Seattle: Der höchste Mindestlohn der Welt

USADie Rolle von SozialistInnen beim Kampf um 15 Dollar Mindestlohn in den USA

Am 6. Juni 2014 beschloss der Stadtrat von Seattle einstimmig ein neues Gesetz, mit dem der städtische Mindestlohn perspektivisch auf 15 US-Dollar die Stunde angehoben wird. Damit wird der Mindestlohn in der nordamerikanischen Metropole doppelt so hoch sein wie der bundesweit geltende in den USA, der bei 7,25 Dollar liegt.

Von Kshama Sawant und Patrick Ayers

Ab April nächsten Jahres werden die Löhne von mehr als 100.000 Beschäftigte signifikant steigen. Beschäftigte von McDonald‘s, Starbucks und anderen Konzernen bekommen mindestens elf Dollar, das Minimum liegt dann bei zehn Dollar. Bis 2025 steigen alle Löhne auf mindestens 18 Dollar. In diesem Zeitraum werden mehr als drei Milliarden US-Dollar von den Unternehmen und Konzernen in Richtung der ärmsten Teile der Arbeiterklasse Seattles transferiert.

„Am Ende“, so Arun Ivatury und Rebecca Smith in ihrem Bericht für CNN.com, „zeigt das Ergebnis von Seattle, was die Geschichte wieder und wieder unter Beweis gestellt hat: Wenn ArbeiterInnen gut organisiert sind und es breite Unterstützung für höhere Löhne gibt, müssen selbst Unternehmen, die sich gegen diese Idee wenden, schließlich mehr bezahlen.“ (15. Mai 2014)

„Als höchster Mindestlohn des Landes“, schrieb die Redaktion der New York Times, „verändert dieser die Bedingungen für die Debatte über den Mindestlohn insgesamt und erweitert die Bandbreite für mögliche neue Mindestlohn-Standards.“ (6. Juni 2014)

In Seattle waren es SozialistInnen von Socialist Alternative, der US-amerikanischen Schwesterorganisation der SAV, die die schließlich erfolgreiche Strategie dazu vorgeschlagen haben. Nach dem Erfolg unseres Wahlkampfes anlässlich der Stadtratswahl im vergangenen Jahr gründeten wir die Initiative „15 Now“ (auf deutsch „15 Dollar Mindestlohn – jetzt!“). Dabei handelt es sich um eine neue Organisation, mit der ArbeiterInnen und AktivistInnen in die Bewegung einbezogen werden. Wir arbeiteten mit den Gewerkschaften zusammen und spielten bei allen Diskussionen und Schritten in der Kampagne eine wesentliche Rolle.

Unterstützung aus der Bevölkerung

Den Anfang markierten die Streiks und Proteste der Beschäftigten aus der Fast Food-Branche, nachdem diese sich 2013 auf das ganze Land ausgeweitet hatten. In der nahe Seattle gelegenen Ortschaft SeaTac im US-amerikanischen Bundesstaat Washington stimmten die EinwohnerInnen für die Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 15 Dollar. Dies geschah zur selben Zeit, da wir in Seattle die Wahl für uns entscheiden und mit einer Genossin in den neunköpfigen Stadtrat einziehen konnten, was das politische Klima veränderte. Im Januar 2014 dann konnten wir die Debatte um die Höhe von 15 Dollar für uns entscheiden: In einer Umfrage äußerten sich 68 Prozent der wahlberechtigten EinwohnerInnen von Seattle zugunsten der sofortigen Einführung eines Mindestlohns von 15 Dollar ohne Ausnahmen und Verzögerungen.

Dass die Forderung von 15 Dollar die Stunde die Unterstützung aus der Bevölkerung bekam, zwang die Unternehmen dazu, dies zu guter Letzt verbal zu akzeptieren. Der Hotelbesitzer Howard Wright III, der in SeaTac noch gegen den 15 Dollar-Mindestlohn gekämpft hatte, wurde in Seattle plötzlich zum „Unterstützer“ dieser Forderung. Er sagte der Zeitung Seattle Weekly: „Meine Motivation kam daher, wie der Mindestlohn in SeaTac eingeführt wurde. Ich war nicht dagegen, dass letztenendes 15 Dollar als Ziel standen. Aber ich fand nicht gut, dass es keine Übergangsfristen vor der Einführung gab. […] Ich dachte, OK, es geht nicht mehr um das ob, sondern darum wie das nach Seattle kommt, es ist die Frage sich deshalb an die Spitze zu setzen.“ (20. Mai 2014).

