Aufstand in Bolivien

Massenbewegung und Generalstreik st?rzen Pr?sident Sanchez de Lozada

von Marlene Hentschel, Berlin
 
Innerhalb weniger Wochen zwang die bolivianische Bev?lkerung trotz massiver Repressionen den erst 2002 ins Amt gew?hlten Pr?sidenten Gonzalo Sanchez de Lozada, per Hubschrauber panikartig das Land zu verlassen und nach Miami zu fliehen. Nahezu alle benachteiligten Bev?lkerungsschichten beteiligten sich am landesweiten Generalstreik, blockierten Stra?en, reihten sich in Massendemonstrationen und Hungerstreiks ein und wehrten sich mit St?cken und Steinen gegen die mit Tr?nengas und schwerer Munition bewaffneten Milit?reinheiten.
Ausgel?st wurden die Proteste von Regierungspl?nen, das bolivianische Erdgas billig ?ber Chile an Mexiko und die USA zu verh?kern ? und damit multinationalen Konzernen wie British Gas, Total oder Amoco in die Tasche zu wirtschaften. Unter dem Druck des Internationalen W?hrungsfonds (IWF) war seit 1985 ein Gro?teil der Staatsbetriebe privatisiert worden.
Bis Mitte Oktober hat dieser Kampf bereits 86 Todesopfer und hunderte Verletzte gekostet auf Grund von Massakern, die das Milit?r in El Alto, Armenviertel und Nachbargemeinde der Hauptstadt La Paz, und in vielen anderen Gebieten Boliviens verursachte.

Jahrelanger Widerstand

Bolivien z?hlt zu den ?rmsten L?ndern Lateinamerikas. Seit mehreren Jahren protestierten soziale Bewegungen, allen voran die indigene Bev?lkerung, die etwa 70 Prozent der BolivianerInnen ausmacht, gegen die vom IWF und der Weltbank diktierte neoliberale Politik.
Seit dem Jahr 2000 ist hier vor allem der Krieg um Wasser in der Stadt Cochabamba zu nennen, wo es um die Privatisierung der Wasserwerke ging. Zuvor zahlten hier die Menschen monatlich pauschal 20 Bolivianos (etwa 3,50 Euro) f?r Wasser, was nach der Privatisierung auf 180 Bolivianos (ungef?hr 32 Euro) angehoben werden sollte.
Zeitgleich kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Koka-Bauern und bolivianischen wie auch US-amerikanischen Milit?reinheiten in der Region Chapare, wo unter Regie des ?Plan Dignidad? alle Kokapflanzen vernichtet und die Bauern von ihrem Land vertrieben wurden.
Im Februar diesen Jahres kam es im ganzen Land zu Aufst?nden ? an denen sich sogar Polizisten beteiligten ? auf Grund von neuen Steuerpl?nen der Regierung, um das Haushaltsdefizit von 8,5 Prozent um drei Punkte auf 5,5 Prozent reduzieren zu k?nnen ? eine Bedingung des IWF?s, um neue Kredite in H?he von vier Milliarden Dollar freizugeben.
Die neue Massenrevolte im Herbst diesen Jahres konnte den Pr?sidenten schlie?lich in die Flucht schlagen. Der US-Imperialismus hielt bis zum Schluss an Lozada fest. Die USA und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) teilten bereits mit, dass sie kein verfassungswidriges Regime dulden w?rden. In den letzten Stunden S?nchez de Lozadas hatten sie noch alles Erdenkliche versucht, wie die Entsendung von in Peru stationierten Truppen ?ber die bolivianische Grenze, um dem ?Gringo? zu Hilfe zu kommen. Der Nachfolger Carlos Mesa ist zwar parteilos und hatte sich bereits nach den ersten Unruhen und milit?rischen ?bergriffen von Sanchez distanziert, ist jedoch der Vizepr?sident gewesen und geh?rt zum Establishment.

COB und die MAS

Hauptforderungen der Bewegung waren abgesehen vom R?cktritt des Pr?sidenten die Verstaatlichung der Gasindustrie, eine Landreform und der Erhalt der erreichten Renten- und Arbeitsrechtregelungen.
Die COB, der Gewerkschaftsverband, rief am 29. September zu einem unbefristeten Generalstreik auf. Allerdings beschr?nkte sich die COB auf den Sturz des verhassten Pr?sidenten und wusste keine Alternative aufzuzeigen.
Als neben der COB wichtigster Kraft gewinnt die MAS (Movimiento al Socialismo ? Bewegung zum Sozialismus) mit ihrem f?hrenden Vertreter der Koka-Bauern, Evo Morales, an Einfluss. Morales will die ethnische Spaltung in der Gesellschaft ?berwinden und ist der f?hrende Oppositionspolitiker, der bei den letzten Wahlen immerhin 6,1 Prozent der W?hlerstimmen erreichen konnte und als einziger S?nchez de Lozada die Stirn bieten konnte.
Obwohl die MAS sich sozialistisch nennt, lehnt sie das herrschende System nicht grundlegend ab, verteidigt sogar die Verfassung und sch?rt Illusionen in die Vereinten Nationen. Lange hielt sie sich w?hrend der Massenbewegung zur?ck. ?Die MAS hat sehr lange auf den Dialog gesetzt. Erst am Sonntag (12. Oktober) haben wir uns der R?cktrittsforderung angeschlossen? (Evo Morales im junge-Welt-Interview vom 16. Oktober).
N?tig w?re der Aufbau von Streikkomitees auf dem Land und in den Betrieben, in den Stadtteilen, St?dten sowie auf regionaler und nationaler Ebene, um die Frage der Grundversorgung zu l?sen und demokratische Diskussionen und Entscheidungen der Bewegung sicherzustellen. Auf diesem Weg k?nnten alternative Organe geschaffen werden.
Ein Schl?ssel f?r den Machtkampf besteht darin, die einfachen Soldaten, die sich schon zahlreich gegen ihre Ausbeutung (wie zum Beispiel den Einsatz beim Stra?enbau f?r einen Dumpinglohn) aufgelehnt haben, zu gewinnen.
Der Kampf f?r die R?ckverstaatlichung der Gasindustrie sollte ausgedehnt werden auf den Kampf f?r die Verstaatlichung aller Schl?sselindustrien (einschlie?lich der Betriebsst?tten multinationaler Konzerne in Bolivien) ? unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bev?lkerung. Diese Schritte m?ssten Hand in Hand gehen mit der Enteignung des Gro?grundbesitzes. Auf Grundlage eines demokratischen sozialistischen Plans w?re die Voraussetzung geschaffen, den Reichtum des Landes den verarmten Massen zu Gute kommen zu lassen.
Damit der US-Imperialismus solch eine Entwicklung nicht im Keim erstickt, muss eine Massenbewegung in Bolivien an die lohnabh?ngige Bev?lkerung und die veramte Bauernschaft in ganz Lateinamerika appellieren, sich dem Kampf f?r eine grundlegende sozialistische Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft anzuschlie?en.