Tunesien: 6 Jahre nach dem Sturz von Ben Ali drohen neue Revolten

CC BY-SA 3.0, commons.wikimedia.org/wiki/User:TUBS

von Al-Badil al-Ishtiraki vom CWI („Committee for a Workers´ International“ // „Komitee für eine Arbeiterinternationale“) in Tunesien

Im Folgenden veröffentlichen wir eine leicht überarbeitete und längere Version eines Flugblatts, das am 14. Januar 2017, in den Straßen von Tunis verteilt worden ist. Anlass dafür war der 6. Jahrestag des revolutionären Sturzes der Diktator von Ben Ali.

„Wie meint ihr, soll ich überleben?“, so schrie es der damals 27-jährige Mohamed Bouazizi heraus, als er sich am 17. Dezember 2010 mit Benzin übergoss und anzündete. Das war der Auslöser für eine ganze Reihe von Bewegungen, die zum Aufstand der Massen gegen die korrupte Diktatur von Präsident Zine al Abidine Ben Ali wurden. Keinen Monat später, am 14. Januar 2011, war Ben Ali bereits Geschichte.

Sechs Jahre später hat eine große Anzahl junger TunesierInnen immer noch keine angemessene Grundlage, auf der sie ihre Zukunft aufbauen könnte. Eine aktuelle Studie, die vom „Tunesischen Forum für ökonomische und soziale Rechte“ (FTDES) durchgeführt worden ist, belegt, dass 45,2 Prozent der jungen TunesierInnen zwischen 18 und 34 Jahren nach Europa auswandern wollen und dass 1.000 TunesierInnen seit 2011 auf dem Weg nach dort bereits ums Leben gekommen sind.

Diese Zahlen sprechen Bände und sind ein Beweis für das komplette Versagen der regierenden Politiker, die nicht in der Lage sind, für Arbeit und Würde zu sorgen. Das waren übrigens Forderungen, die beim Volksaufstand von 2010/-11 ganz oben auf der Tagesordnung standen. Die viel zitierte, hartnäckig andauernde dschihadistische Gefahr ist zuallererst das Produkt eines Wirtschaftssystems, das große Teile der Jugend hochwürgt und an den Rand der Gesellschaft drängt. Ihre Wut und Frustration wird dann von fundamentalistischen Gruppen ausgenutzt und in eine reaktionäre Richtung gelenkt. Diese Methode wird unter anderem vom „Islamischen Staat“ (arab. kurz: „Daesh“) angewendet.

Wenn man allen jungen TunesierInnen einen Arbeitsplatz anbieten würde, dann wäre das ein wesentlich heftigerer Schlag gegen solche Organisationen als irgendeine gewaltige Operation des Staates „gegen den Terror“. Letztere dienen allzu oft als Vorwand, um ganze Wohnviertel zu stigmatisieren und ein Klima aufrechtzuerhalten, das von Polizei-Terror und Misshandlungen gegen Menschen gekennzeichnet ist, die gar keine Terroristen sind.

Neuer Staatshaushalt

Trotz der Versprechungen über soziale Gleichheit und „gemeinsame Opfer“ bestätigt der Haushalt für das Jahr 2017, der im Dezember vom Parlament verabschiedet worden ist, die generelle Zielrichtung, die von der Regierung unter Premier Chahed seit seinem Amtsantritt verfolgt wird. De facto gilt diese Feststellung für sämtliche Regierungen seit 2011. Permanent wird denen das Geld aus der Tasche gezogen, die am wenigsten davon haben. Dann wird es denen zur Verfügung gestellt, die am meisten besitzen.

Während die „überhöhten“ Forderungen der ArbeiterInnen regelmäßig für die schlechte Finanzlage des Staates verantwortlich gemacht werden, ist es Realität, dass große Unternehmen noch nie so wenig Steuern gezahlt haben wie heute. Und sie werden belohnt mit einem neuen Aufgebot an zusätzlichen Steuergeschenken für das Neue Jahr. Begründet wird dies damit, „Investitionen fördern“ zu wollen. Dabei ist es eine Tatsache, dass diese finanziellen Vorteile nur sehr wenig bis gar nichts dazu beigetragen haben, die Investitionstätigkeit zu erhöhen. Die Investitionen befinden sich auf einem historischen Tiefpunkt. Demgegenüber haben die Steuervergünstigungen dramatische Folgen für die Vermögensstöcke der Super-Reichen, die voller und voller werden. Auf der anderen Seite der Gesellschaft sorgen sie dafür, dass die Verarmung beim Rest der Gesellschaft immer stärker um sich greift.

