„Stuttgart 21“ vor dem Aus?

Foto: http://www.flickr.com/photos/dielinkebw/ CC BY-ND 2.0
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Kluges Volk

Dieser Kommentar erschien zu erst am 6. Februar in der Tageszeitung jungewelt.

von Herbert Wulff

Was sagen Politiker, wenn sie mit ihren Ideen keinen Anklang finden? Es gebe ein „Vermittlungsproblem“. Soll heißen: Die Leute sind zu doof, es zu kapieren. Bei „Stuttgart 21“ (S21) hatten unsere weisen Führer in Politik und Bahn-Konzern ein solches Problem von Beginn an. Zu Tausenden gingen die Stuttgarter gegen die Tieferlegung ihres Hauptbahnhofs auf die Straße – nicht ein Mal, sondern jahrelang. Mit großer Sachkenntnis zerpflückten sie die über sämtliche Massenmedien und von fast allen Parteien verbreitete Propaganda für S21. Sie wiesen nach, daß es bei dem Projekt nicht um eine Verbesserung der Schieneninfrastruktur, sondern um die Maximierung der Profite von Baukonzernen, Immobilienspekulanten und Banken geht. Und sie sagten frühzeitig voraus, das Bauvorhaben werde um ein Vielfaches teurer als veranschlagt. All das hat sich bestätigt. Deshalb würde selbst die Bahn-Spitze das Projekt heute nicht mehr beginnen. Und das Bundesverkehrsministerium möchte am liebsten aussteigen, wie aus einem am Dienstag bekannt gewordenen Dossier hervorgeht. Dennoch ist ein schnelles Ende unwahrscheinlich. Warum? Paradoxerweise wegen eben dieser Proteste, die „Stuttgart 21“ überhaupt erst in die Schlagzeilen gebracht haben.

Die Order kommt von ganz oben: Bundeskanzlerin Angela Merkel macht laut Stuttgarter Zeitung gemeinsam mit ihrem sonst so knausrigen Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) Druck für eine Fortsetzung des Projekts – koste es, was es wolle. Daß dabei am Ende höchstwahrscheinlich eine riesige Bauruine das Zentrum der Schwabenmetropole verschandeln wird, nehmen sie in Kauf. Denn eins darf aus ihrer Sicht keinesfalls hängenbleiben: daß Massenproteste etwas bewegen. Genau das wäre bei einer zügigen Beerdigung des Tiefbahnhofs der Fall. Sie wäre eine Ermutigung für die Menschen überall im Land, sich gegen undemokratische und verschwenderische Prestigeprojekte zu wehren – und womöglich auch gegen Niedriglöhne, Sozialabbau, Privatisierung. Das wollen Merkel und Co. unter allen Umständen verhindern. Deshalb reichen auch Appelle an ihre Vernunft nicht. Entscheidend ist die Aufrechterhaltung des massenhaften Widerstands auf der Straße.

Dessen Ausdauer ist beeindruckend. Bedrückend ist hingegen wieder einmal die Rolle der Grünen, die dem Protest ihren ersten Ministerpräsidentenposten zu verdanken haben. Selbst jetzt noch betont Banden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann: „Wir eröffnen keine Ausstiegsdebatte.“ Weiterhin beruft er sich auf die Volksabstimmung vom 27. November 2011, obwohl deren Ergebnis pro S21 so offensichtlich durch Lug und Betrug zustande kam. Doch weder die geballte Medienmacht noch die ganz große Parteienkoalition – in die sich nun auch die Grünen eingereiht haben – waren in der Lage, den Widerstand gegen „Stuttgart 21“ zu brechen. Offenbar ist das Volk doch nicht so dumm, wie es die Politiker gerne hätten.