NRW: 44% wählen nicht

Die NRW-Wahl führt zur Regierungsbeteiligung der Grünen und verschärft die Krise der LINKEN. Mit 44% sind die Nichtwähler*innen die stärkste Kraft. Wahl oder Nichtwahl ist eine Klassenfrage: Je ärmer die Viertel, desto geringer die Wahlbeteiligung. Teile der Jugend und der Arbeiter*innenklasse, darunter viele Migrant*innen, sind skeptisch gegenüber den Etablierten, wollen nicht rechts wählen, aber sehen auch nicht, wie die LINKE ihnen weiterhelfen kann.

Von Claus Ludwig, Köln

Der Erfolg der Grünen mit 18,2% landesweit kam nicht überraschend. Bei den Bundestagswahlen blieben sie durch das medial gepushte Duell Scholz vs. Laschet unter ihren Möglichkeiten. Langfristig sind sie stärker, da viele Menschen immer noch die Illusion haben, sie würden etwas bewirken. Das Thema Klima wurde durch akute Krisen – Pandemie, Krieg – aus den Schlagzeilen verdrängt, aber es wirkt unter der Oberfläche. Dazu kam der kurzfristige Effekt des Ukraine-Krieges. Habeck und Baerbock erschienen als die konsequentesten Vertreter*innen der Idee, man müsse jetzt aufrüsten, Waffen liefern und die NATO stärken, um die russische Aggression zu stoppen. Diese Idee wird vor allem von Menschen aus sozial abgesicherten, urbanen Schichten mit höherem Bildungsgrad geteilt. Die SPD erscheint ihnen als schwankend, FDP und CDU als gesellschaftspolitisch zu reaktionär.

Austauschbare Parteien

Der Jubel der SPD nach der Bundestagswahl war – absehbar – verfrüht. Die inhaltlichen Unterschiede zwischen SPD, CDU, Grünen und FDP sind gering, in unterschiedlichen Konstellationen in den Ländern machen sie die gleiche Politik. Für viele Wähler*innen sind sie austauschbar, es geht bei den Wahlen hin und her. Die SPD saß in der Ukraine-Frage zwischen allen Stühlen, zögerte und machte dann doch, was CDU und Grüne forderten. Sie konnte ihre potenziellen Unterstützer*innen in NRW so nicht mobilisieren.

Die CDU hingegen brachte ihre Wähler*innen zur Stimmabgabe, darunter viele alte Menschen. Zudem profitierte sie als Opposition von den Schwächen und Schwankungen der Ampel-Koalition. Ministerpräsident Wüst konnte sich als derjenige darstellen, der Laschets Pandemie-Chaos zumindest etwas aufräumte. Trotzdem hat die CDU an absoluten Stimmen verloren, ihr höherer Stimmenanteil resultierte aus der gesunkenen Wahlbeteiligung.

Die FDP läuft Gefahr, als drittes Rad am Ampel-Wagen zwischen den Grünen und der CDU-Opposition zerdrückt zu werden. Zudem bekam sie die Quittung dafür, dass in all dem Corona-Chaos die Bildungsministerin Gebauer durch besondere Inkompetenz herausragte. Was sie Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zugemutet hat, wird nicht so schnell in Vergessenheit geraten.

Die AfD verlor in der Fläche und ihren Hochburgen, konnte keine Akzente setzen und schaffte es mit 5,4% knapp in den Landtag. Mit ihrem Versuch, am Unmut über Preissteigerungen und soziale Ungerechtigkeit anzuknüpfen, war sie nur punktuell erfolgreich.

Die Tendenz zur Festigung einiger Kleinparteien mit substanziellen Ergebnissen setzte sich fort. Einige Wähler*innen wollten gegen die etablierten Parteien stimmen, waren aber nicht bereit, die LINKE zu unterstützen, teils aus Enttäuschung, teils, weil sie linke Ideen ablehnen. Die satirische „Partei“ und die Tierschutzpartei erzielten über 1%, „Die Basis“, die aus der Querdenker*innen-Szene hervorgegangen ist, 0,8%, die ganz besonders “europäischen” Liberalen von Volt 0,6%.

Klassenfrage Wahlenthaltung

44% der Wahlberechtigten haben sich nicht an der Wahl beteiligt. Zudem sind über 8% der Stimmen an Parteien gegangen, die es nicht ins Parlament geschafft haben. Dieses Ergebnis repräsentiert lediglich rund die Hälfte der Wahlberechtigten, eine Regierung aus CDU und Grünen hätte knapp 30% der Wahlberechtigten hinter sich.

Während die CDU ältere Wähler*innen vor allem in ländlichen und kleinstädtischen Regionen mobilisieren konnte, blieben jüngere Menschen in den ärmeren Stadtteilen der Großstädte, darunter viele Menschen mit prekären Jobs oder niedrigen Einkommen, der Wahl fern.

