Die Bahn: Auf Privatisierungskurs

Fütterung von „Heuschrecken“ und Entstehen eines privaten Molochs


 

Ende Oktober will die Große Koalition die folgenschwerste Privatisierung, die es in der deutschen Geschichte je gab, in Angriff nehmen und im Bundestag darüber entscheiden, ob das Bundeseigentum an der Deutschen Bahn AG weitgehend an private „Investoren“ verkauft wird. Gleichgültig welche Form der Privatisierung am Ende gewählt werden würde – ob es zu einem „integrierten Börsengang“ oder zur Umsetzung des so genannten Eigentumsmodells kommt –, gilt: Damit droht eine Verkehrsform auf Schienen, die in 170 Jahren aufgebaut wurde, weitgehend zerstört zu werden.

von Winfried Wolf

Vor zwölf Jahren wurde die DB AG gebildet, die sich zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes befindet. Damals wurden für die Bahnreform die gleichen Ziele genannt, die heute für die materielle Privatisierung der Bahn nun in den Mittelpunkt gestellt werden.

Formelle Privatisierung 1994

Es gehe um erstens Kostensenkung für die Steuerzahlenden, zweitens um Servicefreundlichkeit der Bahn, und drittes um eine verbesserte Marktposition der Schiene.

Doch alle drei Ziele wurden verfehlt.

•Der Bund zahlt inzwischen mehr an staatlichen Geldern für die Schiene als vor 1994 (jährlich rund zwölf Milliarden Euro). Gleichzeitig ist die DB AG, die 1994 schuldenfrei startete, mit 21,5 Milliarden Euro so hoch verschuldet wie die Bundesbahn Ende 1993.

•Im Ranking unter allen großen Unternehmen landet die DB AG in puncto Kundenfreundlichkeit in der Regel auf dem letzten Platz.

•Laut offizieller Verkehrsstatistik hat die Schiene im Personen- wie im Güterverkehr im Zeitraum 1993 bis 2004 weiter an Boden verloren. Dies gilt insbesondere für den Fernverkehr: Obgleich in diesen 1994 bis 2005 rund hundert Milliarden Euro investiert wurden, gab es sogar einen absoluten Rückgang der Fernverkehrsleistungen.

Tatsächlich gibt es Erfolge im Personenverkehr (auch bei einzelnen privaten Anbietern) nur im Nahverkehr, also dort, wo zwei Drittel der Einnahmen aus staatlichen Unterstützungen stammen. Mit der Bahnreform wurden diese Unterstützungszahlungen deutlich erhöht („Regionalisierungsgelder“).

Die DB AG hat den kleinteiligen Schienengüterverkehr radikal abgebaut. Gab es 1992 noch 13.629 „Privatgleisanschlüsse“ (Industriegleise), so waren es 2004 gerade noch 4.004.

In der Regel begrenzt sich im Personennahverkehr der „Wettbewerb“ auf einen Wettbewerb um Staatsknete. Im Güterverkehr kommt es zur klassischen „Rosinenpickerei“.

Marktordnung

Die Schiene befindet sich – in krassem Widerspruch zu den hehren Erklärungen auf den Klimakonferenzen – international seit Jahrzehnten auf dem Rückzug. In den USA, im ehemals klassischen Eisenbahnland, ist ihr Marktanteil im Personenverkehr auf 0,4 Prozent gesunken. Europa ist der einzige Kontinent, in dem die Schiene im Personenverkehr mit rund acht Prozent Marktanteil noch eine nennenswerte Position im Verkehrsmarkt einnimmt.

Der Verkehrsmarkt wird seit langer Zeit vom Auto und vom Flugzeug bestimmt. Als Stichworte seien genannt: Steuerfreiheit für Kerosin und Förderung von Billigfliegern und Regionalflughäfen. Die konkrete Verkehrspolitik ergänzt die Ungleichgewichte: So werden seit Jahrzehnten in Deutschland jährlich (!) rund 1.000 Kilometer neue Straßen (Gemeinde-, Kreis-, Land- und Bundesstraßen beziehungsweise Bundesautobahnen) gebaut und – ebenfalls jährlich! – bis 1993 rund 200 Kilometer und seit 1994 rund 450 Kilometer des Schienennetzes abgebaut. Allein seit der Bahnreform 1994 „verschwanden“ 5.300 Kilometer des deutschen Schienennetzes.