Unterdessen bleiben die Forderungen der Erwerbslosen, der verarmten Schichten und der abhängig Beschäftigten wie auch der Aufschrei der Verzweiflung, der immer wieder aus den zentralen Landesteilen erklingt, weitgehend ungehört.

Kein Wunder, dass die Beliebtheitswerte der derzeitigen Regierung und des Präsidenten unter diesen Umständen eingebrochen sind. Allein im Jahr 2016 sind die Zustimmungswerte von Präsident Essebsi deutlich und zwar von 51,3 Prozent im April auf dann 41,9 Prozent im Oktober und schließlich nur noch 32,7 Prozent im Dezember zurückgegangen. Die politische Autorität des Premierministers verzeichnet übrigens eine ganz ähnliche Entwicklung.

Parallel dazu ist die Zahl der Streiks und sozialen Bewegungen geradezu explodiert. Im vergangenen Jahr war es mit beinahe 1.000 die höchste Anzahl seit 2011. In den letzten Wochen sind tausende Bauarbeiter, Hebammen, Kita-Beschäftigte, OberstufenlehrerInnen und viele weitere in den Ausstand getreten. Ein Bericht des Sozialministeriums zeigt übrigens, dass auch die Anzahl der Teilnehmer*innen an diesen Arbeitskämpfen zugenommen hat. Eine größer werdende Schicht an ArbeiterInnen begreift, dass dies die einzige Möglichkeit ist, wenn man sich und der Familie ein Zukunft ermöglichen will.

Konterrevolutionäre Regierung

Trotz anders lautender eigener Behauptungen hat diese Regierung vollkommen darin versagt, den Menschen gerecht zu werden. Überraschen kann dies nicht, da sie nie im Sinn gehabt hat, auf die Forderungen der Revolution einzugehen. Die Regierung ist mit Unterstützung der westlichen Mächte an die Schaltstellen der Macht gelangt und im Endeffekt zusammengesetzt, um genau diese Forderungen zu blockieren. Schließlich haben die Menschen in den letzten sechs Jahren nie aufgehört, sie landauf, landab zu artikulieren. wie die starke Zunahme an politischen Prozessen gegen Menschen, die sich an Sitzblockaden, Streiks und Demonstrationen beteiligt haben, zeigen, hängt die Repression des Staates gegen politische und soziale AktivistInnen wie auch die Kriminalisierung von Klassen-Konflikten direkt mit dieser Situation zusammen.

Die sozialen Kämpfe sind umso leichter abzuwürgen, je vereinzelter jede Branche, jede Gemeinde, jede Belegschaft, jede Ortschaft bleibt und für sich alleine kämpft. Unser Gegner macht sich mit großer Energie für noch umfassendere Konfrontationen bereit. Deshalb müssen auch wir uns darauf vorbereiten. Nötig ist ein verallgemeinerter und landesweit koordinierter Kampf gegen diese Regierung.

Der entschlossene Generalstreik, der am Donnerstag in Meknassi im Gouvernement Sidi Bouzid stattgefunden hat, zeigt uns, wie es geht. Es sind exakt diese Aktionsformen, mit denen Ben Ali aus dem Amt gejagt worden ist. Dabei wäre die herrschende Elite heute froh, wenn wir das ganz schnell wieder vergessen würden. Die Rolle, die die Arbeiterklasse in unserer Revolution gespielt hat, wird von den Sprachrohren und KommentatorInnen der herrschenden Klasse systematisch und beständig heruntergespielt. Schließlich fürchtet diese herrschende Klasse eine Wiederholung der massenhaften Aufstände durch die Arbeiterklasse in naher Zukunft.

Dasselbe gilt auch für Ägypten. Der freie Journalist Peter Speetjens liegt ganz richtig, wenn er darauf hinweist, dass „wir heute alle die Bilder der heldenhaften Ägypter kennen, wie sie – ob alt, ob jung – den Tahrir Square besetzt, sich der Polizei widersetzt und sogar der berittenen Polizei widerstanden haben. Sie forderten den Rücktritt von Präsident Hosni Mubarak und das Ende des 30 Jahre ununterbrochen anhaltenden Ausnahmezustands. Viel weniger bekannt sind die Aktionen der Ärzte, Busfahrer, der Beschäftigten in der Textilindustrie und der abertausenden anderen Arbeiter, die in den Ausstand getreten sind und damit das ganze Land zum Erliegen gebracht haben“.