Die Befragungen an den Wahllokalen ergaben, dass für nur 6% der Grünen-Wähler*innen die Preissteigerung eine Rolle bei der Wahlentscheidung spielte. Bei den Nichtwähler*innen dürfte das anders aussehen. Natürlich gibt es auch Nichtwähler*innen, die aus purem Desinteresse zuhause bleiben. Aber größere Teile dürften auf das Wählen verzichtet haben, weil sie den etablierten Parteien nicht vertrauen. Viele wissen, dass diese keine bezahlbaren Wohnungen bauen werden. Andere ahnen, dass auch die Grünen keinen wirksamen Klimaschutz gegen die Konzerne durchsetzen. Wieder andere sind nicht überzeugt, dass Aufrüstung und Waffenexporte zu einer friedlicheren Welt beitragen. Relativ wenige wählen als Protest gegen den neoliberalen Einheitsbrei rechts, für die meisten kommt das nicht in Frage.

LINKE am Ende?

Auch die LINKE hat den Großteil dieser Menschen nicht erreicht. Bei der Landtagswahl 2005 waren 2,1% für die frisch gegründete linke Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) und 0,9% für die PDS das Signal, dass eine linke Kraft im Entstehen ist, als Antwort auf die Hartz-Gesetze. 2022 hat die LINKE, die aus WASG und PDS hervorgegangen ist, auch nur 2,1% erreicht, dieses Mal auf dem absteigenden Ast. Auch die Hochburgen wurden geschleift, nur in einem Wahlkreis in Bielefeld und zwei Wahlkreisen in Köln wurden 5% überschritten. Die Partei verlor 65% aller Stimmen von 2017 und sank von 416.000 auf 146.000. Mit den Stimmen von  2017 hätte sie 5,6% erzielt (2017 war die LINKE mit 4,9% knapp gescheitert).

Nicht die kontroversen Diskussionen in der Partei sind das Problem, sondern die destruktiven Querschüsse von Funktionär*innen und der vergiftete Charakter vieler Debatten. Sahra Wagenknecht behauptete, die Partei würde sich von den Armen und Arbeitenden entfernen. Das entsprach nicht der Wahrheit, aber endete in der absurden Gegenüberstellung von Sozialpolitik einerseits und Antirassismus und Feminismus andererseits, als wären nicht beide Elemente notwendig verknüpfte Teile linker Klassenpolitik.

Bei mehreren Fragen dominierten jeweils zwei entgegengesetzte Positionen die öffentliche Darstellung der Partei, die beide für sich genommen völlig daneben waren: Kritiklose Anpassung an die Corona-Politik der Etablierten vs. Zugeständnisse an Querdenker*innen; Ignorieren des russischen Truppenaufmarsches und Illusionen in eine angebliche Friedfertigkeit des Putin-Regimes vs. NATO-Treue und Zustimmung zur Rüstung. Eine unabhängige Position auf Klassenbasis ist in der Partei durchaus vorhanden, wird aber von den schrillen Tönen medienmächtiger Funktionär*innen überlagert. Die gute Unterstützungsarbeit von Partei-Gliederungen für die Kolleg*innen in den Kliniken, die aktive Rolle von Mitgliedern in der Klimabewegung – solche Ansätze wurden in den Hintergrund gedrängt.

Am Ende interner Auseinandersetzungen standen oft leere Formelkompromisse. Die NRW-Wahlplakate standen symbolisch dafür. Während sich die Krisen zuspitzten, forderte die LINKE „bezahlbare Wohnungen“, das Gesundheitswesen „fit machen“, „Mut“. Bescheidene, harmlose Forderungen, welche SPD und Grüne blumiger beschreiben und mit teuren PR-Agenturen verbreiten. Klar wissen viele, dass  die Grünen und die SPD das nicht umsetzen werden. Aber noch mehr Menschen wissen, dass die LINKE in der derzeitigen Lage keine einzige noch so bescheidene Forderung umsetzen kann.

Klimakrise, Pandemie und Krieg, das sind drei klare Warnungen, dass der Kapitalismus überwunden werden muss. Kapitalismus bedeutet Klimakatastrophe. Die Konkurrenz führt zu militärischen Konflikten. So ausdrücklich sieht das nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Aber viele spüren, dass es kein zurück zum alten „Sozialstaat“ geben wird. Sie spüren, dass die LINKE behäbig und nostalgisch ist anstatt mutige Antworten zu formulieren.

Eine klare, antikapitalistische Positionierung mit Priorisierung von Aktivitäten in Bewegungen hätte am aktuellen Wahlergebnis möglicherweise wenig geändert. Aber es hätte die Partei besser für die Zukunft positioniert.

