Rede von Winfried Wolf bei der Stuttgarter Montagsdemo vom 23. März 2020

Winfried Wolf redet

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

wir befinden uns in einer ernsten Situation. Ja, der italienische Ministerpräsident Guiseppe Conte hat mit seiner gestrigen Ansprache vom Sonntag, dem 22.März recht: Das dürfte die schlimmste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs sein. Es geht nicht allein um die Corona-Epidemie. Es geht um einen Dreiklang, nein: um einen dreifachen MISSKLANG:

Da gibt es – ERSTENS – die Corona-Virus-Epidemie, die Ende 2019 in China ausbrach und die sich seit Ende Januar 2020 durch Europa frisst.

Diese stößt dann – ZWEITENS – auf einen Gesundheitssektor, der seit drei Jahrzehnten in ganz Europa krankgeschrumpft, kaputtgespart und dem Privatprofit geopfert wird.

Wobei sich dies dann – DRITTENS – mit einer Wirtschaftskrise kombiniert, die es seit Ende 2019 gibt, die nun jedoch – zusammen mit den ersten beiden Krisenebenen – viral wird. Das meint: In diesem Dreifach-Mix kann dies zu einem materiellen und gesellschaftlichen Crash führen, dessen Tiefe und Bedeutung heute kaum abschätzbar ist.

Besonders beunruhigend ist dabei: Seit zehn Wochen starren wir auf Wuhan in China. Und viele Wochen lang haben viele – auch manche Linke, auch ich – die tatsächlichen Gefahren nicht ernst genug genommen. Allerdings sind wir keine Fachleute. Die Fachleute – die Virologen und Epidemiologen – wussten Bescheid. Eigentlich seit SARS 2003. Spätestens aber seit dem 7. Januar 2020, als China den Ausbruch der Corona-Virus-Epidemie erstmals eingestand.

Doch es geschah so gut wie nichts. Kein Aufbau von Betten. Keine breit angelegte Aktivierung von Ärztinnen und Ärzten im Ruhestand. Keine ausreichende Beschaffung von Mund-Nase-Masken, von Schutzkleidung, von Beatmungsgeräten. Kein Bau von neuen Notkliniken. Und: So gut wie alle Maßnahmen zur Eindämmung der Virus-Ausbreitung – sie kommen immer um Wochen zu spät.

Es gibt eine Erklärung dafür, warum das so falsch läuft. Sie wird deutlich mit einem Satz der Bundeskanzlerin, geäußert in ihrer Rede an die Bevölkerung am 11. März. Angela Merkel sagte: „Wir werden alles tun, [um] unsere Wirtschaft zu schützen.“ GESCHÜTZT werden sollen Banken und Unternehmen – kaum oder viel zu wenig die Beschäftigten. GESCHÜTZT und mit unbegrenzten Krediten ausgestattet werden die Banken – kaum und viel zu wenig das kleine Gewerbe, gar nicht prekär Beschäftigte, Alleinerziehende Mütter mit Hartz IV, Erwerbslose, Obdachlose, Geflüchtete. Geschützt sind Vermieter – und bislang so gut wie nicht Mieterinnen und Mieter, die nach wenigen Wochen ohne Arbeitseinkommen ein massives Problem haben.

Lasst mich diese fatale Logik am Beispiel von drei Großprojekten erläutern.

Projekt 1. Olympische Spiele Japan. Gestern versammelten sich 50.000 Menschen, um in der japanischen Provinz Miyagi „das olympische Feuer zu begrüßen“. In Japan gibt es zwar Hoffnung, dass die Epidemie eingedämmt wird. Aber eben auch mehr als 1000 Infizierte – und die Gefahr einer neuen Epidemie-Welle als Folge eines internationalen Groß-Events mit Hunderttausenden Gästen aus aller Frauen Länder. Doch der IOC-Präsident Thomas Bach erklärte am 22. März ein weiteres Mal: „Mit einer Absage der Olympischen Spiele würden wir Tausende Athleten enttäuschen.“ Gemeint ist: „Enttäuscht“ würden die Sponsoren, die Baukonzerne, die Banken. Es gilt, die 20 Milliarden Euro, die in dieses Großereignis investiert wurden, im Wortsinne „um-zu-münzen“.

Projekt 2. Berliner Flughafen BER. Dieser soll unbedingt Ende Oktober dieses Jahres seinen Betrieb aufnehmen. Dafür muss unbedingt noch in diesem Sommer ein realitätsnaher Probebetrieb mit Tausenden Komparsen u.a. in der Abfertigungshalle durchgeführt werden. MÜSSTE … EIGENTLICH … Vor dem Hintergrund der Corona-Epidemie sagte jetzt der BER-Chef Engelbert Lütge Daldrup am 20. März: „Wir werden die Anzahl der Personen [für diesen vom TÜV geforderten Probebetrieb] reduzieren. Vieles geht auch am Computer.“ TÜV und Brandschutz hin oder her – man werde am 31. Oktober den Flughafen eröffnen. Auch hier geht es darum, dass die 10 und mehr Milliarden Euro, die hier in Beton und Software investiert wurden, endlich – wenigstens zehn Jahre verspätet – Gewinn abwerfen. Und damit ihren Beitrag auf Aufheizung des Klimas leisten.

