Ukraine: Führt Säbelrasseln zum Krieg?

In Europa werden Truppen mobilgemacht. Mehr als 100.000 russische Soldat*innen und schweres Gerät stehen an an der ukrainischen Grenze und auf der Krim, die NATO setzt Truppen in Alarmbereitschaft und entsendet Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe nach Osteuropa. Beide Großmächte werfen “hunderttausende Tonnen Diplomatie” in das gefährliche Tauziehen um die Ukraine. 

Von Marcus Hesse, Aachen

Die erneute Zuspitzung der Ukraine-Krise findet vor dem Hintergrund zunehmender globaler Spannungen statt. Die Krise verschärft den imperialistischen Konkurrenzkampf. Die Interessen der Weltmächte prallen aufeinander. Das Potenzial einer gewalttätigen Entladung dieser sich immer weiter aufbauenden Spannungen nimmt täglich zu. Auch wenn weder Russland noch die USA einen Krieg um die Ukraine führen möchten, drehen beide an der Eskalationsschraube. 

Der Konflikt zwischen NATO und Russland ist einer der bestimmenden Weltkonflikte. Schon seit dem Ende der 90er Jahre rückt die NATO enger an Russlands Grenze. Nachdem ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien) dem Bündnis beigetreten sind, sind jetzt auch Schweden und Finnland Beitrittskandidaten. Russlands Befürchtung ist, ohne Pufferstaaten direkt an die rivalisierende NATO zu grenzen. 

Der Umsturz in der Ukraine 2014 hat das Kräfteverhältnis weiter radikal geändert. Die alte pro-russische Regierung wurde gestürzt und durch eine pro-europäische ersetzt. Russland annektierte daraufhin die Krim und unterstützte die pro-russischen “Volksrepubliken” in Donezk und Lugansk im militärischen Kampf gegen die Kiewer Zentralregierung. Diese ersucht aktuell die NATO um Waffenhilfe, aus Angst vor einer militärischen Eskalation durch Russland.

Nationalismus gegen innere Probleme

Seit der Gründung des ukrainischen Staates 1991 wechselten sich pro-russische Kräfte und solche ab, die stärker auf ukrainischen Nationalismus und Bindung an den Westen setzen. Beide stützen sich auf unterschiedliche Teile des Oligarchentums. Die russischsprachige Minderheit im Land erlitt besonders ab 2014 etliche Benachteiligungen, was sich in der Zurückdrängung des Russischen aus Alltag, Medien und Bildungswesen ausdrückte. Zunehmend dominiert der ukrainische Nationalismus die Kultur. Während Denkmäler aus sowjetischer Zeit geschleift wurden, pflegt das ukrainische Establishment unverhohlen die Verherrlichung des ukrainischen Nationalismus der Vergangenheit, selbst da, wo er mit den Nazi-Besatzungstruppen kollaborierte. All das führt auf Seiten der russischsprachigen Minderheit im Osten des Landes zur Hinwendung zum pro-russischen Separatismus der „Volksrepubliken“, die trotz ihres Namens von Oligarchen beherrschte kapitalistische Gebilde sind. Auch hier dominiert – trotz verbalem Bezug auf das sowjetische Erbe – Nationalismus und eine konservativ-klerikale Ausrichtung. Sowohl der ukrainische Staat als auch die „Volksrepubliken“ beziehen rechtsradikale bis faschistische Kräfte ein, die auf beiden Seiten dieses Konfliktes kämpfen.

Der amtierende ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, ein ehemals populärer Schauspieler, wurde 2019 mit einem populistischen Programm gewählt, das sich zentral um Bekämpfung der Korruption und eine friedliche Beilegung des Konfliktes in der Ostukraine drehte. Doch an den gravierenden sozialen Problemen – hohe Armut, Arbeitslosigkeit, und Inflation – änderte er nichts. Im Oktober 2021 wurde enthüllt, dass der selbsternannte Anti-Korruptions-Kämpfer Selenskyj selbst Steuerflucht über Briefkastenfirmen betreibt. Seit November 2021 spricht er verstärkt von einem von Russland geplanten Putsch und schlägt Alarm bezüglich eines Angriffs des russischen Militärs. Die Beschwörung der außenpolitischen Bedrohung lenkt von den ungelösten inneren Problemen ab.

