Ein Problembär namens EU

Lucy Redler (LINKE) und Silvan Wagenknecht (Pulse of Europe) im Streitgespräch über das progressive Potenzial der Union

Wir dokumentieren hier einen Artikel, erstmals erschienen im Neuen Deutschland am 16.05.2019

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1118810.eu-wahlen-ein-problembaer-namens-eu.html

Kann die EU ein soziales, friedliches Europa schaffen, das Menschen in Not eine Chance gibt, statt sie an den Außengrenzen des Staatenbundes sterben zu lassen?

LINKE-Vorstandsmitglied Lucy Redler (39) glaubt das nicht. Es gelte, eine internationalistische, linke Alternative zur EU von unten aufzubauen, meint die Sprecherin der Parteiströmung »Antikapitalistische Linke«.

Silvan Wagenknecht (21) dagegen ist glühender Europäer. Im Frühjahr 2017 war er maßgeblich am Aufbau der Bürgerbewegung »Pulse of Europe« (PoE) in Berlin beteiligt. Bis heute organisiert er die sonntäglichen PoE-Kundgebungen am Berliner Gendarmenmarkt. Seit Januar 2018 ist er zudem Mitglied bei den Jungsozialisten in der SPD.

Mit Uwe Sattler und Jana Frielinghaus diskutierten beide über die EU und ihre Pläne für mehr Aufrüstung, Deregulierung der Arbeitsmärkte und weiteren Abbau sozialer Infrastruktur in verschuldeten Mitgliedsstaaten einerseits und die Demokratisierungsmöglichkeiten andererseits.

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Das Interesse an den EU-Wahlen hat Umfragen zufolge zugenommen. Ist Europa jetzt wieder sexy?

Lucy Redler: Ein grundlegendes Problem ist ja, dass Europa und EU miteinander verwechselt werden. In Europa leben 740 Millionen Menschen, davon aber nur 510 Millionen in der EU. Die EU ist eine Institution, die durch die führenden kapitalistischen Staaten Europas dominiert wird. Wenn wir als LINKE Infotische machen, habe ich eigentlich nicht den Eindruck, dass die Europawahl die Leute brennend interessiert – im Unterschied etwa zum Berliner Volksbegehren »Deutsche Wohnen und Co. Enteignen« oder zu Initiativen für mehr Personal in der Pflege. Trotzdem gibt es natürlich ein Bedürfnis, sich auszutauschen, weil es die berechtigte Sorge gibt, dass die Rechtspopulisten und Rassisten immer stärker werden. Aber dass die EU darauf die Antwort ist, glaube ich nicht.

Silvan Wagenknecht: Ich beobachte schon, dass Europa, das Thema Europawahl, jetzt mehr zieht, auch, wenn nicht mehr ganz so viele Leute zu Kundgebungen von Pulse of Europe kommen wie zum Beispiel kurz vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich vor zwei Jahren. Ich denke auch, dass das gewachsene Interesse mit dem Erstarken von Rechtsnationalisten zu tun hat. Dagegen wollen die Leute ihre Stimme erheben.

Wie lassen sich denn nationale und europäische Themen im Europa-Wahlkampf praktisch miteinander verbinden?

Redler: Es gibt mittlerweile viele, die sich beispielsweise sowohl gegen steigende Mieten als auch gegen Rassismus und für einen neuen Internationalismus engagieren. Man hat bei der großen »Unteilbar«-Demonstration im Oktober gesehen, dass die Bewegungen nicht mehr so voneinander separiert sind. Ich glaube, das allgemein immer noch geringe Interesse an den Europawahlen hängt damit zusammen, dass viele Leute wissen, dass das Europäische Parlament so gut wie nichts zu entscheiden hat. Es hat zum Beispiel kein Initiativrecht, mit dem es Gesetzesvorschläge einbringen kann. Und Lobbyisten, das merken die Leute, haben größeren Einfluss auf die EU-Politik als sie mit ihrer Stimme.