Der neue Bürgermeister von Seattle von der Demokratischen Partei Ed Murray, leitete einen Verhandlungsprozess mit Unternehmen und Gewerkschaften über den Mindestlohn ein, an dessen Ende ein gemeinsamer Vorschlag stehen sollte. Bürgermeister Murray wollte verhindern, dass es zu konkurrierenden Volksbegehren kommt, ein Szenario, so warnte er, das – so wörtlich – auf „Klassenkampf“ hinauslaufen würde. Murray ernannte zwei Dutzend VertreterInnen von Unternehmen, aus den Gewerkschaften, Organisationen der sozialen Bewegungen und dem Stadtrat. So wurde auch Kshama Sawant ins eigens dafür eingerichtete „Income Inequality Advisory Committee“ (IIAC; dt.: „Beratender Ausschuss für Fragen der Einkommensungleichheit“) berufen. Das IIAC sollte dem Stadtrat bis Ende April einen Vorschlag zum Thema Mindestlohn vorlegen. Dann läge es beim Stadtrat, für ein entsprechendes neues Gesetz zu sorgen.

Einwände und Attacken von Unternehmerseite

„Es mag sein, dass die Gewerkschaft die effektivste aller Basisorganisationen sein möchte. In diesem Fall war sie es allerdings nicht. Schlimm war das jedoch deswegen nicht, weil wir mit ‚Socialist Alternative‘ schließlich einen Partner hatten, der diese Aufgabe übernommen hat“, sagte David Freiboth, Vorsitzender des Gewerkschaftsbunds, AFL-CIO, in der Region Seattle. „Es gibt KollegInnen, denen es schwer gefallen ist einzugestehen, dass ‚15 Now‘ die Basis besser organisieren konnte als wir. Ich bin der Meinung, dass sie das tatsächlich hinbekommen haben“ (Truthout, 28. Juni 2014).

Die Unternehmen wollten den vom Bürgermeister in Gang gesetzten Prozess nutzen, um jedwedes neue Mindestlohn-Gesetz mit Schlupflöchern zu versehen. Sie argumentierten, dass eine Anhebung bis auf 15 Dollar „korrekt“ vonstatten gehen müsse, mit „kreativen Lösungen“ und „intelligenten Mitteln der Politik“ wie etwa dem Anrechnen von Trinkgeldern auf die ausgezahlten Entgelte oder dem Ansatz der „totalen Vergütung“. Damit sollte es Arbeitgebern ermöglicht werden, Kosten für Krankenkassen, Rentenbeiträge, Trinkgelder, bezahlte Krankheitstage, bezahlten Urlaub und andere Errungenschaften von den 15 Dollar Stundenlohn wieder abzuziehen.

Wir wussten, dass alles was wir am Verhandlungstisch mit der Unternehmerseite würden durchsetzen können zuerst auf dem Schlachtfeld der öffentlichen Meinung gewonnen werden musste. Die Konzerne haben das Geld, ihre Verbindungen zum politischen Establishment und die Massenmedien auf ihrer Seite. Die arbeitenden Menschen brauchten also ihre eigenen Mittel und Werkzeuge. Wir gründeten die „15 Now“-Initiative, um beim Aufbau dieser Bewegung einen Beitrag leisten zu können.

Von Anfang an strebten wir danach, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen hinter einer gemeinsamen Position zu vereinigen, um so den Druck auf den vom Bürgermeister eingesetzten Ausschuss wie auch den Stadtrat zu erhöhen, damit es auch wirklich zur Einführung eines Mindestlohns von 15 Dollar die Stunde kommt. Die Frage dabei war nur: Wie könnten die arbeitenden Menschen und die Gewerkschaften zum bestmöglichen Ergebnis kommen? Wir vertraten dabei die Auffassung, dass ein wirkungsvoller Druck am besten durch ein erfolgversprechendes Volksbegehren hergestellt werden könnte, um jeden Versuch abzuwehren, den 15 Dollar-Mindestlohn zu verwässern. Das auch weil wir unter Bedingungen einer geschwächten Gewerkschaftsbewegung und einer historisch niedrigen Anzahl an Streiks agieren.

