Wohin steuert Hongkong?

Demonstration in Hong Kong

Anmerkung: Dieser Artikel ist im Februar-Heft der sozialismus.info erschienen.

Millionenproteste, Besetzungen, Streiks

In China ist Comic-Bär Winnie Pooh verboten, weil er dem Präsidenten Xi Jingping ähnlich sehen soll. Jetzt prangt er in der Sonderverwaltungszone an Häuserwänden, ist auf Demonstrationen als Maske im Einsatz oder als Plüschteddy inszeniert, der sein Augenlicht durch Gummigeschosse verloren hat. Seit Juni 2019 halten die Proteste in Hongkong an.

von Doreen Ullrich, Aachen

Immer noch ist Regierungschefin Carrie Lam im Amt, obwohl bis zu zwei Millionen Menschen auf der Straße waren. Lam wäre wohl längst Geschichte, wenn nicht Xi hinter ihr stünde. Der chinesische Staatspräsident ist unter Druck. Au seiner Sicht darf er vor den Protestierenden nicht einen Millimeter zurückweichen, zu groß ist die Gefahr, dass dies Oppositionelle in der Volksrepublik ermutigen könnte.

Ausgelöst hatte die Proteste vor gut sechs Monaten der Entwurf für ein Auslieferungsgesetz. Dies sollte ermöglichen, einer Straftat verdächtige Personen zukünftig an China zu überführen. Zurecht wird befürchtet, dass das Gesetz genutzt werden wird, um politisch Unliebsame mundtot zu machen.

Millionenproteste und Besetzungen

So sammelten sich seit Juni erst Hunderttausende, am 16. Juni und 18. August bis zu zwei Millionen Menschen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Auch zu Neujahr waren rund eine Million auf der Straße. Im August wurde der Flughafen Hongkongs – der achtgrößte der Welt- von 50.000 Protestierenden besetzt. Etwa 500 Flüge wurden gestrichen, die Besetzung kostete die Industrie 70 Millionen Euro.

Ebenso wurde das Legco – der Parlamentssitz – gestürmt. Unter anderem wurden Banner gehisst mit dem Spruch: „Ihr habt uns gelehrt, dass friedliche Proteste nicht wirken.“ Doch auch die Fahne des britischen Empires wurde gehisst.

Fünf Forderungen – keine weniger!

Inzwischen geht es nicht mehr nur um das Auslieferungsgesetz. Die Bewegung hat fünf zentrale Forderungen formuliert: Neben der Rücknahme des Gesetzes fordern die Aktivist*innen auch, dass die Proteste nicht weiter als „Krawalle“ tituliert und Teilnehmer*innen als „Feinde des Volkes“ beschimpft werden; die Freilassung aller inhaftierten Demonstrant*innen; eine unabhängige Untersuchungskommission, welche die Gewalt der Hongkonger Polizei untersucht, Rücktritt der Regierung Carrie Lam und allgemeine Wahlen für den gesetzgebenden Rat und den Regierungsvorsitz. Immer wieder skandierten die Protestierenden „Fünf Forderungen – keine weniger“.

Polizeigewalt und Triaden

Seit Beginn der Bewegung ging die Polizei brutal vor. Auch Triaden (chinesische Mafia) schlugen auf Demoteilnehmer*innen ein. Im November verlagerten sich die radikalsten Kämpfe an die Universitäten. Viele Studierende besetzten die Unis sowie nahe gelegene Verkehrsknotenpunkte und legten damit Hongkong lahm. Über 1100 Menschen wurden festgenommen, an der polytechnischen Universität verschoss die Polizei an einem Tag mehr als 1000 Tränengasgranaten.

Bezirksratswahlen

Die Regierung hoffte, dass die radikalsten Teile der Bewegungen an Unterstützung verloren hätten. Die Wahlen zu den Bezirksräten zeigten, dass diese Hoffnung vergebens war. In 17 der 18 Räte dominieren nun Peking-kritische, sogenannte „pan-demokratische“ Kräfte. Das war ein Schlag ins Gesicht für Carrie Lam und die chinesische Führung. Die neu gewählten Abgeordneten sind pro-kapitalistisch und von ihnen ist wenig zu erwarten. Viele wählten sie nur, um ihre Unterstützung mit der Bewegung zu signalisieren. In den Protesten wurden sie an den Rand gedrängt. In der sogenannten Regenschirmbewegung 2014 hatten sie die Forderung nach allgemeinen, gleichen und freien Wahlen fallen gelassen, dieser Verrat war noch vielen in Erinnerung.

Streiks notwendig

Eine wichtige Entwicklung ist das Wiederaufleben von Streiks. Zweimal wurde seitens der Protestbewegung zum Generalstreik aufgerufen. Von den Gewerkschaften wurde dies entweder nur verbal unterstützt oder sogar abgelehnt. Die Kolleg*innen fanden ihren eigenen Weg, ihre Arbeitskraft zu verweigern. Viele meldeten sich krank oder reichten kurzfristig Urlaub ein. Ohne eine umfassende Organisierung kann trotz dieser Initiativen von unten nicht die volle Kampfkraft entfaltet werden. Socialist Action – die Schwesterorganisation der SAV – sagt deshalb: Notwendig ist der Aufbau von Gewerkschaftskomitees und Streikkomitees in den Betrieben und der Aufbau neuer, von den Arbeitgebern und den staatlichen Autoritäten unabhängigen Gewerkschaften.