Unter diesen Bedingungen ist der Schienenverkehr als Ganzes dort defizitär, wo er eigenwirtschaftlich betrieben wird. Anders stellt es sich dar, wenn Konsequenzen aus der Debatte um die „externen Kosten des Verkehr“ gezogen und die Folgekosten des Verkehrs für Umwelt, Klima und kommende Generationen in Betracht gezogen werden. Bei einer solchen Sichtweise müssten sich die Transporte auf Straßen und der Luftverkehr deutlich verteuern.

Mit der nun debattierten materiellen Privatisierung der Bahn werden alle negativen Erscheinungen der Bahnreform von 1994 potenziert. Sechs weitreichende reale Konsequenzen seien benannt.

Konsequenz 1: Im Personenverkehr zum Nischenanbieter

Alle maßgeblichen Gutachten gehen davon aus, dass das Schienennetz im Fall einer Bahnprivatisierung erneut deutlich reduziert wird. Im Gespräch ist ein Abbau von weiteren 5.000 Kilometern. Damit läge die Gesamtlänge des deutschen Schiennetzes mit rund 29.000 Kilometern auf den Stand von 1875.

Die Ausrichtung an einer hohen Rendite, zu der sich jeder private Investor verpflichtet sieht, mündet in der Konzentration auf rentable Strecken und der Aufgabe von unrentablen Verbindungen. Laut dem Bundestags-Gutachten würde der Schienenpersonennahverkehr weitgehend auf dem erreichten Niveau verharren. Dabei sind die von der Bundesregierung beschlossenen Kürzungen der Regionalisierungsmittel für den Zeitraum 2006-2010 noch nicht berücksichtigt. Der Schienenpersonenfernverkehr soll sogar absolut rückläufig sein. Lediglich im Schienengüterverkehr soll es zu Anteilsgewinnen kommen.

Ergebnis: Eine privatisierte und im Sinn der Investoren „rentable“ Bahn wird notwendig dazu führen, dass das Schienennetz weiter abgekappt und der Fahrplan deutlich ausgedünnt werden.

Konsequenz 2: Ausverkauf gesellschaftlichen Eigentums

Das gesamte Vermögen der Bahn – Infrastruktur und rollendes Material – wird auf einen Wert von 100 bis 150 Milliarden Euro geschätzt. In der Bilanz der DB AG wird ein Anlagewert von 40 Milliarden Euro ausgewiesen. Die Differenz ist Resultat von zwei Kunstgriffen: Erstens tauchten Anfang 1994 zwei Drittel des Anlagewerts, den Bundesbahn und Reichsbahn Ende 1993 ausgewiesen hatten, in der Eröffnungsbilanz der DB AG vom Januar 1994 nicht mehr auf. Damit wurden günstige Startbedingungen für ein positives Bild der Bahnreform geschaffen: Niedrigere Abschreibungen bewirken höhere (künstliche) Gewinne. Zweitens wurden die Bauzuschüsse des Bundes für das Schienennetz in Höhe von 40 Milliarden Euro, die im Zeitraum 1994 bis 2005 gezahlt wurden, nicht bilanziert. Diese Zuschüsse sind spätestens dann pures Gold wert, wenn private Investoren einsteigen.

Die Bundesregierung veranschlagt als Einnahmen im Fall eines „integrierten Börsengangs“ nur zehn bis 15 Milliarden Euro. Selbst wenn es nur zu einem Verkauf des Bahnbetriebs kommt und das Netz beim Bund bleibt, kann der Wert des „rollenden Materials“ auf 20 bis 25 Milliarden Euro geschätzt werden. Doch die Bundesregierung erwartet bei einem Verkauf des reinen Schienentransport-Sektors lediglich Einnahmen von vier bis sieben Milliarden Euro.

Ergebnis: Die Bahnprivatisierung ist die Verschleuderung von gesellschaftlichem Vermögen.