Die Initiative „15 Now“ drohte mit der Sammlung von 50.000 Unterschriften, sollte das IIAC keinen angemessenen Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar beschließen. Mit dieser Anzahl an Unterschriften wäre es zu einem Volksentscheid für ein Mindestlohn-Gesetz von unten gekommen.

Ernstzunehmende Drohung

Wir haben unsere Position sehr klar gemacht und einen echten Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar für alle Beschäftigten gefordert, ohne Schlupflöcher wie beispielsweise eine längere Einführungsphase, die Verrechnung mit Sozialleistungen bzw. Trinkgeldern oder niedrigere Löhne für Auszubildende und Minderjährige. Wir haben gesagt, dass echte Kleinbetriebe und soziale Einrichtungen, die ohne Hilfe keine Lohnerhöhung verkraften würden, diese auch bekommen sollten – allerdings nicht auf dem Rücken der schlecht bezahlten Beschäftigten. Konkret haben wir gefordert, die großen Konzerne zu besteuern, um damit den Kleinbetrieben und gemeinnützigen Einrichtungen zu helfen.

Wenn wir bei den Urnengängen in Seattle im November auch ein Referendum zum Thema Mindestlohn hätten durchsetzen wollen, dann hätten wir bis zum Juni zehntausende von Unterschriften sammeln müssen. Um diese Option offen zu halten, mussten wir uns im April zuerst mit bürokratischen Aufgaben und dem spezifischen Wortlaut für unsere Initiative befassen. Und der Wortlaut für den wir uns im April entschieden haben, musste tauglich sein bis zur Abstimmung sieben Monate später, da er nicht mehr veränderbar war.

In dieses zeitliche Korsett sahen wir uns gezwängt, um den Weg für ein Volksbegehren offen zu halten, das dann das Maximum für die arbeitenden Menschen hätte erreichen sollen. Das hat bedeutet, sich im April entscheiden zu müssen, welche Kämpfe man fortführen und welche man auf später verschieben muss.

Wir mussten also zu einer nüchternen Entscheidung kommen: Welche ist die wichtigste Forderung, mit der man auch noch eine realistische Chance hat, bei den Abstimmungen im November die Mehrheit der Stimmen zu bekommen und mit der die Menschen aus der Arbeiterklasse in der Zeit von heute bis zum Wahltermin mobilisiert werden können? Wie steht es in diesem Zusammenhang um den Stand des Bewusstseins? Wo steht die Bewegung im Moment? Was sind die objektiven Stärken, wo liegen die Schwächen? Welcher Vorschlag hat das Potential, bei den künftigen sozialen Kämpfen breite Teile der Gewerkschaften und der Linken miteinander zu vereinen?

Die Banken und Konzerne hatten die Möglichkeit, einen Haufen Geld aufzubringen, um jegliche Initiative für ein Volksbegehren doch noch abzuwenden. Schätzungen gehen von Summen zwischen zehn und dreißig Millionen US-Dollar aus, wahrscheinlich mehr. Es lag auf der Hand, dass es für die Unternehmensseite von Vorteil sein würde, wenn das Bewusstsein der Massen verwirrt wird durch die Frage der Kleinbetriebe, der Angst auch der ArbeiterInnen dort um ihre Jobs und die (bisherigen) Schwierigkeiten der Arbeiterbewegung mit einer gemeinsamen starken Stimme zu sprechen. Und so kam es, dass die Großkonzerne ihren Widerstand nicht offen zeigten, sondern stattdessen zur bestmöglichen Verteidigungstaktik griffen und sich hinter den Bedenken der Kleinbetriebe verschanzten, die in den Wohnvierteln natürlich viel tiefer verankert sind.

Damit wir es schaffen konnten, die öffentliche Meinung auf unsere Seite zu ziehen, war es entscheidend, die Bedenken hinsichtlich der Kleinbetriebe und der gemeinnützigen Einrichtungen, die etliche „normale“ Leute teilten, direkt aufzugreifen. Es waren also Vorschläge und Ideen nötig, mit der die Bewegung in die Lage versetzt werden konnte, den Blick auf das zu richten, was das Wesentliche ist: auf das als obszön zu bezeichnende Wohlstandsgefälle und die riesigen Profite der Großkonzerne.

