„Ein richtiges Manifest“

Interview mit Doğan Akhanlı

Der linke Schriftsteller und Aktivist Doğan Akhanlı tritt zurzeit in der Beethoven-Oper„Fidelio“ in der Inszenierung von Volker Lösch in Bonn auf, in der es um Widerstandskampf und Befreiung geht. Die Vorlage „Leonora“ von 1798 inspirierte den Komponisten, selbst Anhänger der bürgerlichen Revolution, zu seiner einzigen Oper. Doğan Akhanlı, der seit 1992 in Deutschland lebt, war selbst mehrfach in der Türkei in politischer Gefangenschaft.

In seinen Inszenierungen will Volker Lösch den Unterdrückten eine Stimme geben, aufklären, mobilisieren. In zahlreichen Städten wie Stuttgart, Dresden oder Berlin erarbeitet er neue Stücke zusammen mit Laien-Darsteller*innen, oder interpretiert klassische Werke. Wie hat er nun die Oper „Fidelio“ auf die Bühne gebracht?

Die Geschichte von „Fidelio“ ist interessant: vor 200 Jahren hat Beethoven eine Frau als Hauptprotagonistin gewählt, die alles versucht, um ihren Mann zu retten. Diese nette Utopiewelt, die Beethoven geschaffen hat, mit der heutigen Realität zusammenzubringen, war die Hauptidee von Volker Lösch. Dazu hätte er auch die Entwicklungen in den USA, Russland oder dem Iran wählen können, hat sich aber für die Türkei entschieden, weil das Thema so relevant ist – wegen der politischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, und besonders der derzeitigen Situation im Kurdenkonflikt.

Volker Lösch bezieht also das Thema der Oper auf die Situation der Türkei unter Erdoğan, politische Gefangenschaft im Rahmen des Kurdenkonfliktes. Auf welche Art und Weise setzt er das um und was ist dein Part im Stück?

Vor sechs Monaten hat Volker verschiedene Leute interviewt, auch mich, und dann Mitte November fünf von uns als sogenannte Zeitzeug*innen ausgewählt. Aus den Interviews mit uns sind die Texte entstanden, die auch viel diskutiert und teils korrigiert wurden. Alle Dialoge im Stück wurden geändert und Verbindungen geknüpft zwischen der Situation in der Türkei und der Kerngeschichte von „Fidelio“. Ich glaube, das ist sehr gut gelungen, Volker hat beide Welten konfrontiert und am Ende verschmolzen, so dass wir als Zeitzeug*innen tatsächlich Teil der Oper geworden sind, musikalisch und dramatisch.

Natürlich war der Prozess der Inszenierung hinter den Kulissen genauso wichtig wie die Opernaufführung für die Zuschauer*innen. Dort gab es eine interessante politische, aber auch ästhetische Auseinandersetzung, die sehr gut gelaufen ist und bei der alle viel gelernt haben. Die Sänger*innen mussten auf einmal mit Menschen zusammen auf die Bühne, denen sie in ihrem Leben vielleicht nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden haben – das war für beide Seiten eine Herausforderung. 

Wir erzählen aus unserem Leben, wodurch aber auch die anderen sozusagen stellvertretend Zeug*innen werden, sie hören ja, was wir erzählen. Die anderen, die ein vermeintlich so sorgloses Leben führen. Aber solch ein Leben gibt es ja nicht in dieser Welt. Fast alle Menschen haben Erfahrung mit Schmerz in irgendeiner Form gemacht. Es ist also nicht nur eine kalte politische Auseinandersetzung, sondern auch andere Form sehr intensiver Kommunikation.

Kannst du kurz etwas zu den anderen Zeitzeugen sagen, die mit dir auftreten?