Konsequenz 3: Privatisierung kommt uns teuer zu stehen

In der Summe sollen nach einer Privatisierung die staatlichen Unterstützungszahlungen (darunter zwei bis drei Milliarden Euro jährlich für das Schienennetz sowie derzeit sieben Milliarden Euro jährlich Regionalisierungsgelder für den Nahverkehr) nicht niedriger sein. Das aber heißt: Die kurzfristigen Einnahmen durch den Teilverkauf des Bundeseigentums an der Deutschen Bahn AG an private Investoren werden spätestens im zweiten Jahr nach der Bahnprivatisierung übertroffen von den staatlichen Unterstützungsleistungen, die der Schiene – nunmehr in erheblichem Maß: den privaten Anteilseignern – zufließen.

Ergebnis: Jährlich werden bis zu zwölf Milliarden Euro an Steuergeldern für die Förderung der dann neuen privaten Bahneigentümer ausgegeben. Gleichzeitig tendiert die Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel gegen null.

Konsequenz 4: Schlechtere Kapitalausstattung

Eine gängige Behauptung lautet: Mit der Bahnprivatisierung könne sich die Bahn frisches Kapital besorgen. Das Gegenteil trifft zu. Eine privatisierte Deutsche Bahn AG hätte zunächst ein deutlich schlechteres Kredit-Rating als die DB AG in Bundesbesitz. Jede Form der Aufnahme von Fremdkapital käme teurer. Vor allem aber müssen private Investoren darauf drängen, die derzeitige offizielle Rendite von zwei Prozent zumindest zu vervierfachen. Sie würden somit der Bahn Gelder, die potenziell dem Schienenverkehr zur Verfügung stehen, entziehen.

Ergebnis: Eine privatisierte Bahn ist eine zu Lasten der Fahrgäste arme Bahn.

Konsequenz 5: Gefahr der Fremdbestimmung

Alle Modelle eines Bahn-Börsengangs sind damit verbunden, dass private Investoren, auch Heuschrecken genannt, Miteigentümer werden. Vor dem Hintergrund eines vom Auto und Flugzeug dominierten Verkehrsmarkts ist auch vorstellbar, dass Investoren einsteigen, die dem Schienenverkehr widersprechende Interessen vertreten. In Großbritannien sind heute Busverkehrgesellschaften (StageCoach; Arriva) und (Billig-)Flugverkehrsunternehmen (Virgin) die wesentlichen Eigentümer privater Bahnbetreiber.

Ergebnis: Eine private Bahn droht in dem vom Auto und Flugzeug beherrschten Markt ein Schicksal zu erleiden, wie es die Bahnen in den USA erlebt haben. Diese wurden durch die US-Auto- und Reifenindustrie beziehungsweise von Unternehmen, die eng mit den Autokonzernen verbunden waren, aufgekauft und in ein Nischendasein gedrängt.

Konsequenz 6: Arbeitsplatzabbau

In kaum einem anderen Wirtschaftsbereich wurden die Arbeitsplätze derart radikal abgebaut wie im Bahnsektor. In der BRD kam es seit der Bahnreform im Schienenverkehrsbereich zu einer Halbierung der Beschäftigtenzahl (von 360.000 auf 180.000; ohne Stinnes-Schenker). Hinzu kommen einige zehntausend Arbeitsplätze, die in der Bahntechnik abgebaut wurden. Die nun zur Entscheidung anstehende materielle Bahnprivatisierung gefährdet in den Bereichen Schiene und Bahntechnik weitere 80.000 bis 100.000 Arbeitplätze.

Ergebnis: Ein privater Schienenverkehr führt zu einem Abbau von gesellschaftlich sinnvollen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen. Dies muss die Qualität des Service und die Sicherheitsstandards weiter verschlechtern.

Neue Debatte: „Eigentumsmodell“

Seit Juni 2006 gibt es eine neue Situation. Im Gespräch ist das so genannte Eigentumsmodell. Dieses wird wie das Kaninchen aus dem Zylinder hervor gezaubert.

Bei dieser Privatisierungs-Variante wird das Netz aus der DB AG herausgetrennt und bleibt im Besitz des Bundes. Die materiell zu privatisierende (Rest-) Deutsche Bahn AG wird über eine Art Generalvertrag allein zuständig bleiben für den Unterhalt und die Bewirtschaftung des Netzes. Da es bei dieser Variante einen engen Zusammenhang zwischen der Transportgesellschaft DB AG und dem formell staatlichen Netz geben wird, darf – so die derzeit noch vorherrschende Auffassung – die DB AG nur zu 49 Prozent in das Eigentum von privaten Investoren übergehen.