Ausweitung auf das chinesische Festland

Die Bewegung ist gewaltig, der Mut der Jugendlichen beeindruckend. Doch die Bewegung hat einige große Schwächen. Hongkong ist dominiert von zwei großen Lagern: Von denen, die noch zur chinesischen Staatsführung halten und der Mehrheit, die für demokratische Rechte kämpft, aber große Illusionen in den Kapitalismus und die bürgerliche Demokratie hat, zum Teil verbunden mit der irrigen Vorstellung, die USA oder Großbritannien könnten helfen.

Die pro-kapitalistischen Kräfte wollen den Sonderstatus von Hongkong erhalten, ohne die Volksrepublik China zu ändern. Doch der Kampf in Hongkong kann nicht gewonnen werden, wenn er in Hongkong bleibt. Socialist Action argumentiert dafür, dass sich die Bewegung an die Arbeitenden, Bäuer*innen und Unterdrückten in der Volksrepublik wendet und die dortigen Kämpfe unterstützt.

Dafür braucht es eine Analyse der Kräfteverhältnisse und der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, eine internationalistische Perspektive und ein Programm, welches über die Demokratie-Frage hinausgeht. Forderungen wie die freie politische und gewerkschaftliche Organisierung, Kampf für den Acht-Stunden-Tag, Altersvorsorge und massiver Ausbau von Gesundheits- und Schulwesen und öffentlichem Wohnungsbau sind nötig.

Die Orientierung auf die entscheidende Kraft in der Gesellschaft – die Arbeiter*innenklasse – wird für die Bewegung zur Überlebensfrage. Dominieren weiter die bürgerlichen Kräfte, ist eine Niederlage unvermeidbar. Mit ihren Vorstellungen eines unabhängigen aber wirtschaftlichneoliberalen Stadtstaates treiben sie einen Teil der Bevölkerung in die Arme des chinesischen Regimes. Diese Unabhängigkeit wird es nicht geben. Die chinesische Führung kann sich keine Lockerung leisten. Nur wenn es gelingt einen starken sozialistischen Pol aufzubauen, besteht die Möglichkeit, die Bewegung mittelfristig auszuweiten.


Sei Wasser – von Bruce Lee lernen?

„Sei ohne Form, sei ohne Schatten, sei wie Wasser“, dieses Zitat wird dem Kung-Fu-Star Bruce Lee zugeschrieben und wurde in Hongkong zur Protestform. Es beschreibt das schnelle Zusammenkommen an Orten und das ebenso schnelle Auseinandergehen und Wiederfinden am nächsten Ort. Die Akteure fließen wie Wasser durch die Stadt. Jede*r Einzelne ein Tropfen, zusammen überrollen sie wie eine Welle die Stadt.

Organisiert wird der Protest vor allem durch Social Media, durch Telegram-Gruppen oder AirDrop, selbst via Pokémon Go werden Termine verbreitet. Eine Zeichensprache wurde entwickelt, die Aktivist*innen vor Gefahren warnt oder notwendiges Zubehör wie Helme oder Schutz vor Tränengas anfordert. Die Bewegung versucht bewusst, führerlos zu agieren. Das drückt zum einen die Angst vor Vereinnahmung und Misstrauen gegen politische Parteien und Organisationen aus, zum anderen ist es als Schutz gegen Verhaftungen gedacht. Neue Medien und Protestmethoden haben Millionen auf die Straße gebracht. Jedoch zeigt sich: Die bisherige Spontaneität hat ihren Grenzen erreicht. Nur eine demokratisch organisierte Bewegung , die sich vor allem auf die Arbeiter*innenklasse stützt und deren zentrale Kampfkraft erkennt, kann erfolgreich sein. Dafür sind Strukturen in Betrieben, Schulen und Universitäten sowie reale Versammlungen nötig.


US-Regierung an der Seite der Proteste in Hongkong?

Im November unterschrieb Trump die „Hongkonger Menschenrechts- und Demokratieverordnung“. Diese ist, genau wie die Verordnungen zu den muslimischen Uiguren Im Westen Chinas, rein symbolisch. Trump will den Druck auf China erhöhen, um im Handelsstreit voranzukommen und noch im Januar ein Abkommen zu unterzeichnen.

Demokratie und soziale Errungenschaften wurden nie durch die Eliten eines anderen Landes gebracht, sondern immer erkämpft. Setzt die Bewegung auf Trump, gerät sie in die Sackgasse. Sie wäre Spielball der US-Kapitalisten. Forderungen nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen würden keine Rolle mehr spielen. Der Ruf nach Trump spielt auch Peking in die Hände, es gibt dem Märchen von der ausländischen Verschwörung Auftrieb und macht es so noch schwerer, die so wichtige Unterstützung von den Massen in China zu bekommen. Die Bewegung braucht eine internationalistische Perspektive und sollte sich mit den Revolten in vielen Ländern der Welt solidarisieren und mit den sozialen Bewegungen in den USA, die gegen Rassismus, für höhere Löhne und bezahlbare Mieten kämpfen.

Bild: Studio Incendo, CC BY 2.0