Wir haben uns mit aller Kraft gegen den immer wieder gemachten Fehler zur Wehr gesetzt, unsere politischen Forderungen abzuspecken, um auf diese Weise die Konzernseite beschwichtigen zu wollen und „WechselwählerInnen“ hinterher zu rennen, was im Endeffekt nur dazu führt, dass unsere eigene Anhängerschaft demoralisiert und geschwächt wird. Sollte die Initiative für ein Volksbegehren Aussicht auf Erfolg haben, dann musste sie die größtmögliche Anzahl an ArbeiterInnen und jungen Leuten motivieren.

Gleichzeitig würde die Linke einen schweren Fehler begehen, nicht zu begreifen, dass man ein Volksbegehren nur dann gewinnen kann, wenn es so einfach, zielgerichtet und leicht erklärbar wie möglich gehalten wird. Es gilt gründlich zu durchdenken, wie man sich gegen die Angriffe von Seiten der Kapitalgesellschaften und ihrer Medien, Politiker und Juristen zur Wehr setzen kann.

Wir haben unsere Position klar gemacht, dass die Großkonzerne besteuert werden müssen, um gemeinnützige Einrichtungen und echte Kleinbetriebe, die aufgrund einer kurzfristigen Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar wirklich in Schwierigkeiten kommen, finanziell zu unterstützen. Dieses politische Vorgehen war allerdings zu kompliziert, um es zum Bestandteil einer Initiative für ein Volksbegehren machen zu können. Die Möglichkeiten der Stadt Seattle Großkonzerne zu besteuern, sind aufgrund der im Bundesstaat Washington geltenden rechten Steuergesetze juristisch höchst umstritten.

Weil also das Thema der Steuern für Großkonzerne kein praktikables Mittel war, um damit eine Initiative für ein Volksbegehren in Angriff zu nehmen, musste die Frage, wie man die Bedenken hinsichtlich der Kleinbetriebe und der gemeinnützigen Einrichtungen aufgreifen kann, anders beantwortet werden. Wir haben uns dafür entschieden, der Frage der Kleinbetriebe und gemeinnützigen Einrichtungen in unsere Initiative für ein Volksbegehren mit aufzunehmen. Für sie sollte eine längere Schonfrist (sprich: „Einführungsphase“) bis zur vollen Umsetzung des 15 Dollar-Mindestlohns gelten.

Fakt ist, dass aufgrund der weit verbreiteten Verwirrung und der Bedenken hinsichtlich der möglichen Probleme für die Kleinbetriebe, diese Zugeständnisse unsere Initiative für ein Volksbegehren für die Bosse bedrohlicher werden ließ. Eine Initiative für ein Volksbegehren für einen Mindestlohn von 15 US-Dollar ohne Punkt und Komma hätte es der Konzernseite einfacher gemacht, gegen diese vorzugehen. Sie hätte schlichtweg für Verwirrung sorgen können, indem sie die Bedenken bezüglich der Kleinbetriebe aufgegriffen hätte. Indem wir das Thema der Kleinbetriebe ausgespart haben, waren wir in der Lage, die Frage der Großkonzerne zurück in den Fokus der Debatte zu rücken. Weshalb sollten Beschäftigte von Großkonzernen mehrere Jahre warten, um die 15 Dollar zu bekommen? Die Großkonzerne können sich das doch leisten!

Mitte April reichten wir also unsere Vorlage mit folgenden wesentlichen Bestandteilen ein:

15 Dollar Mindestlohn pro Stunde im Bereich der Großkonzerne; Einführung am 1. Januar 2015

Keine Verrechnung mit Trinkgeldern, Krankenkassen- oder Rentenbeiträgen, keine „totale Entschädigung“

Voller jährlicher Kaufkraft-Ausgleich (wörtl.: „cost of living adjustment“, COLA), wie es im Bundesstaat Washington heute schon der Fall ist

Stufenweise Ausweitung des Mindestlohns auf die Kleinbetriebe und gemeinnützigen Einrichtungen über drei Jahre hinweg, beginnend mit einer Erhöhung des Mindestlohns auf elf Dollar ab dem 1. Januar 2015 und einer erneuten Anhebung in Drei-Jahres-Intervallen auf einen um die Lebenshaltungskosten bereinigten Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar ab dem 1. Januar 2018