Russland und die NATO

Auch Russland hat allen Grund, von inneren Problemen ablenken zu wollen. Die verschärfte Rhetorik geht aber über das reine Säbelrasseln hinaus. Russland ist eine starke Regionalmacht – siehe die Interventionen in Belarus und Kasachstan – und jedes Vorrücken der NATO verringert ihren Einfluss. Im Spiel der Weltmächte spielt Russland nur noch die zweite Geige, hat aber bei seiner Militärhilfe für Syriens Assad, ohne die der Diktator vermutlich schon gestürzt worden wäre, seine weiter vorhandene Schlagkraft unter Beweis gestellt.

Der Westen befürchtet, dass Russland und China enger zusammenrücken. Tatsächlich könnte das expansive Gebaren der NATO genau dazu führen. Die NATO selbst ist dabei nicht einig. Die US-amerikanische Führung setzt auf Sanktionen, die osteuropäischen Mitgliedsländer drängen auf ein schärferes Vorgehen, während Deutschland und Frankreich eher lavieren. 

Deutschlands Interessen

Auch wenn die mediale Berichterstattung in Deutschland und der politische Mainstream klar anti-russisch sind, Putin als Aggressor dargestellt und die Ostexpansion der NATO seit 1991 ausgeklammert wird: Deutsche Konzerne und ihr Staat haben kein Interesse an einer weiteren Eskalation, an einem verschärften Embargo oder gar einem Krieg. 

Russland ist auch ein wichtiger Geschäftspartner und Absatzmarkt für deutsche Konzerne. Schon in der Ukraine-Krise 2014 sagte Siemens-Chef Joe Kaeser, dass man sich “von kurzfristigen Turbulenzen in unserer langfristigen Planung auch nicht übermäßig leiten” lasse – kein Wunder, bei 2 Milliarden Euro Umsatz alleine in Russland. 

Zudem ist Deutschland – ebenso wie die Ukraine – abhängig von russischen Gaslieferungen. Die Drohung, diese zu unterbinden, hätte gravierende ökonomische Auswirkungen. Die Ukraine fordert derweil, dass Deutschland und Russland den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 stoppen. Mit dieser würden Gaslieferungen nicht mehr durch die Ukraine geleitet werden müssen. Dass die Bundesregierung es abgelehnt hat, Waffen in die Ukraine zu liefern, hat das Verhältnis ebenso verschlechtert wie die Äußerungen des Admirals der deutschen Marine Schönbach, der die Furcht vor einem Angriff Russlands als “Nonsens” bezeichnet hatte – der wahre Feind sei nämlich China. Seine eilige Entlassung gehört ebenso zum diplomatischen Tauziehen um die Ukraine wie der Truppenaufmarsch von beiden Seiten. 

Wird es Krieg geben?

Das beiderseitige Drehen an der Eskalationsstufe ist brandgefährlich. Bei den gegenseitigen Drohungen kann eine Eskalation auch “aus Versehen” stattfinden. Bei vielen Menschen wächst die Angst vor einem Krieg. Bei beiden Mächten handelt es sich um Atommächte, was die Aussicht auf einen Krieg noch beunruhigender macht. Gleichzeitig macht diese gegenseitige Abschreckung einen großen Krieg aber auch unwahrscheinlicher. Eine weitere Verschärfung über einen Stellvertreterkrieg hinaus wäre für beide Seiten zu riskant.  Die wahrscheinlichere Perspektive ist, dass mehr Truppenaufmärsche und höhere Alarmbereitschaft einhergehen mit hektischer Diplomatie und schärferen Sanktionen, die eine wirtschaftliche Entkupplung vorantreiben. Trotzdem besteht weiterhin die Gefahr einer weiteren Eskalation, weil die Triebkraft dieses Konflikts bleibt: Die kapitalistische Konkurrenz der Nationalstaaten. 

International Socialist Alternative (ISA) in Russland argumentiert für den  aktiven Widerstand gegen Krieg und Imperialismus: “Sozialist*innen rufen alle bewussten Arbeiter*innen und Student*innen dazu auf, mit dem Aufbau einer starken, internationalen Antikriegsbewegung zu beginnen, die sich gegen jede*n wendet, der*die versucht, einen Krieg zwischen den Völkern anzuzetteln. Wir kämpfen nicht für abstrakten Pazifismus, sondern für einen vereinten Kampf gegen das System, das Krieg, Armut, Klima- und Umweltkatastrophen, Pandemien und Autoritarismus verursacht.”