Einer von ihnen ist Hakan Akay, ein Musiker aus Düsseldorf, der ein ähnliches Schicksal wie ich hatte: als er 18 Jahre alt war, wurde er zusammen mit seinen beiden Brüdern verhaftet. Sein großer Bruder Soydan hat am Ende alle Vorwürfe auf sich genommen, weil er verhindern wollte, dass Hakan gefoltert und eingeknastet wird. Soydan sitzt nun seit 27 Jahren eine lebenslange Strafe ab, und für Hakan ist es natürlich schwierig, gleichzeitig in Freiheit zu leben. Ein anderer Zeitzeuge ist Agit Keser, der über eine private Solidaritätskampagne seine Tante Hozan Canê, die Kölner Sängerin, die in der Türkei inhaftiert ist, und ihre Tochter Gönül Örs frei bekommen möchte. Die einzige Frau unter uns, Dîlan Yazicioğlu, ist eine junge kurdische Menschenrechtskativistin und hat eine wichtige Funktion in diesem Stück, da sie nicht nur Verfolgung thematisiert, sondern auch die Männerdominanz in der türkischen Gesellschaft. Weitere prominente Zeitzeugen sind Selahattin Demirtaş und Ahmed Altan, ein Schriftsteller, der gerade in der Türkei im Knast ist. Demirtaş wird durch seinen Bruder Süleyman Demirtaş vertreten, und anstelle von Ahmed Altans Person ist sein Buch dabei, aus dem ständig zitiert wird.

Was waren die Reaktion des Publikum, soweit du das von der Bühne aus mitbekommen hast?

Bei der Premiere wusste man gar nichts über das Stück, und die Reaktionen aus dem Zuschauerraum waren genau so, wie wir erwartet hatten: der konservative Teil des Publikums war schockiert von dem, was auf der Bühne passierte, manche haben sogar Dinge gerufen wie „Gebt uns unseren Beethoven zurück!“. Manche konnten auch Hakans Bericht von den Folterungen nicht ertragen; „Hör auf, hör auf!“ hat eine Frau geschrien. Der Großteil des Publikums hat jedoch begeistert, richtig euphorisch reagiert. Wegen des großen Presseechos danach wussten die Zuschauer*innen, glaube ich, was sie zu erwarten hatten. Das Stück ist sehr gut angekommen.

Wie beurteilst du selbst die Inszenierung, künstlerisch und politisch?

Dramatisch halte ich die Inszenierung für eine große Leistung, und auch politisch gesehen ist das einmalig. Und zum ersten Mal erlebe ich in Deutschland, dass die Kurdenfrage, die so oft ignoriert wird in der Politik, in einem Kulturraum in den Fokus gerät. Denn meine Erfahrung ist: Man kann hier über über alles reden, die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die Angriffe auf Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, man kann auch über Erdoğan viel schimpfen, alles ist erlaubt – aber von der Kurdenproblematik will man nicht sprechen. Denn darüber zu sprechen heißt auch, über die Gründungsgeschichte der türkischen Republik und auch über den Genozid an den Armenier*innen zu sprechen. Das hat alles direkt miteinander zu tun. Schon damals hat das deutsche Reich die Verbrechen an den Armenier*innen ignoriert, aufgrund seiner damaligen Interessen; teilweise haben sie auch mitgemacht. 100 Jahre hat die deutsche Politik gebraucht, um diesen Genozid Genozid zu nennen – und das in einem Land, was ja bekannt dafür ist, sich seiner eigenen Vergangenheit zu stellen und sie aufzuarbeiten, und das ist ein Widerspruch für mich.

Und nun werden diese Dinge in einem Kulturraum, in der Oper, ohne Wenn und Aber gesagt und manifestiert, und diese deutlich Ignoranz entlarvt, nicht nur die Ignoranz der Politik, sondern auch der Eliten und der Mittelschicht. Denen wird der Spiegel vorgehalten, die Gemütlichkeit der Zuschauer*innen wird angegriffen, die Zufriedenheit mit dem eigenen kleinen privaten Glück, wo man sich nicht mit den realen politischen Themen auseinandersetzen will. Und Volker hatte, glaube ich, eine richtige Auseinandersetzung zum Ziel, ein Manifest. Also, für mich ist das Stück ein richtiges Manifest geworden.

Volker ist so weit gegangen, dass sein Stück eine Aktion geworden ist. Er möchte, dass der Zuschauer nicht Zuschauer bleibt, nicht weiter die Augen verschließt, sondern sich bewegt, und er hat es genauso inszeniert, bis zur letzten Sekunde – als das Stück endete, war das der Höhepunkt. Nur wenige Leute konnten sich dem entziehen, er hat das Publikum sozusagen ein bisschen gezwungen, etwas zu bewegen und sich nicht einfach hinzusetzen und zu klatschen, sondern danach selbst etwas zu tun.