Dieses Modell soll es allen recht machen: Das Netz bleibt staatlich („Keine irreversible Entscheidung“!). Der Transport ist zwar weitgehend privatisiert; doch DB AG und Netz bleiben vertraglich gesichert eng verbunden („Keine Zerschlagung des Konzerns!“).

Im Grundsatz treffen auch auf dieses Privatisierungsmodell die erwähnten sechs negativen Folgen zu. Zunächst wirft dieses Modell drei kritische Fragen auf.

Erstens: Wo verbleiben die in der AG Station & Service zusammengefassten rund 5.500 Bahnhöfe?

Zweitens: Was ist mit den „falsch verbuchten Immobilien“? Im Mai 2006 wurde nach Untersuchungen des Bundesrechnungshofs bekannt, dass die DB AG eine nicht näher benannte Zahl wertvoller Bahnhöfe und Trassen nicht, wie seit 1999 gesetzlich erforderlich, in den Bilanzen der Infrastrukturgesellschaften Netz AG und AG Station und Service verbuchte. Stattdessen wurden diese der Holding DB AG zugeschlagen. Der Bahnvorstand kündigte Ende August 2006 an, eine Umbuchung der falsch bilanzierten Grundstücke vornehmen zu wollen. Erstmals nannte er auch einen Wert von rund zwei Milliarden Euro (!), auf den diese Grundstücke zu bilanzieren wären. Gleichzeitig wurde jedoch mitgeteilt, diese Grundstücke wären mit hohen Verbindlichkeiten belastet. Das heißt: Im Fall einer Trennung von Netz und Betrieb würde allein diese Umbuchung zu neuen hohen Verbindlichkeiten des Bundes führen.

Doch dies ist – drittens – ein grundlegendes Dilemma beim „Eigentumsmodell“: 15 Milliarden Euro Verbindlichkeiten (von insgesamt 21,5 Milliarden Euro Bahnschulden) lasten auf der Netz AG. Allein die Übernahme dieser Bahnschulden läge beim Doppelten dessen, was der Bund mit einem Verkauf von 49 Prozent der (Rest-) DB AG erzielen könnte.

Das Eigentumsmodell vereint die negativen Aspekte

Vielfach wird argumentiert, es komme bei einer Heraustrennung des Netzes zu einem „Mehr an Wettbewerb“. Doch gerade dies zeitigt fatale Folgen: Je mehr private Betreiber es im Schienennetz gibt, desto mehr wird sich dies zu einem Flickenteppich in Bezug auf Fahrpläne, Tarife und Standards von Service und Sicherheit entwickeln.

Das Eigentumsmodell ist gleichzeitig mit dem wesentlichen negativen Element des Modells „integrierter Börsengang“ verbunden: Durch den langfristigen Generalvertrag bleibt die teilprivatisierte DB AG faktisch Herr über das Netz. Anstelle des staatlichen Monopolisten wird es zur Herausbildung eines privaten Monopolisten kommen.

Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass allein im ersten Jahrzehnt nach der Bahnprivatisierung rund hundert Milliarden Euro Steuergelder (vor allem für Investitionen und Regionalisierungsgelder) in einen weitgehend privatisierten Sektor Schiene fließen. Dies stellt ein einmaliges Potenzial für Missbrauch dar. Das Eigentumsmodell wird sich im Wortsinn als ein großer Verschiebebahnhof für gewaltige Transfers an öffentlichen Geldern erweisen.

Es gibt Alternativen!

In Zeiten, in denen der Ölpreis immer wieder neue Rekordhöhen erreicht und Kriege um Öl geführt werden und die Gefährdung elementarer Bedingungen für menschliches Leben auf unserem Planeten Erde offensichtlich ist, ist eine nachhaltige und zukunftsfähige Energie- und Verkehrspolitik erforderlich. Diese setzt den Erhalt des öffentlichen Eigentums an der Schieneninfrastruktur und dem Betrieb des Schienenverkehrs voraus.