Wahlkampagne als Ersatzhandlung

Das Ergebnis zeigt im Konkreten, dass die Wahlkampagne im engeren Sinne nur geringe Effekte hatte. Zum Teil arbeiteten die Mitglieder fleißig, klebten Plakate, machten Infostände. An den Ergebnissen änderte das nichts. Gerade in einer solchen Situation ist neben einer klaren medialen (Selbst)darstellung eine soziale Verankerung wichtig, die als Schutz gegen den allgemeinen Trend wirkt. Wird die Partei als Instrument gesehen, um bestimmte Inhalte  populär zu machen? Hat sie eine Rolle dabei gespielt, Kämpfe zu befördern, sind die Aktiven bekannt als Leute, die sich einsetzen?

Ein Beispiel dafür, dass langfristige Aktivität wichtiger ist als eine Werbekampagne kurz vor der Wahl, ist der Kölner Stadtteil Kalk, eine Hochburg der LINKEN. Der eigentliche Wahlkampf lief dort auf einem niedrigen Level. Viele Aktive waren demotiviert, es hingen wenige Plakate, Straßenaktionen fanden nur vereinzelt statt. Auch dort verlor die LINKE, aber deutlich weniger als in Köln und im Land insgesamt, weniger als in Stadtteilen, in denen die Aktiven viel wirbelten. Die LINKE in Köln verlor im Vergleich zu 2017 rund 25.000 Stimmen (von knapp 40.000 auf 15.000), das sind über 60%. Im Stadtteil Kalk holte die LINKE über 10% und verlor „nur“ etwas über 400 von vormals 1000 Stimmen.

Die für eine linke Partei ungünstige politische Konjunktur – geringes Niveau sozialer Kämpfe, Klassenfrage im Hintergrund, nationale Einheit durch den Ukraine-Krieg samt Zustimmung zur Aufrüstung – konnte die LINKE ohnehin kaum beeinflussen.

So geht es nicht … aber wie?

Eine Materialschlacht im Wahlkampf hat nur dann einen Effekt, wenn sie dazu dient, einen vorhandenen Schwung zu verstärken. In der LINKEN spielen Wahlkämpfe jedoch oft die Rolle von Ersatzhandlungen für wirkliche Kämpfe und Verankerung. Die Partei hangelt sich von einer Wahlkampagne zur nächsten, danach sind die Aktiven erfahrungsgemäß erschöpft und pausieren, bis die nächste Wahl ihre Schatten voraus wirft. Schon sind wieder Stimmen zu vernehmen, die „jetzt erst recht“ rufen und sagen, man solle die Wahlen in Bremen und Hessen 2023 vorbereiten und bei der Europawahl 2024 müsse die Partei bundesweit ihr Comeback erreichen. Das ist das Rezept für die nächsten Niederlagen. Die parlamentarische Präsenz in Bremen und Hessen wird nicht durch bunte Werbung verteidigt, sondern nur, wenn die Partei beweist, warum sie gebraucht wird.

Es ist durchaus möglich, dass das bis dahin nicht gelingt. Aber das allein wäre keine Katastrophe. Es war ein Fehler, so zu tun, als sei es eine reale Option gewesen, in den Landtag zu kommen. Der Wahlkampf hätte genutzt werden müssen, um die Partei aufzubauen, klare, radikale Botschaften zu verbreiten und neue Aktivist*innen zu gewinnen.

Die Präsenz im bezüglich der demokratischen Möglichkeiten begrenzten EU-Parlament selbst ist drittrangig. Ein EU-Wahlkampf 2024 kann sinnvoll sein, muss aber nicht, wenn es Wichtigeres zu tun gibt. Auch die Politik-Simulation, die so manche LINKE-Fraktion in den Kommunalvertretungen pflegt, ist zu beenden. Die Arbeit in den Stadträten ist auf geringen Aufwand umzustellen und danach zu bewerten, was Bewegungen, Kämpfen und Selbstorganisierung nützt.

Dieses Rezept gilt nicht für alle Zeiten. Punktgenaue Slogans, passende Kandidierende und professionell organisierte Wahlkampagnen werden eine Rolle spielen, aber es wäre wichtig, dass die Aktiven verstehen, dass wir uns jetzt in einer anderen Phase befinden. Es geht um die Rettung der Partei. 

So kann es nicht weitergehen. Das können alle in der Partei unterschreiben. Doch die Lösungen unterscheiden sich. Der „rechte“ Flügel trommelt schon dafür, das Grundsatzprogramm zu schleifen und will noch stärker auf Regierungsbeteiligung, Wahlkämpfe und parlamentarische Tätigkeit orientieren, die Partei konsequent an den bürgerlichen Politikbetrieb anpassen und zu einem Anhängsel von SPD und Grünen machen. Die Parteilinke muss klar dagegen halten und Mehrheiten für einen nötigen Kurswechsel erkämpfen, hin zu einer kämpfenden antikapitalistischen, sozialistischen Partei mit dem Ziel, zu einer Klassenpartei der arbeitenden Menschen zu werden.

Foto: Claus Ludwig