Außer von der von dir angesprochenen Ignoranz wird die kurdische Bewegung und werden kurdische Organisationen hier auch weiterhin kriminalisiert, selbst PKK- oder YPG-Fahnen auf Demos sind verboten. Gleichzeitig werden weiter deutsche Waffen in die Türkei exportiert, zur türkischen Militäroffensive im syrischen Kurdistan wird geschwiegen. Wird die Rolle Deutschlands auch in der Inszenierung thematisiert?

Das ist genau meine Rolle in diesem Stück: meine erste Funktion ist also eine politische, wobei auch die Beziehungen zwischen Türkei und Deutschland im Fokus stehen.

Der türkische Staat verleugnet die kurdische Identität absolut, das bedeutet, ein Drittel der Gesellschaft wird seiner Rechte beraubt, sie dürfen nicht einmal ihre Muttersprache sprechen. Und Deutschland ignoriert das aufgrund seiner heutigen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessen. Auch hier sind Kurd*innen ja gesetzlich keine Kurd*innen, sondern türkische Staatsbürger*innen. Und das Verbot der PKK ist absurd, es behindert sogar den Friedensprozess in der Türkei. Selbst der türkische Staat hat sich mit Abdullah Öcalan an einen Tisch gesetzt, und hier wartet die Polizei darauf, dass PKK-Plakate aufgehangen werden, um sich die Aktivst*innen zu greifen.

Dabei müssen wir eigentlich den Kurd*innen danken, dass sie die ultraterroristische islamische Organisation gestoppt haben. Dass man in Europa etwas aufatmen kann und es weniger Anschläge gibt, verdanken wir im Grunde ihrer Leistung – aber sie sind es, die als Terrorist*innen bezeichnet werden. Sie führen einen bewaffneten Kampf, aber was machen sie denn, was die deutsche Sicherheit gefährdet? Was hätten die PKK oder die anderen kurdischen Organisationen denn hier für Gewalttaten begangen? In Syrien waren sie die einzige Gruppe, die den Völkermord an den Yesiden verhindert, sich mit ihnen solidarisiert hat, das weiß die ganze Welt. Ich finde, diese Tradition des Wegschauens bei der deutschen Politik setzt sich fort und es ist sozusagen meine Funktion im Stück, das zur Sprache zu bringen.

Und deine zweite Funktion?

Meine zweite Funktion liegt begründet in meiner persönliche politische Biografie, wodurch die politische Unterdrückung und Verfolgung näher beleuchtet und etwas konkretisiert wird. Der türkischen Staat verfolgt mich, weil ich zur Zeit der Militärdiktatur in den 1970er Jahren einer marxistischen Gruppe angehörte. Damals wurde ich politisiert, aber vor allem durch die Verfolgung und die willkürliche Gewalt. Im Gefängnis haben mich die anderen politischen Gefangenen politisiert und radikalisiert. Nach dem Militärputsch bin ich nicht ins Exil gegangen, sondern im Land geblieben. Fünf Jahre lang war ich im Untergrund, drei Jahre im Militärgefängnis und vier Jahre später habe ich politisches Asyl in Deutschland bekommen, eine etwas klassische Geschichte. Hier bin ich dann Schriftsteller geworden, ein sehr kritischer Schriftsteller. Ich habe eines der ersten Bücher über den Genozid an den Armenier*innen geschrieben und über politische Verfolgung in der Türkei.

Internationales Aufsehen hat deine letzte Festnahme 2017 in Spanien ausgelöst. Demnächst werden deine Erinnerungen daran in Köln unter dem Titel „Verhaftung in Granada“ auf die Bühne gebracht…

Ja, ich hatte danach in Spanien ein Buch geschrieben, aus dem der Regisseur Nuran David Calis nun ein Theaterstück gemacht hat. Am 28.2. ist die Premiere. Das ist natürlich toll, und ich bin auch neugierig darauf, wie er das umsetzt.

