Katherine Bigelows Thriller “House of Dynamite”: 20 Minuten bis zur Apokalypse

Nach fünfjähriger Pause kehrt Katherine Bigelow mit dem apokalyptischen Thriller House of Dynamite ins Kino zurück. Im Zentrum des Drehbuchs steht ein unerwarteter Angriff einer einzelnen interkontinentalen ballistischen Rakete auf die Vereinigten Staaten. Das offene Ende verweigert dem Publikum jede tröstliche Gewissheit: Wir erfahren weder, wer die Rakete abgefeuert hat, noch ob sie einen nuklearen Sprengkopf trägt – und schon gar nicht, ob es überhaupt noch ein “danach” gibt.

Von Sascha Rakowski

Immer wieder zeigt der Film die Reaktionen amerikanischer Militärs, der Beamt*innen im Situation Room (Lagebesprechungsraum) des Weißen Hauses und der zahllosen “Zahnräder” im gigantischen Staatsapparat – vom Pförtner des Weißen Hauses bis zum Präsidenten selbst. Zwanzig Minuten rasend eskalierender Ereignisse können in die nukleare Zerstörung der Zivilisation münden.

Bigelow wollte keine postapokalyptische Gegenutopie im Stil der atomkritischen Filme des 20. Jahrhunderts drehen. Der Film ist auf den Ablauf fokussiert: fast dokumentarisch zeigt er die Funktionsweise des militärisch-politischen Apparats im Moment einer Krise, in dem Entscheidungsfreiheit zur Illusion wird.

Die Trägheit, die Wucht und die Unaufhaltsamkeit, mit der ein lokaler Zwischenfall in einem globalen Krieg kippen kann, zermahlen buchstäblich die Menschen, die zwischen Selbstaufopferung, persönlicher Rettung und der Rettung ihrer Familie gefangen sind.

Hervorzuheben ist die brillante Darstellung von Rebecca Ferguson als Olivia Walker, der Offizierin, die für den Situation Room verantwortlich ist. Ihre Figur schwankt zwischen dem verzweifelten Wunsch, ihr eigenes Kind zu retten, und den Pflichten einer militärisch-politischen Managerin. Auch die übrigen Charaktere entsprechen keineswegs den klassischen Hollywood-Archetypen makelloser Soldat*innen, Beamt*innen, Agent*innen oder Präsident*innen.

Die emotionale Wucht des Films ist umso stärker, weil er Ängste berührt, die längst nicht mehr im Bereich der Fiktion liegen. Die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts kennt mehrere Momente, in denen die Menschheit genauso “zwanzig Minuten vom Nichts” entfernt war – und nur durch Zufall, der kühle Kopf einzelner Menschen oder schlichtes Glück überlebt hat.

1983: Die Nacht, in der ein einzelner Mensch die Welt rettete

Der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow saß im Herbst 1983 an den Konsolen des Frühwarnsystems, als die Automatik einen Angriff mit fünf amerikanischen Raketen meldete. Nach Vorschrift hätte er den Angriff melden müssen – und damit vermutlich die Kettenreaktion gegenseitiger Vernichtung ausgelöst. Petrow entschied, dass das System sich irrte. Er lag richtig. Die Welt blieb am Abgrund stehen, weil ein einzelner Mensch den Mut hatte, an der Unfehlbarkeit der Maschinen zu zweifeln.

Im Rahmen der Kuba-Krise 1962 warfen US-Kriegsschiffe Übungstiefenbomben in der Nähe des sowjetischen U-Boots B59 ab. Kommandant und Erster Offizier bestanden darauf, einen nuklearen Torpedo abzufeuern. Nur einer widersprach: Vasili Archipow. Hätte er dem Druck nachgegeben, sähe die Welt heute anders aus – falls es sie überhaupt gäbe.

Diese Episoden sind reale “Gespenster”, die Bigelow förmlich auf die Leinwand ruft. Mit jedem Jahr wächst das Risiko einer “ungeplanten Apokalypse”, denn das nukleare Wettrüsten kennt kein Bremspedal.

