Frankreich: Entscheidende Tage für die Streikbewegung

crédit photo : Paule Bodilis CC SA

Verschärft den Streik und weitet ihn aus!

Nicolas Croes, LSP/PSL, Belgien

Der 9. Januar 2020 markierte den 36. Tag des Renten-Konflikts im Nachbarland Frankreich. Seit dem 5. Dezember ist es dort ununterbrochen zu Aktionen der Beschäftigten gegen die Pläne der Regierung gekommen, welche die Rentenregelungen und -systeme reformieren will. An drei Tagen wurde zu zentralen und landesweit durchgeführten Streiks und Demonstrationen aufgerufen. In den verschiedenen Branchen werden die Streiks und Arbeitsniederlegungen seit Beginn der Bewegung entweder dauerhaft und ohne Unterbrechung oder in Intervallen durchgeführt. Eine derart lang anhaltende Bewegung hat es in Frankreich seit dem Jahr 1968 nicht mehr gegeben.

Nachdem sie den Kampf um die Gunst der Öffentlichkeit verloren haben, warten Präsident Macron und seine Regierung nun ab, wie lange die Streikenden durchhalten können und wann die Mobilisierungsfähigkeit aufgrund von Erschöpfung wieder zurückgeht. Bislang jedoch steht die Mehrheit der Bevölkerung fest hinter den Aktionen und ist auf Seiten der Bewegung und der Gewerkschaften – das gilt auch nach der Weihnachtspause.

In seiner Neujahrsansprache bestätigte Macron erneut die Starrsinnigkeit der Regierung hinsichtlich ihres asozialen Rentenreform-Projekts und ihrer perfiden Strategie. Mit der dreitägigen branchenübergreifenden Mobilisierung vom 9. bis zum 11. Januar, zu denen CGT, FO, Solidares und FSU aufgerufen haben, sollten der Regierung nach der zweiwöchigen Weihnachtspaus einen weiteren schweren Schlag versetzen.

Die Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen, „am Montag [6. Januar] in allen Betrieben, an sämtlichen Arbeitsplätzen und Bildungseinrichtungen, in Vollversammlungen der Beschäftigten, Schüler*innen sowie Studierenden über die nötigen Maßnahmen zu diskutieren, um den 9. Januar und die Tage darauf zum Erfolg zu machen.“

Für den Samstag nach dem 9. und 10. Januar riefen diese Gewerkschaften dazu auf, den 11. Januar zu „einem Tag der Demonstrationen im ganzen Land“ zu machen. Es ist das erste Mal seit vierzig Jahren, dass die einen solchen gemeinsamen Aufruf gemacht haben.

Ganz im Gegensatz zu den Berichten in den Medien und den Behauptungen der Regierung sind die Beschäftigten beim staatlichen Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs im Großraum Paris (RATP) und die Bahnbeschäftigten bei der SNCF nicht alleine im Kampf gegen die Rentenpläne. Im Energiesektor, den Raffinerien und den Hafenanlagen, im Bildungs- und Gesundheitsbereich, bei der Feuerwehr, der Nationalbibliothek von Frankreich (BNF), in der Oper von Paris und vielen weiteren Betrieben der Privatwirtschaft ist eine starke Mobilisierung festzustellen und auch dort wird der Streik aufrechterhalten.

Feiern im Schatten des Kampfes

Während der Weihnachtsferien sind überall im Land hunderte kampfbereite Initiativen ins Leben gerufen worden. In der Metropolregion Paris haben Beschäftigte der Elektrobranche, die bei der Gewerkschaft CGT organisiert sind, am Morgen des 24.12. fast eine halbe Million Haushalte auf Nachtstromtarif umgestellt. „Das war unser Weihnachtsgeschenk“, erklärte Nicolas Noguès von der CGT. „Für die Verbraucher geht es zwar nur um ein paar Cent, für den Konzern bedeutet es aber enorme Einnahmeverluste“. Auch im südfranzösischen Béziers verschafften sich Streikende Zugang zur Stromversorgung und stellten das Abrechnungssystem für alle Kund*innen auf den günstigeren Nachtstromtarif.

Andernorts haben Beschäftigte der Stromversorger den Reichen den Strom abgedreht, um ihn an arme Kund*innen umzuleiten. So geschehen in Bordeaux, wo streikende Kolleg*innen dem Internet-Handelshaus „Cdiscount“ und dem Rathaus den Strom abgedreht und ihn stattdessen an anderen umgeleitet haben. „Wir haben den Reichsten die Kilowattstunden weggenommen und sie den Ärmsten zurück gegeben“, hieß es.

Diese Initiativen haben zweifelsfrei dazu beigetragen, mehr gesellschaftliche Zustimmung zu bekommen. Gleichzeitig haben sie aber auch einen Geschmack davon gegeben, was möglich ist, wenn es die Arbeitnehmer*innen sind, die die Kontrolle übernehmen und nicht länger die Unternehmenschefs und Aktienbesitzer*innen.

Arbeiter*innen wieder motiviert

Seit Beginn dieser neuen Bewegung am 5. Dezember haben sich die Belegschaften mehrerer Raffinerien dem Kampf angeschlossen. Was bisher allerdings unzureichend war, ist die Koordinierung untereinander. Einige Anlagen wurden gar nicht bestreikt, andere wiederum nur zeitweilig. Das hat es der Regierung möglich gemacht, in Absprache mit den Konzernführungen der Ölfirmen die Kraftstoffvorräte aufzufüllen. Seit dem 7. Januar befinden sich nun aber alle Raffinerien des Landes im Ausstand. Die Kolleg*innen sind dem Aufruf der CGT gefolgt – zum ersten Mal seit 2010. Als es 2016 zur Bewegung gegen die Reform des Arbeitsrechts kam, hatte sich eine Raffinerie gar nicht beteiligt. Das ist diesmal anders und zeigt, dass die Bewegung dazu geführt hat, die Arbeiter*innen aufs Neue zu motivieren und sie trotz der Niederlagen der Vergangenheit wieder mobilisierbar zu machen.