Das gilt auch für heute: Die Mobilisierung der tunesischen Arbeiterklasse durch massenhafte Streikmaßnahmen ist die einzige Waffe, mit der wir die Konterrevolution zurückschlagen können, die zur Zeit in Gestalt der Regierung Chahed und in Form der Koalition der sogenannten „nationalen Einheit“ daherkommt. Bezeichnender Weise hat es am 8. Dezember 2016 schon gereicht, dass die Gewerkschaftsvorstände nur mit einem Generalstreik gedroht haben, um die Regierung dazu zu zwingen, ihre Pläne wieder zurückzunehmen. Ursprünglich wollte diese die Löhne im öffentlichen Dienst einfrieren.

Will man eine ernstzunehmende Verbindung zwischen den einzelnen Kräften herstellen, um unsere gesamte Bewegung voranzubringen, ist es aber auch notwendig, die Worte in die Tat umzusetzen. Der Inhalt des neuen Haushaltsgesetzes und die neuen Attacken im Zuge der Austerität, zu denen es im bevorstehenden Jahre ganz zweifelsfrei kommen wird, sollten mehr als nur Drohgebärden hervorrufen. Was wir jetzt brauchen, sind zehn, 20, 30 Meknassis im ganzen Land! Die Zutaten dafür sind längst vorhanden, da der Wind des Widerstands überall zu spüren ist.

Die Linke, der Gewerkschaftsbund UGTT und verschiedene soziale Bewegungen sollten zusammenarbeiten, um einen gemeinsamen Aktionsplan zu entwickeln, der wiederum in einen landesweiten Generalstreik für Arbeitsplätze, höhere Löhne und regionale Entwicklung münden muss. Im ganzen Land müssen lokale Aktionskomitees – wie sie vielerorts ja schon bestehen – ins Leben gerufen werden, mit denen die nächsten Schritte auf örtlicher, regionaler und landesweiter Ebene koordiniert werden können.

Darüber hinaus, dass eine offensive und gemeinsam koordinierte Strategie nötig ist, um den Kampf von der Basis aus zu beginnen, braucht es eine ausführliche Debatte, welche politische Alternative wir anstreben. Tatsache ist, dass die „Volksfront“ es trotz aller Grenzen, Zweifel und Fehler, die ihre Führung hat bzw. gemacht hat, doch hinbekommt, sich eine Zustimmungsrate von rund zehn Prozent zu bewahren. Das ist ein Indiz für das Potential, das im Sinne des Wiederaufbaus einer revolutionären politischen Kraft der Massen in der Gesellschaft existiert. Die Mitglieder der „Volksfront“, die Basis der UGTT und AktivistInnen der sozialen Bewegungen können eine entscheidende Rolle dabei spielen, eine solche Massenpartei zu formen.

Die Unfähigkeit sämtlicher, nach Ben Ali ins Amt gekommener Regierungen, die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen, ist nicht einfach nur mit den Umständen zu erklären. Es geht vielmehr um bewusste politische Entscheidungen. Die Entscheidung bestand darin, den Interessen der kapitalistischen Klasse zu dienen, der handvoll multinationaler Konzerne und den reichen tunesischen Familien, die die Schlüsselsektoren der tunesischen Wirtschaft kontrollieren und die immensen Einfluss auf die herrschenden Parteien und die Abgeordneten ausüben. Diese Elite will, dass die Wirtschaft ausschließlich zu ihren eigenen Gunsten funktioniert. Aus diesem Grund blockiert sie jede Bewegung, die darauf hinauslaufen könnte, das Leid, die Armut, Arbeitslosigkeit und die sozialen Probleme abzumildern. Denn all dies existiert und ist auf ihr kaputtes System zurückzuführen.

Wenn wir mit dieser Logik brechen wollen, dann werden wir für eine Regierung kämpfen müssen, die – im Gegensatz zu allen bisherigen Regierungen – bereit ist, es mit den Vermögenden aufzunehmen, die heute das Sagen haben. Eine solche Regierung muss es ablehnen, die unrechtmäßigen Schulden zu bezahlen, durch die den internationalen Kreditgebern nur noch mehr Milliarden Dinar übergeben werden. Eine solche Regierung muss bereit sein, die großen Unternehmen und Banken im Land zu verstaatlichen und sie unter die demokratische Kontrolle der Bevölkerung zu stellen. Dadurch wäre die Basis für eine Planwirtschaft geschaffen, die den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit entspricht und mit der massive öffentliche Investitionen eingeleitet werden könnten, um die Infrastruktur und den öffentlichen Dienst voranzubringen, Arbeitsplätze für all die Erwerbslosen zu schaffen und die Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung des Landes zu beenden.

Lasst uns ohne weiteres Zögern zum Kampf für solch eine Regierung übergehen. Sie muss demokratisch und sozialistisch sein.