Wie sehr der Film reale nervöse Knoten berührt, zeigt die empörte Reaktion des Pentagons, das den Film bereits wegen “falscher Prämissen” kritisiert hat: “Unser Abfangsystem zeigt seit einem Jahrzehnt hundertprozentige Genauigkeit.” Nun, Generäle versprechen seit jeher zu viel – und liegen selten richtig.

Drehbuchautor Noah Oppenheim ist fest in die Debatten der US-Elite eingebunden. Seine realistische Darstellung eines spontan entgleitenden Waffenkonflikts spiegelt die tatsächlichen Ängste des amerikanischen Establishments wider. Die Dezentralisierung des imperialen Systems, die Schwächung des US-Imperialismus und der NATO, das Auftreten neuer aggressiver Konkurrenten und – vor allem – das Aufkommen neuer Waffentechnologien nähren diese Furcht.

Irans Raketenangriffe, die das israelische Raketenabwehrsystem durchschlagen haben; der wechselseitige Raketen- und Drohnenkrieg zwischen Russland und der Ukraine über Reichweiten von mehreren tausend Kilometern; die Weiterverbreitung von Raketen- und insbesondere Nukleartechnologie in Nordkorea, Pakistan, Indien und möglicherweise bald im Iran, Chinas Atomwaffenarsenal wächst schneller als das jedes anderen Landes – all das verschiebt das geopolitische Schachbrett fundamental. Auch wenn der Einsatz großer Atombomben ein Szenario ist, was kapitalistische Staaten im eigenen Überlebensinteresse weiterhin verhindern wollen, nähern wir uns einer Welt, in der es nicht ausgeschlossen ist, dass “zwanzig Minuten bis zum Ende” zur Nachrichten-Meldung werden könnten.

Ein einziger “erfolgreicher” nuklearer Angriff auf eine Großstadt kann Hunderttausende, wenn nicht Millionen Todesopfer fordern. Zwanzig Minuten können Verluste verursachen, die denen der Weltkriege nahekommen. Kein imperialistisches Zentrum, keine Hauptstadt, kein Milliardär ist vor dem infernalischen Feuer eines Nuklearschlags geschützt.

Sind das nur pazifistische Schreckensszenarien? Nein. Die Menschheit hat die sagenhafte Macht antiker Götter erlangt, bleibt aber in den Zwängen eines archaischen, menschenfeindlichen Systems gefangen. Konkurrenz aller gegen alle, Aufspaltung der Welt in imperialistische Blöcke, das jährliche Wachstum der Fähigkeit, Menschen, Städte und ganze Länder zu vernichten – all das macht neue Konflikte unvermeidlich. Der Mangel an internationaler wirtschaftlicher Kooperation, das Fehlen globaler Lösungen ökologischer und politischer Probleme, das Fehlen einer planenden sozialistischen Weltwirtschaft führen zwangsläufig zu wachsenden Widersprüchen – und zu ihrer Entladung in Form von Handelskriegen, kolonialen Interventionen und globalen Konflikten.

We are responsible for having created these weapons and,

in a perfect world, for getting rid of them.”
“Wir haben diese Waffen geschaffen und müssten sie in einer idealen Welt wieder abschaffen”, schreibt Katherine Bigelow.

Die Realität ist anders: Die USA werden in den nächsten zehn Jahren nahezu eine Billion Dollar für die Modernisierung ihres atomaren Arsenals ausgeben; die Führungen der USA und Russlands sprechen über eine mögliche Wiederaufnahme von Tests. Der Planet tritt erneut in eine Ära ein, in der das Schicksal der Welt von Sekunden und von den Entscheidungen jener abhängt, die vor Bildschirmen sitzen.

Die Befreiung von Imperialismus, Kapitalismus und nuklearem Wahnsinn ist kein Traum von Idealist*innen. Sie ist die einzige Voraussetzung dafür, dass die Menschheit überhaupt ein Morgen hat.

Bild: By Bryan Berlin – Own work, CC BY-SA 4.0