Projekt 3 ist – natürlich – Stuttgart 21. Bis zum Tag, an dem diese Rede aufgezeichnet wird, Sonntag der 22. März, wird beim Monsterprojekt Stuttgart21 weiter gearbeitet. In der jüngste Presseerklärung von DB und Projektgesellschaft, datiert auf den 16. März, heißt es: „Das Projekt Stuttgart 21 nimmt immer mehr Gestalt an…“ Kein Wort zu Corona. Und dies, obgleich hier Hunderte Beschäftigte auf engem Raum in Tunnel und Baugruben arbeiten. Obgleich viele von diesen Mineuren und Planern in engen Container-Unterkünften zusammengepfercht wohnen. Obgleich es hunderte osteuropäische Arbeitskräfte gibt, die nach Hause wollen – weil sie dort gebraucht werden, weil sie Angst haben, angesichts der vielen Grenzschließungen und Quarantäne-Maßnahmen nicht mehr zu ihren Liebsten, nicht mehr zu ihren Familien nach Rumänien, Bulgarien, Österreich und anderswo zurückkehren zu können. Dies obgleich Strabag und PORR – die bei S21 maßgeblich aktiven Baufirmen – österreichweit bereits alle Baustellen geschlossen haben und in Wien für drei Monate (!) Kurzarbeit beantragen mussten.

Und warum wird derart unterirdisch weitergebuddelt? Einerseits, weil das freiwerdende Gleisfeld bebaut und damit „verwertet“ – zu Gewinnen für Baufirmen, Banken und Spekulanten um-ge-rubelt – werden soll.

Andererseits und vor allem, weil dies die Staatsräson gebietet: Man will das Gesicht wahren. Auch und gerade jetzt in Corona-Zeiten soll bis zur letzten Sekunde weitergebaut werden.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

ich habe für diese Rede eine aufschlussreiche Tabelle zusammengestellt. Sie umfasst den Zeitraum 1994 bis 2020. Sie stellt die Entwicklung des Großprojekts Stuttgart 21 in einen Zusammenhang mit der Entwicklung im Gesundheitswesen. Das kann man – und sollte man – im Detail im Internet studieren. Hier nur so viel: Seit der ersten Verkündung von Stuttgart 21 im April 1994 wurden Deutschland-weit 399 Krankenhäuser geschlossen. In Baden-Württemberg gab es 82 Krankenhaus-Schließungen. Übrigens wurden allein unter Grün-Rot und Grün-Schwarz – also seit Anfang 2011 – 78 Krankenhäuser dicht gemacht. Damit sank auch die Zahl der Betten um rund ein Sechstel. In Baden-Württemberg wurden in diesem Zeitraum 11.467 Betten abgebaut. Deutschland-weit waren es sage und schreibe 125.000.

Und jetzt zu Stuttgart 21. In diesen gut 25 Jahren wurden bislang vier Milliarden Euro für Stuttgart 21 ausgegeben. Insgesamt sollen mehr als 10 Milliarden Euro – Steuergelder – für S21 „investiert“ werden. Sagte ich „investiert“ – es muss heißen: „de-vestiert“ werden. All dies Steuergeld wird dafür ausgegeben, damit die Kapazität des bestehenden Stuttgarter Hauptbahnhofs um mehr als 30 Prozent abgebaut und zugleich die Gleiszahl halbiert wird.

Da könnte man sagen: Da ist der Kapazitätsabbau bei S21 ja noch größer als im Fall des Abbaus von Krankenhausbetten. Leider gilt: Was nicht ist, SOLL noch kommen. Im Juli 2019 legte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie zum Thema Krankenhäuser vor. Beklagt wird dort, dass „die Mehrzahl der Krankenhäuser rote Zahlen“ schreiben würde. Deshalb müsse „jedes zweite Krankenhaus schließen“. Widersprach dem der deutsche Gesundheitsminister? Etwa mit Verweis auf Notzeiten? Auf die erforderliche Wappnung für mögliche Epidemien? Mitnichten. Der CDU-Mann Jens Spahn, der jetzt den Corona-Krisen-Zampano gibt, erklärte: Erforderlich sei „ein Mix“ aus Abbau von Kliniken und „Konzentration auf das Notwendige“. Da war der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach bereits weiter. Er propagierte bereits 2003 die Notwendigkeit der Halbierung der Zahl der Krankenhäuser.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

die aktuelle Krise ist damit auch ein Lehrstück über das Wüten von Kapital und Profit. Darüber, dass die Entscheider in Konzernen und Banken, aber auch die Regierenden in Berlin, Brüssel oder Wien den Profit vor die Gesundheit stellen.

Wir müssen daraus Lehren ziehen. Die Privatisierungslogik ist unmenschlich. Die Bettenzahl muss massiv aufgestockt werden. Atemgeräte anstelle von Autos sind zu fertigen. Gesundheit und Bahn – und vieles andere – müssen unter öffentlicher Kontrolle stehen. Der Mensch geht vor Profit. Unsere Solidarität gilt in dieser Zeit von Krise und Epidemie denjenigen, die in diesem System schwach sind: den Geflüchteten, den prekär Beschäftigten, den alleierziehenden Frauen, den bedrängten Mieterinnen und Mietern. Und nicht zuletzt unseren Freundinnen und Freunden in Italien – von denen – aus Turin, Florenz und Venedig – so oft welche hier auf unseren Montagsdemonstrationen anwesend waren und als Rednerinnen und Redner das Band der Solidarität zwischen den Monsterprojekten im Val di Susa, beim TAV-Tunnel Firenze und bei dem venezianischen MOSE-Vorhaben gespannt haben.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Bitte immer sauber bleiben!

Unbedingt gesund bleiben!

Und natürlich: OBEN BLEIBEN.

Titelbild: L.Willms (CC BY-SA 3.0)