Diese Dynamik schlägt sich auch in vielen anderen Branchen nieder wie bei den Jurist*innen. Sie haben eine ganze Woche lang ihre Arbeit niedergelegt, um gegen das Rentenreform-Projekt ihre Stimme zu erheben. Am 8. Januar haben sie kurz nach Arbeitsbeginn ihre Roben wieder ausgezogen und sie dem Justizminister bei seinem Amtsbesuch in Caen vor die Füße geworfen.

Jetzt muss es darum gehen, an diesen drei Tagen der landesweiten Mobilisierung anzuknüpfen, um die Streikbewegung stärker zu machen und sie zu einem echten unbefristeten Generalstreik auszuweiten. Hinzu kommen müssen regelmäßige Vollversammlungen, in deren Rahmen der Streik jeweils verlängert werden kann.

Das ganze System muss weg!

In den letzten Jahrzehnten ist die Arbeitsproduktivität gestiegen. Mit weniger Arbeitskräften wird mehr hergestellt. Es ist nicht wahr, dass die Renten nicht mehr zu bezahlen sind. Niemals zuvor hat es so viel Reichtum gegeben wie heute. Es ist mehr als genug vorhanden, um darüber auch unsere Renten zu finanzieren. Dasselbe gilt mit Blick auf die ganzen anderen Kürzungen, die das gesellschaftliche Leben beeinflussen.

Lokale Versammlungen von Arbeiter*innen und jungen Leuten in den Betrieben, Wohngebieten und an vergleichbaren Orten können nicht nur demokratisch entscheiden, ob ein Streik fortgeführt werden soll und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Arbeitskampf zu forcieren. Im Zuge solcher Zusammenkünfte ist es auch möglich, kollektiv zu debattieren, wie die Forderungen ausgeweitet werden können. Ideen dafür wären die Folgenden:

  • Sofortiges Einfrieren bzw. Absenken der Preise für Kraftstoffe und Strom;
  • Für einen Mindestlohn, von dem man wirklich leben kann, durch Lohnerhöhungen und Anhebung der Sätze bei den Sozialleistungen. Es muss ein Zusammenhang bestehen zwischen Einkommen und Preisen (inkl. der Benzinpreise);
  • Arbeitsplatzsicherheit durch unbefristete Verträge;
  • Die Erwerbslosigkeit muss angegangen werden, nicht die Erwerbslosen! Arbeit muss verteilt werden, die Arbeitsstunden sind auf 32 Stunden die Woche bei vollem Lohnausgleich zu reduzieren. Dazu müssen zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden;
  • Die Bedürfnisse der Menschen müssen in den Mittelpunkt der Politik rücken. Der Personenverkehr muss kostenlos und umweltfreundlich sein. Dasselbe muss gelten für die öffentlichen Bereiche wie Kinderbetreuung, Schulen, Entbindungsstationen, die Post, öffentlicher Wohnungsbau etc.;
  • Für die (Wieder)Einführung einer Reichensteuer und die Aufnahme des Kampfes gegen Steuerflucht der Mega-Reichen und multinationalen Konzerne. Indirekte Steuern (wie bspw. die Mehrwertsteuer) müssen abgeschafft und durch höhere Steuersätze bei den Reichen und den Großkonzernen ersetzt werden;
  • Es braucht einen umfassenden Plan für öffentlich finanzierte Arbeit im Umweltschutz, um hunderttausende Arbeitsplätze zu schaffen, die nötig sind, um die Wirtschaft ökologisch korrekt umgestalten zu können (Stichworte sind: ökologische Landwirtschaft, regionale Lebensmittelproduktion, erneuerbare Energien etc.);

Um solch ein Programm zu erreichen braucht es sozialistische Maßnahmen wie die Verstaatlichung und Vereinheitlichung des gesamten Finanzsektors. Dieser muss auf Investitionen und die Finanzierung von landesweit greifenden Projekten ausgerichtet werden, die unter demokratischer Kontrolle der Gesellschaft stehen. Darüber hinaus müssen die Schlüsselindustrien verstaatlicht werden, damit Großkonzerne nicht weiterhin der ökologischen Wende im Weg stehen. Abgesehen davon wäre es somit möglich, eine demokratische Planung zu gewährleisten, die auf ökologischen und bedürfnisorientierten Gesichtspunkten basiert.

Frankreich ist aktuell nicht das einzige Land, in dem eine Revolte stattfindet. Seit den ersten Erhebungen und Widerstandsaktionen durch die „Gelbwesten“ haben sich weltweit massenhaft soziale Kämpfe entwickelt, und es ist in verschiedenen Ländern zu Generalstreiks mit revolutionären Elementen gekommen. Die Liste der Länder, in denen die Regierungen der Opposition der Massen gegenüber stehen, wird immer länger. Wir sollten selbstbewusst in diese neue Ära der sozialen Konflikte eintreten und dabei das Ziel verfolgen, Arbeitnehmer*innen und die Massen zum Sturz des kapitalistischen Systems zu bringen, das nur Ausbeutung kennt. Denn dann wären alle Menschen in die Lage versetzt, echte Emanzipation und Befreiung zu erleben, indem sie eine demokratische, sozialistische Gesellschaft aufbauen.