Nachdem es jahrelang schien, die Türkei habe das Interesse an mir verloren, bin ich doch wieder ins Visier geraten und dort überraschend verhaftet worden. Der Versuch, mich wegen komplett erfundener Vorwürfe lebenslänglich ins Gefängnis zu schicken, scheiterte an einer breiten Solidaritätskampagne, die so viel öffentlichen Druck entfaltete. Dieser Freispruch wurde wieder kassiert und der türkische Staat ließ mich mit Interpol weltweit suchen, wovon der deutsche Staat wusste. Am Ende hat er sich in Spanien für mich eingesetzt, alles andere wäre ja auch peinlich gewesen wäre für die deutsche Regierung.

Aber mir ist das egal, diese endlose politische Verfolgung. Die Angst ist ein menschliches Gefühl. Bei meiner ersten Festnahme war ich 18, sie haben mich so schwer gefoltert dort, und ich wusste nicht einmal, warum, so ein ahnungsloser Junge war ich. Diese Verletzungen waren tief, aber durch die Hilfe der etwas erfahrenen politischen Gefangenen habe ich die Angst im Gefängnis überwunden. Sie haben mir sozusagen beigebracht, meine verletzte Ehre durch die Erniedrigungen zu reparieren und wieder ein mutiger Mensch zu werden, der mit der Angst umgehen kann. Sie haben mich dort zu einem Menschen gemacht, so dass ich nicht gebrochen wurde. Mit der Verfolgung heute, mit der Angst und der Bedrohung können sie mich nicht mehr zum Schweigen bringen, das ist zu spät.

Und ich denke, trotz allem, der Alleinherrschaftsversuch von Erdoğan wird enden, er kann dieses System nicht langfristig aufrechterhalten. Entweder bin ich wirklich blöd oder zu optimistisch, aber ich habe die große Hoffnung, dass Erdoğan nun sein Finale spielt. Die Unzufriedenheit insgesamt ist groß, in der ganzen Gesellschaft, die AKP sind sich nicht mehr sicher, und innerhalb der Partei gibt es mittlerweile Konflikte.

Die Frage ist die der Alternative…

… das ist das eigentlich Schwierige – Erdoğan wird sowieso verschwinden, aber was kommt dann? Das ist schwierig zu beantworten.

Dass die HDP bis heute überlebt hat, ist eine große Leistung. Der Druck ist enorm: die Abgeordnete sind allesamt im Knast, die Hauptakteur*innen und alle gewählten Bürgemeister*innen sind aus dem Amt verjagt, und die Unterdrückung in den kurdischen Gebieten ist wie ein Kriegszustand. Doch selbst unter all diesen Umständen lässt sich diese Partei nicht zum Schwiegen bringen. Das zeigt auch, dass die Kurd*innen einfach keine andere Wahl haben, sie müssen weiter kämpfen.

Das Problem sehe ich tatsächlich bei der kemalistischen Opposition, die eigentlich so einfach Veränderungen bewirken könnte, aber eben nicht ohne Zusammenarbeit mit der HDP. Würde die CHP, die immer von sich behauptet, sozialdemokratisch zu sein, dann aber doch den gleichen nationalistische Quatsch erzählt und auf Fahne und Vaterland schwört, ihre Politik ändern, könnte die Erdoğan-Regierung in kürzester Zeit verschwinden. Aber ich befürchte, die CHP ist zu konservativ dazu. Nationalismus und die Leugnung der kurdischen Identität sind so verwurzelt in der türkischen Gesellschaft, bis hinein in linke Kreise mit einem gewissen Chauvinismus. Aber der Kampf gegen Erdoğan muss gemeinsam stattfinden, seine Politik richtete sich sowohl gegen die türkische Bevölkerung als auch die Kurd*innen, er ist ein Problem für alle. Die Gezi-Park-Bewegung vor einigen Jahren zeigt: wenn man richtig reagiert, hat die Regierung auf einmal ganz schnell ein Problem, dann kann schnell alles kippen.

Link zu unserer türkischen Schwesterorganisation:

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http://www.sosyalistalternatif.com/

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