Viele scheinen auf die EU setzen, um einen weiteren Rechtsruck zu verhindern, obwohl sie die grundsätzlich als unsozial und militaristisch ablehnen. Wie geht das zusammen?

Wagenknecht: Natürlich bringt ein Konstrukt wie die EU Bürokratie und Kompromisse mit sich, die nicht befriedigend sind. Aber zu sagen, die EU wäre militaristisch, das ist doch Unfug. Und natürlich ist sie auch nicht per se unsozial. Sie sollte aber wesentlich mehr im Bereich Soziales tun.

Redler: Ich glaube, dass die EU mit ihrer neoliberalen Politik den Aufstieg rassistischer Parteien gefördert hat. Und sie macht selbst eine Politik der Abschottung: mit dem Aufbau der Grenzagentur Frontex, der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung, mit dem Türkei-EU-Deal. Und nach innen betreibt sie eine verheerende unsoziale Politik beispielsweise gegenüber Griechenland. Dort sind die Löhne auf Druck der EU drastisch gesenkt worden, die Erwerbslosigkeit gerade unter Jugendlichen ist immer noch extrem hoch.

Trotzdem finde ich es wichtig, linke Kräfte im Europaparlament zu stärken. Aber es ist falsch zu glauben, man könne aus dieser EU ein soziales Projekt machen. Sie war nie etwas anderes als ein Vertragswerk von kapitalistischen Staaten, um ihre wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen durchzusetzen. Im Vertrag von Lissabon von 2007 ist die Verpflichtung festgeschrieben, dass es weitere Aufrüstung und eine engere militärische Zusammenarbeit geben soll. Erst im April hat das Europäische Parlament dem 13 Milliarden schweren Europäischen Verteidigungsfonds zugestimmt.

Wagenknecht: Ich störe mich sehr daran, wenn man die EU auf ein Wirtschaftsprojekt reduziert. Natürlich wurde zuerst die Montanunion gegründet, Kohle- und Stahlindustrien wurden koordiniert. Aber das hatte auch den Hintergrund, dass gerade die Schlüsselindustrien des Krieges zusammengelegt werden sollten, damit die Völker dieses Kontinents nie wieder die Waffen gegeneinander erheben. Das hat die EU zu einem Friedensprojekt gemacht.

Redler: Natürlich ging es auch darum, ein Bollwerk gegen die Sowjetunion und den Osten Europas zu schaffen. Sie war vor 1990 quasi ein Projekt der einen Hälfte Europas gegen die andere und als Kind des Kalten Krieges immer eingebunden in die NATO. Und es hat sich irgendwann die Einschätzung durchgesetzt, dass die Interessen des deutschen und des französischen Kapitals besser im Verbund mit weiteren Staaten vertreten werden können. Aber das macht ein imperialistisches Projekt noch nicht zu einem Friedensprojekt.

Wagenknecht: Wie kann man denn von der Europäischen Union, dem größten Geldgeber für humanitäre Hilfe in der Welt, von einem imperialistischen Projekt reden?

Redler: Wie humanistisch ist denn die EU angesichts der Tatsache, dass in Griechenland von 65 allgemeinverbindlichen Tarifverträgen, die es vor der Finanzkrise gab, 14 übriggeblieben sind? Wie humanistisch ist es, dass 2000 Menschen allein letztes Jahr an den EU-Außengrenzen gestorben sind?

Ich habe großes Verständnis für die Hoffnung gerade unter Jugendlichen, dem Rassismus und Rechtspopulismus international etwas entgegensetzen zu können. Aber die Antifaschisten um Altiero Spinelli, auf deren Manifest von Ventotene von 1941 sich viele in der LINKEN berufen, meinten ja, die europäische Revolution müsse eine sozialistische sein. Linke sollten nicht die Illusion schüren, dass man die EU im Interesse von Erwerbslosen und Beschäftigten grundlegend reformieren kann.

Wagenknecht: Was sollten Linke denn stattdessen tun? Können wir uns darauf einigen, dass wir die EU erhalten wollen?