Ab dem 1. Januar 2018 müssen alle abhängig Beschäftigten in Seattle unabhängig von der Größe des Betriebes, in dem sie arbeiten, und ohne Ausnahme, Schlupflöcher oder „Spielräume“ denselben inflationsbereinigten Mindestlohn in Höhe von 15 Dollar die Stunde erhalten

Kompromisse

Die Drohkulisse, die wir mit unserer Initiative für ein Volksbegehren aufgebaut haben, wurde als defensive Maßnahme präsentiert. Wenn der vom Bürgermeister eingeleitete Prozess scheitern oder der Stadtrat im Gesetzgebungsverfahren schwerwiegende Änderungen vornehmen würde, dann hätten wir die Möglichkeit in der Hinterhand gehabt, doch noch den Weg des Referendums zu gehen.

Die Zeitung „The Seattle Times“ kommentierte: „Die Gefahr, dass ‚15 Now‘ eine Änderung zum Mindestlohngesetz auf den Weg bringen könnte, setzte die Stadt-Oberen und den von Bürgermeister Ed Murray geschaffenen ‚Beratenden Ausschuss für Fragen der Einkommensungleichheit‘ unter Zugzwang. Entweder würden die führenden Vertreter der Arbeitnehmerschaft und der Unternehmen einen Kompromiss zur Frage des höheren Mindestlohns finden oder es droht bei den Urnengängen im November eine Volksabstimmung zum Mindestlohn.“

Die Diskussionen in und um das IIAC offenbarten die Spannungen zwischen der Unternehmer- und Gewerkschaftsseite. Dass der ganze Vorgang vor die Wand fahren würde, lag durchaus im Bereich des möglichen. Die Gewerkschaften richteten sich vor allem ganz energisch gegen die Einführung eines “tip credit“, eines „Trinkgeld-Abschlags“: In den meisten Bundesstaaten der USA liegt der Mindestlohn für Beschäftigte in Branchen, in denen Trinkgelder gezahlt werden, niedriger als in allen anderen Branchen. Während der Mindestlohn US-weit bei 7,25 Dollar liegt, bekommen Beschäftigte in der „Trinkgeld-Branche“ lediglich 2,13 Dollar. Die Unternehmen dieser Wirtschaftsbranche argumentierten, dass Trinkgelder den Unterschied aufwiegen. Die Arbeiterbewegung im Bundesstaat Washington lehnte die Idee des „Trinkgeld-Abschlags“ schon 1988 ab, und die Beschäftigten aus der „Trinkgeld-Branche“ in Seattle bekommen momentan denselben Mindestlohn wie alle anderen (9,32 Dollar) plus Trinkgelder. Aus Sicht der Gewerkschaften wäre die gesetzlich festgelegte Verrechnung der Trinkgelder nichts anderes als ein Rückschritt.

Unsere Initiative für ein Volksbegehren setzte in dieser Debatte einen Kontrapunkt. So war von der Möglichkeit eines „Trinkgeld-Abschlags“ darin überhaupt gar keine Rede. Wir nannten das die „Trinkgeld-Strafe“, weil es dabei um einen Abschlag für den Arbeitgeber geht und einen Strafabzug aus Sicht der/s Arbeitenden. Unter den Beschäftigten, die in Branchen arbeiten, in denen Trinkgelder üblich sind, verbreiteten die Arbeitgeber Lügen, wonach die Kampagne „15 Now“ Trinkgelder abschaffen wollen würde. Ein Kneipenbesitzer ermunterte eine Gruppe von KellnerInnen, eine Organisation zu gründen, angeblich um ihre Trinkgelder zu verteidigen. In Wirklichkeit wollte er aber, dass Werbung für die Idee des „Trinkgeld-Abschlags“ gemacht wird. Nach verschiedenen Diskussionen mit einigen dieser KellnerInnen waren wir in der Lage, diese davon zu überzeugen, dass auch sie einen Anspruch auf 15 Dollar-Mindestlohn haben – plus Trinkgeld. Das Ergebnis war, dass wir sie für uns gewinnen konnten!

