven!“ und ihre Forderung hieß: „Keine Lohnkürzungen!“.

Veranstaltungen, die in den vorausgegangenen Tagen mit Tausenden stattfanden, die ihren ersten Demozug seit 30 Jahren durchführen wollten, wurden von Polizisten bedroht (und mit Mühe durch geschicktes Manövrieren von offizieller Seite verhindert), was das Ausmaß der sozialen Krise unterstreicht, die sich in Hong Kong entwickelt. Die South China Morning Post kommentierte, dass die Stimmung einiger DemoteilnehmerInnen „wütender war als in den vorherigen Jahren“. Es gab sogar einen Klage-Chor, der die wachsende Unzufriedenheit in der Stadt hervorhob!

Über zehntausend Bankopfer organisierten zu Beginn des Tages einen Marsch, der in turbulenten Szenen endete. Absperrungen wurden niedergerissen und es kam vor der Zentrale der Bank of China zu einigen Handgreiflichkeiten mit der Polizei. Bei diesem Bankhaus, dem verlängerten Arm der zweitgrößten chinesischen Bank in Hong Kong, handelt es sich schlichtweg um den schwerwiegendsten Straftäter im Lehman-Skandal. Später abends veranstalteten einige hundert – in erste Linie junge – DemonstrantInnen einen Protest vor den Regierungs- bzw. Verwaltungsgebäuden Hong Kongs, wo sie schworen, so lange bleiben zu wollen, bis Donald Tsang mit ihnen sprechen würde. In den frühen Morgenstunden wurden diese DemonstrantInnen, unter denen sich auch „Long Hair“ Leung Kwok-Hung befand, dann gewaltsam von der Polizei des Platzes verwiesen.

Die jugendliche Zusammensetzung des Marsches, die einige Kommentatoren doch überraschte, wurde in den Medien als heiße Meldung behandelt und von den etablierten Politikern besorgt aufgenommen. „Eine beträchtliche Anzahl junger Leute hat eine Anti-Establishment-Mentalität entwickelt“, kommentierte Professor Lau Siu-kai, seines Zeichens wichtigster politischer Berater der Regierung. Studierende trugen T-Shirts mit dem Slogan: „Wir sind nicht Donalds [Tsangs] Sklaven“. Wong Yuk-man von der League of Social Democrats (sozialdemokratische Liga; Erg. d. Übers.) sah die hohe Beteiligung Jugendlicher wie folgt: „Sie sind die neue Kraft der Demokratie. Gib Acht, Donald Tsang.“

Massenpartei der ArbeiterInnen vonnöten

Schemenhaft, jedoch noch nicht als bewusst organisierte Bewegung, ist die Demonstration von gestern so etwas wie das Erwachen einer neuen sozialen Bewegung, die die Wut der Beschäftigten über die Auswirkungen der kapitalistischen Krise eins werden lässt mit der Ungeduld hinsichtlich der Verzögerungstaktik der offiziellen Stellen in Relation zu Forderungen nach Demokratie. All das untermauert einen Trend hin zu mehr Radikalisierung in Hong Kong, die zurückgeht auf die Wahlen zum Gesetzgebenden Rat im vergangenen Jahr (wobei in der Tat nur die Hälfte der Sitze des Rats durch Wahl bestimmt sind), bei der die radikale League of Social Democrats (LSD) in ihrer ersten Wahl überhaupt 10 Prozent der Stimmen erzielte. Die große Teilnahme gestern folgte der Rekordteilnahme beim 1. Mai mit 7.000 Menschen und der Mega-Mahnwache anlässlich des Tiananmen-Jahrestages am 4. Juni. Mit einer Arbeitslosigkeit, die sich nahezu verdoppelt und den Wert von 5,8 Prozent erreicht hat, und einer Wirtschaft, die in eine tiefere Krise gestürzt ist als schon in den 1990er Jahren (das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr voraussichtlich um 6,5 Prozent schrumpfen) ist es kein Wunder, dass Tsang bei der Flaggenparade von einem „Jahr der Herausforderungen“ sprach!

Entscheidender Faktor in Hong Kong ist, dass eine Massenpartei der ArbeiterInnen fehlt, die eine politische Alternative bieten und für die verschiedenen aber miteinander verbundenen Schichten ein Kampfvehikel sein kann. Die Errungenschaften der LSD, obgleich sie zum jetzigen Zeitpunkt immer noch eine recht kleine Kraft ist, weisen zweifellos auf das Potenzial hin, das für die Herausbildung einer neuen Arbeiterpartei vorhanden wäre. Wesentlich bedeutsamer wird dies, wenn die Auseinandersetzung mit dem chinesischen Regime über das allgemeine Wahlrecht ins dreizehnte Jahr geht. Jährliche Märsche und Demonstrationszüge reichen nicht aus, um ein solch ein fest verwurzeltes Regime verändern zu können, für das so viel auf dem Spiel steht. Das soll nicht heißen, dass das Regime nicht auch dazu gebracht werden könnte, Konzessionen machen zu müssen: So kam es gestern (ironischer Weise am 88. Geburtstag der herrschenden Partei) auch dazu, dass die Regierung bezüglich der Einführung der Computerhardware Green Dam-Youth Escort, die die Regierung in allen im chinesischen Kernland verkauften Computern einbauen lassen will, einen Rückzieher machte. Internet-AktivistInnen warnen jedoch, dass ihre Kampagne fortgesetzt werden muss, da die Behörden dieses Thema zweifellos wieder aufs Tapet werden bringen wollen.

SozialistInnen und die UnterstützerInnen des Internetportals chinaworker.info betonen die Notwendigkeit noch energischerer Maßnahmen im Kampf für Demokratie und vor allem zur Mobilisierung der Arbeiterklasse in diesem Kampf. Wir rufen dazu auf, Demokratie-Komitees in jedem Betrieb, jeder Schule und Wohngebäude einzurichten, um in diesem Kampf die Muskeln spielen zu lassen. Die Jugend kann zur Speerspitze dieser Bewegung werden, wenn sie sich in einer Art erstem Schritt auf einen eintägigen Schüler- und Studierenden-Streik vorbereiten würde, der die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht mit dem Protest gegen Jugendarbeitslosigkeit und Hungerlöhnen für junge Leute (wie etwa in Fast-Food-Restaurnts) miteinander verbindet. Jede solche Kampagne muss mit der Forderung nach notwendigem Wandel in chinesischen Kernland verbunden werden und mit der Unterstützung für die Kämpfer der ArbeiterInnen dort. Wie es in dem Flugblatt hervorgehoben war, das CWI-AnhängerInnen bei der gestrigen Demonstration verteilten: „Der Kampf um Demokratie kann sicherlich in Hong Kong beginnen. Er kann aber nicht hier allein gewonnen werden. Dieser Kampf ist Teil eines breiteren Kampfes in ganz China zur Beendigung der Ein-Parteien-Herrschaft und Einführung fundamentaler demokratischer Rechte“.

Die UnterstützerInnen des CWI und von chinaworker.info nahmen an der gestrigen Demonstration teil um deutlich zu machen, dass der Kampf um demokratische Rechte und gegen Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen zusammenhängt mit dem nötigen Bruch mit dem krisengeschüttelten Kapitalismus und dem Aufbau einer wirklich sozialistischen Gesellschaft mit einer demokratischen Kontrolle über die Großkonzerne, Banken und weite Teile der Ökonomie.

Internetportal des CWI zu China und Asien (englisch, chinesisch): chinaworker.info