Redler: Ich bin der Meinung, dass die EU Teil des Problems ist. Ich glaube, man muss ein demokratisches, soziales, ökologisches, ein sozialistisches Europa von unten aufbauen. Das kann durch die Stärkung von Gewerkschaften, von internationalen Bewegungen und linken Parteien gelingen, aber nicht durch die EU. Die Verträge der EU tragen den Neoliberalismus als DNA in sich. Mit dem Fiskalpakt können Staaten sanktioniert werden, die die sogenannten Maastricht-Kriterien nicht einhalten. Der liberalisierte Binnenmarkt ist arbeitnehmerfeindlich und hat zu massiven Privatisierungen geführt. Die Europäische Zentralbank kann nicht demokratisch kontrolliert werden. Wenn zum Beispiel in einem Mitgliedsstaat eine linke Regierung gebildet würde und diese an den EU-Verträgen etwas grundlegend verändern wollte, müsste sie wegen des Einstimmigkeitsprinzips auf 27 weitere Staaten warten, die die Verträge gleichzeitig ändern wollen. Das ist doch illusorisch.

Wagenknecht: Angesichts des Sterbens im Mittelmeer oder der Lage in Griechenland fällt es auch mir durchaus schwer, die EU als Wertegemeinschaft vor meinen Freunden oder meiner Familie zu verteidigen. Aber ich halte trotzdem an der Idee der europäischen Einigung fest, weil ich an die Möglichkeit der Verbesserung der EU glaube. Auch ich halte das Einstimmigkeitsprinzip für ein großes Problem. Das müsste man abschaffen. Aber was meinst du, wenn du sagst, die EU sei Teil des Problems? Sollen wir sie etwa auflösen?

Redler: Ich bin für den Aufbau einer internationalistischen, sozialistischen Alternative zu ihr. Das wird nur durch einen Bruch mit der EU möglich sein, ohne dass ich sage, das ist jetzt der Zeitpunkt, den Austritt Deutschlands aus der EU zu propagieren.

Wagenknecht: Das wäre ja auch Irrsinn.

Redler: Politisch ist die grundlegende Kritik an der EU aber richtig. Die EU-Politik läuft doch allen Zielen zuwider, die du, wenn ich dich richtig verstehe, vertrittst. Also Frieden, Leben ohne rassistische Diskriminierung und Gewalt, soziale Gerechtigkeit …

Aber auch in der Linkspartei sagen viele: Wir können die EU ändern, wenn es gelingt, die Mehrheitsverhältnisse zu ändern …

Redler: Das stimmt. Die Position der Antikapitalistischen Linken zur EU ist nicht Mehrheitsmeinung in der Partei. Und ich bin natürlich auch für jede Verbesserung innerhalb der EU, solange es sie gibt. Ich habe auf dem LINKE-Europa-Parteitag im Februar das Bild von einem Haus benutzt, das auf schiefem Fundament steht. Solange man gezwungen ist, darin zu wohnen, ist es richtig, Schönheitsreparaturen vorzunehmen. Ich glaube aber, man sollte nicht die Illusion wecken, dass dieses Haus halten wird.

Wagenknecht: Natürlich wird das Fundament nicht halten, wenn wir die Sache mit so wenig Mut angehen wie du es tust oder wie es die Rechtspopulisten tun, die – und in diesem Punkt seid ihr euch anscheinend einig – die EU nicht haben wollen.

Redler: Das finde ich ein starkes Stück, wenn du mich mit Rechtspopulisten in einen Topf wirfst. Ich habe gesagt, dass meine Alternative ein sozialistisches Europa, ein europaweiter Kampf für Verbesserungen ist.

