Was passiert in der Ukraine?

Urheber: Sven Teschke,  (CC BY-SA 3.0)
Urheber: Sven Teschke, (CC BY-SA 3.0)

Verschärfung der militärischen Auseinandersetzung und der zwischenimperialistischen Spannungen

Seit Ende August sind die Massenmedien vollends in Hysterie verfallen: “Kiew meldet Verlust von Grenzorten an russische Truppen” (DER SPIEGEL), “Russen erobern ostukrainische Stadt” (Focus), “Poroschenko spricht von russischer Invasion” (Die Zeit), um nur ein paar Schlagzeilen zu zitieren.

von Dima Yansky, Aachen

Dass der russische Imperialismus, genau wie der US-amerikanische oder deutsche, mit harten Bandagen kämpft, ist kein Geheimnis.

Rolle Russlands

Tausende, von nationalistischen Ideen angestachelte Freiwillige, sowie Munition und Waffen kommen über die kaum existierende Grenze zwischen der Ukraine und Russland. Russland versorgt ostukrainische „Separatisten“ mit Aufklärungsinformationen und hilft anscheinend bei der militärischen Koordination einzelner Regimente. Der russische Imperialismus ist ein fleißiger Schüler gewesen und hat in den letzten 20 Jahren von seinen Vorbildern in der NATO einiges gelernt.

Aggression des Westens

Erinnert sei aber auch an den aggressiven Osterweiterungskurs von NATO und EU, den Aufbau von Raketenabwehrbasen seitens der USA in Polen und Rumänien und die Unterstützung der pro-westlichen Kiewer Regierung, die – auch wenn das wieder zurück genommen wurde – als eine ihrer ersten Amtshandlungen die Streichung des Russischen als zweite Amtssprache ankündigte.

Aktuell hilft die NATO der undemokratischen, arbeiterfeindlichen Regierung der Ukraine, die zusätzlich durch Söldner aus privaten Militärunternehmen unterstützt wird. Anlässlich eines außerordentlichen EU-Gipfels Ende August erklärte die litauische Staatschefin Dalia Grybauskaitė an die Adresse der NATO gerichtet: „Der Ukraine muss mit Lieferungen von Militärausrüstung geholfen werden, sich selbst zu verteidigen.“

Heuchelei der Bürgerlichen

Das alte Spiel heißt Stellvertreterkrieg. Es lief monatelang trotz der Krokodilstränen von Berufsdiplomaten, Parlamentariern, Pressesekretären und den anderen bezahlten Clowns der herrschenden Klassen. Der Lärm von Diplomaten und Politikern übertönte das Leiden von Millionen Menschen in der Ukraine.

Der Zynismus der bürgerlichen Politiker auf allen Seiten wird heute besonders klar. Wo waren die zornigen Stellungnahmen und Verurteilungen des Krieges noch vor kurzem? Warum schwiegen die Medien weitgehend über das brutale Vorgehen der ukrainischen Armee im Osten der Republik im Mai, Juni, Juli? Welche westlichen Zeitungen interessierten noch vor ein paar Wochen die durch Bomben und Artilleriebeschuss der ukrainischen Streitkräfte massakrierten ZivilistInnen in Donezk oder Lugansk? Oder die verkohlten Leichen der 18-jährigen einberufenen Soldaten aus Lwiw und Kiew? Solange die Militäroperation gegen die „Separatisten“ (die natürlich vielfach genauso brutal vorgingen) zu Gunsten der NATO zu laufen schien, schwiegen die EU-Bürokraten und NATO-Generäle.

Veränderte Situation

Warum werden jetzt die Kriegstrommeln lauter?

Seit Wochen wird sowohl in der Ukraine als auch im Westen verschwiegen, dass die laut angekündigte Großoffensive der ukrainischen Armee gegen die abtrünnigen Regionen im Osten der Republik, die sogenannte „Antiterroristische Operation“, bereits Anfang August ins Stocken geraten ist. Es wurde zwar regelmäßig über vermeintliche Militärerfolge berichtet, aber gleichzeitig vollkommen ausgeblendet, dass sich fast die Hälfte der ukrainischen Militäreinheiten in einem blutigen Häuserkampf und lokalen Kesselschlachten aufreibt.