Wagenknecht: Du bist für ein sozialistisches Europa, aber auch für die Abschaffung der EU. Und in diesem Punkt bist du dir zum Beispiel mit den britischen Nationalisten einig. Ich würde mir Gedanken machen, wenn ich in einer so grundsätzlichen Frage mit denen übereinstimme …

Redler: Aber es gibt keine Übereinstimmung. Die Rechtspopulisten wollen ein sogenanntes Europa der Vaterländer oder zurück zum Nationalstaat, und sie wollen die Grenzen dicht machen. Meine Alternative ist eine internationalistische. Ich bin nur nicht der Meinung, dass man die EU in diesem Sinne reformieren kann. Das wäre ungefähr so, als würde man glauben, in einem Haifischbecken zu einer gerechten Verteilung von Futter kommen zu können. Im Übrigen war es die LINKE, die im April gegen den Ausbau von der Grenzbehörde Frontex zu einer EU-Agentur mit einem Haushalt von 11,3 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027 und 10 000 Beschäftigten ab 2027 gestimmt hat.

Ist es von der EU zu viel verlangt, dass sie mehr stemmen soll als das, was die Mitgliedstaaten machen?

Wagenknecht: Grundsätzlich finde ich schon, dass sie mehr machen sollte. Vor allem das Europäische Parlament ist oft viel progressiver als die Parlamente und Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Aber es stimmt: Wir stellen an die EU oft zu hohe Ansprüche. Sie ist nicht perfekt, aber wie könnte sie das auch sein nach historisch gesehen so wenigen Jahren, die es sie gibt.

Redler: Die EU kann gar nicht besser sein kann als die Politik der Nationalstaaten, weil sie diese Nationalstaaten nicht überwunden hat. Und es wäre ein Trugschluss zu denken, dass sich die EU zu den Vereinigten Staaten von Europa entwickeln wird. Wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut, muss man sehen, dass die EU vor allem eine Geschichte von wirtschaftlicher Kooperation, Aufrüstung und Abschottung nach außen ist. Kurt Schumacher, der Anfang der 1950er Jahre SPD-Vorsitzender war, hat gesagt, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl sei »kapitalistisch, konservativ, klerikal und kartellistisch«. Von »klerikal« abgesehen finde ich, das ist immer noch eine ganz gute Zustandsbeschreibung für die EU heute.

Wagenknecht: Und doch war es richtig, es zu machen. Denn seit der Zusammenlegung von Schlüsselindustrien des Krieges haben wir in der Europäischen Union nie wieder die Waffen gegeneinander erhoben.

Die Rüstungsindustrie kann seitdem aber auch Synergieeffekte der Kooperation viel besser nutzen …

Redler: Das wird ja gerade vertieft: Mit der »Ständigen strukturierten Zusammenarbeit« in der EU, Pesco, wird an der Schaffung einer gemeinsamen Armee und an der Verteidigungsunion gearbeitet. Was ist daran positiv, wenn man gemeinsame Rüstungsforschungsprojekte auf den Weg bringt, wenn man Krieg gegen Dritte führt?

Wagenknecht: Es ist doch grundsätzlich etwas Gutes, wenn die Staaten über die Rüstungspolitik nicht mehr für sich allein und gegeneinander entscheiden.

Redler: Unsere Position als Linke sollte doch sein, Rüstung abzuschaffen. Wir müssen doch dafür eintreten, dass es eine Konversion der Rüstungsindustrie bei Arbeitsplatzgarantie gibt, dass sinnvolle Produkte hergestellt werden.

Wagenknecht: Das wäre natürlich toll, und davon kann man auch träumen. Aber wir leben nun mal in einer Welt, in der wir Rüstung brauchen.

Die EU könnte die Macht von Waffenherstellern begrenzen, ein gestärktes Parlament könnte auf eine Verringerung der Rüstungskooperation dringen und Auslandseinsätze beenden. Wäre das eine Option?

Wagenknecht: Es ist schon friedenssichernd, wenn Rüstungsindustrien zusammenarbeiten. Es ist besser, als wenn sie gegeneinander arbeiten. Und mit kluger Gesetzgebung kann man Auslandseinsätze zurückfahren und Rüstungsexporte besser kontrollieren.