Die Armee der „Separatisten“ wuchs im Gegensatz dazu innerhalb von drei Monaten offenbar von 2.000 auf 20.000 Kämpfer an und wurde scheinbar mit Hilfe russischer Armeespezialisten gestärkt. Je größer die Zerstörungen der Städte waren, desto mehr BewohnerInnen aus der Region wandten sich den „Rebellen“ zu. Die Kiewer Bourgeoisie hat auch mittlerweile selbst kaum noch Illusionen darüber, dass die meisten BewohnerInnen von Lugansk und Donbass hinter den „Separatisten“ stehen. Warum sonst muss die ukrainische Militärpolizei in den besetzten Städten des Ostens pro-ukrainische Demonstrationen beschützen?

Ziele des russischen Imperialismus

Der russische Imperialismus hofft, dass die USA und die NATO mit ihren anderen Aufgaben im Nahen Osten überlastet sind. Aber will Russland die Ukraine besetzen oder vielleicht sogar annektieren? Nein, dafür wären die Risiken zu hoch.

Vielmehr ist es das Ziel von Wladimir Putins Clique, die Ukraine beziehungsweise Teile von ihr von den militärischen Strukturen der NATO und dem wirtschaftspolitischen Einfluss der EU fernzuhalten. Dafür würde die „transnistrische Variante“ schon helfen. Transnistrien ist im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion und dem darauffolgenden Bürgerkrieg in Moldawien entstanden. Transnistrien ist als unabhängiger Staat nicht anerkannt, existiert aber trotzdem seit 23 Jahren und verfügt über eine eigene Armee, Banken und Verwaltung. Russland unterstützt zwar verbal die Vereinigung von Moldawien und Transnistrien, benutzt aber den abtrünnigen Teil der Republik, um die moldawische Regierung unter Druck zu setzen.

Perspektiven

Fast eine Million ZivilistInnen mussten ihre Häuser verlassen. Die genaue Zahl der Toten ist unbekannt, aber auf beiden Seiten gibt es bereits mehrere tausend tote und vermisste Soldaten. Auch wenn der ukrainische Präsident Petro Poroschenko versucht, bei Militärparaden Zuversicht zu wecken, stimmen etliche ukrainische Soldaten mit den Füßen ab. Offiziell liegt die Zahl der Fahnenflüchtigen bei eintausend. Mehrere hundert Soldaten der ukrainischen Armee sollen die russische Grenze überquert haben, um dem sicheren Tod durch Artilleriebeschuss zu entkommen. Gleichzeitig demonstrieren nationalistische, bewaffnete Formationen in Kiew, damit die militärischen Handlungen fortgesetzt werden.

Um die neu entstandene politische Landschaft von den alten Kräften wie der „Partei der Regionen“ und der Kommunistischen Partei zu säubern, entschied sich der neue Präsident – Oligarch Poroschenko – dafür, das Parlament aufzulösen und für den 28. Oktober Neuwahlen anzusetzen. Dennoch werden die Wahlen das politische System nicht stabilisieren können. Die ukrainischen Kapitalisten und ihre bürgerlichen Parteien sind in mehrere rivalisierende Fraktionen gespalten. Einige von ihnen, wie der Oligarch Ihor Kolomojskyj, können unbegrenzte Macht in ihren Regionen ausüben. Sie verfügen über private Armeen und bewaffnete Banden.

Laut (optimistischen) Schätzungen schrumpft das Sozialprodukt dieses Jahr um zehn Prozent. Kriegskosten, ein Einbruch der Exporte nach Russland, die Zerstörung von Industrieanlagen und Infrastruktur im Osten des Landes werden die Ukraine in die schlimmste Wirtschaftskrise seit 20 Jahren stürzen. Arbeitslosigkeit und Kriegsmüdigkeit, Armut und ungelöste soziale Probleme werden die verarmten Schichten der Gesellschaft möglicherweise bereits in diesem Herbst erneut auf die Straße treiben.