Redler: Aber im Moment sollen die Hürden für Militäreinsätze eher gesenkt werden. Es soll vereinfachte Genehmigungsverfahren geben und man will prüfen, ob der Parlamentsvorbehalt überhaupt noch nötig ist, also das Verfahren, nach dem zum Beispiel in Deutschland der Bundestag Auslandseinsätzen der Bundeswehr zustimmen muss und die Regierung das nicht allein entscheiden kann. Mir wird bange bei der Vorstellung, dass das auf europäischer Ebene vielleicht bald nicht mehr vom Parlament kontrolliert wird.

Wenn die EU-Kommission mal etwas Fortschrittliches anstößt, wird das häufig von den Mitgliedsstaaten ausgebremst. Bräuchte man also noch mehr Europa, mehr Zentralisierung?

Wagenknecht: Ich bin dafür, dass das einzelne Staaten nicht ganze Projekte boykottieren können. Und ja, ich fände es gut, wenn wir den europäischen Institutionen mehr Befugnisse einräumen würden. Besonders das EU-Parlament sollte mehr Rechte bekommen. Weil es, wie gesagt, oft weiter ist als die Nationalstaaten, zum Beispiel beim Umweltschutz oder beim Datenschutz.

Redler: Klingt nach Republik Europa. Aber im Kapitalismus wird das eine Utopie bleiben, weil dieser den Nationalstaat nicht überwinden will, sondern ihn zum Schutz der Eigentumsverhältnisse braucht. Wenn man eine europäische Einigung will, muss man den Kapitalismus, den Privatbesitz an großen Banken und Konzernen überwinden. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen sich für Kollektivierung und andere Formen von Vergesellschaftung aussprechen, könnte man die Debatte über gesellschaftliche Alternativen ja mal wieder offensiv führen.

Wagenknecht: Wenn wir so grundsätzlich werden: Für mich ist der Sozialismus keine Alternative. Er hat noch nie in der Geschichte funktioniert und er wird nicht wiederkommen.

Redler: Es hat aus meiner Sicht noch keine richtige sozialistische Gesellschaft gegeben. Umso wichtiger wäre es zu diskutieren, warum es bisher nicht funktioniert hat. Sozialismus bedeutet nicht nur eine geplante Wirtschaft gemäß den Interessen von Mensch und Natur, sondern auch umfassende Demokratie.

Wagenknecht: Beschäftigen wir uns lieber damit, die soziale Marktwirtschaft grundlegend zu verbessern. Sie gehört zu unseren Grundwerten, hat uns unfassbaren Wohlstand, unfassbare individuelle Freiheit gegeben. Und das gilt es jetzt zu schützen.

Redler: Viele Menschen in Deutschland und anderen Ländern, gerade an der Peripherie, würden wohl nicht unbedingt sagen, dass ihnen die EU Wohlstand gebracht hat.

Wagenknecht: Ja, leider gibt es auch viele Leute, die von ihr nicht so profitieren, wie es einmal verheißen wurde. Aber der Sozialismus würde daran auch nichts ändern. Ich finde, hier in Deutschland sollte jeder zur Wahl gehen, einfach, weil er die Freiheit hat, ein politisches Leben zu führen. Und wenn man nicht hingeht, dann soll man sich auch nicht beschweren, wenn es nicht so läuft, wie man sich das vorstellt.

Redler: Die Idee der deutschen Agenda 2010 wurde ja, unter anderem mit dem Fiskalpakt, auf die EU übertragen. Und bei dem, was an neuen Vorschlägen, etwa für ein »Reformhilfeprogramm« der EU, kursiert, geht es um weiteren Druck auf die Staaten, ihre Arbeitsmärkte zu deregulieren.

Wenn behauptet wird, es gehe allen durch den EU-Binnenmarkt besser, dann geht das an der Lebensrealität von Millionen Menschen vorbei. Da wäre es aus meiner Sicht Aufgabe von Sozialisten, gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. Man müsste doch auch fragen: Funktioniert denn der Kapitalismus überhaupt? Und außerdem: Was versteht man unter Sozialismus?

Wagenknecht: Natürlich ist der Kapitalismus, wie wir ihn im Moment erleben, nicht so das Wahre. Aber der Werkzeugkasten der sozialen Marktwirtschaft bietet uns Möglichkeiten, ihn zu regulieren und am Wohlstand noch mehr Leute teilhaben zu lassen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass wir dafür einen Systemwechsel herbeiführen müssten.

Redler: Also soll es weiter private Großbanken und Konzerne geben?

Wagenknecht: Das Recht auf Eigentum muss gewährleistet bleiben. Aber ich finde auch, dass mit der Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Wohnen, Wasser, Strom keine Profite erzielt werden sollten.

Redler: Also unterschreibst du beim Volksbegehren »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«?

Wagenknecht: Ich bin kein Freund davon, weil ich glaube, dass dadurch noch nichts gewonnen wäre. Würden die Leute danach weniger Miete bezahlen? Das ist nicht gesagt. Und es kostet unfassbar viel Geld, obwohl damit keine einzige neue Wohnung entsteht.

Redler: Würde der Volksentscheid umgesetzt, müsste sich eine halbe Million Menschen keine Sorgen mehr wegen steigender Mieten machen und die Mieten könnten gesenkt werden. Wie hoch die Kosten wären, ist eine politische Frage der Kräfteverhältnisse. Ich zum Beispiel bin nicht der Meinung, dass man Immobilienkonzerne, die Milliarden Gewinne gemacht haben, entschädigen muss.

Wie erfolgversprechend sind eigentlich Initiativen wie die des linken Bündnisses »DiEM 25«, eine Diskussion über eine neue, soziale EU-Verfassung in Gang zu setzen?

Wagenknecht: Ich finde diese Idee total mutig. Und diesen Mut sollten wir fassen und dieses Projekt weiter vorantreiben. In einer europäischen Verfassung könnten wir viele Ideen, die wir gerade besprochen haben, niederschreiben. Andererseits finde ich die Gründung so vieler neuer Parteien und Wahlbündnisse, »DiEM 25« ist ja nur eines davon, auch schwierig. Eine so zerfaserte Parteienlandschaft bringt uns nicht voran.

Redler: Eine europäische Verfassung im Interesse der Mehrheit der Menschen und nicht der Konzerne – das hört sich gut an. Aber es ist im Rahmen der geltenden EU-Regularien nicht möglich. Wenn so was stattfinden würde, dann hätten wir eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation – und auch nicht mehr die EU, wie wir sie kennen.

Wagenknecht: Um in unserem Europa politische Veränderungen hervorzubringen, braucht es keine Revolution, sondern gesetzgeberische Mehrheiten und Kompromisse. Und das ist eine großartige Errungenschaft.

Sind Parteien überholt?

Wagenknecht: Überhaupt nicht. Sie sind wichtige Instrumente der politischen Willensbildung.

Redler: Ich glaube, Parteien sind wichtig, aber mein Parteiverständnis ist keines, das vor allem auf die Parlamente abzielt. Natürlich tritt jede Partei zu Wahlen an, und es ist für mich wichtig, dass die LINKE möglichst stark im Europaparlament, im deutschen Parlament, auf Landesebene vertreten ist. Aber die wesentlichen Veränderungen finden nicht in den Parlamenten statt, sondern wenn dort Reformen beschlossen werden, ist das meistens Folge von gesellschaftlichem Druck und Kämpfen.

Deshalb glaube ich, dass es die Aufgabe von Parteien ist, außerparlamentarische Bewegungen mit aufzubauen, sie zu stärken, ohne sie zu dominieren. Wir hätten, glaube ich, als LINKE mehr Erfolg, wenn es überall gelingen würde, dass wir nicht nur in Wahlkampfzeiten auf der Straße sind.

Wagenknecht: Ich würde unterstreichen, dass es zivilgesellschaftliche Initiativen und Parteien geben muss. Beides ist essenziell für unsere Demokratie.