Die Strategie der Gewerkschaften

Es war am 1. Mai, als der Bürgermeister dann ankündigte, im IIAC sei es zu einem Kompromiss gekommen. Die Arbeitgeberseite hatte zwar widerwillig einer Erhöhung des Mindestlohns zugestimmt. Es war jedoch klar, dass sie nicht vollkommen glücklich damit waren. Ein Wirtschaftsvertreter nannte den Deal die „am wenigsten schlimme und anstößige Option“. Wir stimmten im IIAC dagegen und trugen unseren Vorschlag als Alternative im Stadtrat vor.

Auch wenn das Erreichte ein riesiger Fortschritt ist, gibt es keinen Grund zu leugnen, das der letztlich vom Stadtrat beschlossene Mindestlohn auch die Handschrift der Unternehmerseite enthält. Dieses Ergebnis war nicht unausweichlich. Leider war die Strategie der GewerkschaftsführerInnen nicht darauf ausgerichtet die Bewegung von unten aufzubauen, sondern sie orientierten sich an den vom Bürgermeister ausgerichteten Verhandlungen mit der Unternehmerseite. Die einflussreichsten Gewerkschaftsführer lehnten unsere Strategie eines Volksbegehrens ab, weil sie Sorge hatten, diese würde den Verhandlungsprozess des Bürgermeisters torpedieren. Hätten die Gewerkschaften unsere Herangehensweise mit all ihren Möglichkeiten unterstützt, hätte sehr viel mehr Druck aufgebaut werden können und es hätte ein besserer Mindestlohn erreicht werden können.

Die Rückschläge für die Gewerkschaftsbewegung der letzten Jahre haben verständlicherweise das Selbstbewusstsein der arbeitenden Bevölkerung und auch der Gewerkschaften gedrückt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Socialist Alternative hat sich für eine Strategie eingesetzt, die dabei geholfen hätte, eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung wieder aufzubauen indem radikale Traditionen von Massenkampagnen gelegt werden.

Die Gewerkschaften in den USA haben enorme Ressourcen und ein hohes politisches Gewicht. Sie haben Millionen Mitglieder und verfügen über Millionen Dollar, die für mutige Kampagnen mobilisiert und eingesetzt werden könnten. Einen Eindruck davon hat man bei den Streiks der Fast Food-Beschäftigten bekommen. Wenn die Gewerkschaften die Androhung eines Volksbegehrens für ein besseres 15-Dollar-Mindestlohn-Gesetz ohne Schlupflöcher und unnötige Verzögerungen unterstützt hätten, hätten die Unternehmer in Seattle zu größeren Zugeständnissen gezwungen werden können.

Die Gewerkschaften in den USA befinden sich in einem Prozess ernsthaften Niedergangs. Jahrzehnte von Versuchen, die Unternehmer durch Zustimmung zu Konzessionen zu beschwichtigen, haben die Unternehmer nur motiviert immer mehr Zugeständnisse einzufordern. Wenn die Ressourcen der Gewerkschaften zur Unterstützung von Kampagnen wie „15 Now“ eingesetzt würden und die BasisaktivistInnen selber die Kontrolle über solche Kampagnen erhalten, könnte sich das Blatt wenden und ArbeiterInnen könnten beginnen, effektiv gegen die habgierigen Mächte des Kapitalismus zu kämpfen.

Ohne die Unterstützung der Gewerkschaften wäre es aber schwer gewesen, eine ernsthafte Kampagne für ein Volksbegehren zu organisieren. Für die große Mehrheit der Menschen ist der Mindestlohn-Beschluss des Stadtrats eine enorme Verbesserung. Die große Mehrheit von ArbeiterInnen hätte nicht verstanden, wenn wir uns gegen etwas ausgesprochen hätten, was also großer Erfolg für ArbeiterInnen betrachtet wurde. Stattdessen sprachen wir uns dafür aus, an dem im Stadtrat vorliegenden Gesetzesentwurf Änderungen vorzunehmen.

Nachdem eine Einigung mit dem Bürgermeister erzielt worden war, wollten die Gewerkschaften Druck auf den Stadtrat für eine schnellstmögliche Beschlussfassung ausüben. Auf der anderen Seite versuchten die Unternehmer den Beratungsprozess im Stadtrat für weitere Verwässerungen auszunutzen. Angesichts der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Kräfteverhältnisse ging der reale Kampf in diesem Moment um die Frage, ob es weitere Verwässerungen geben würde. Der Kompromiss zwischen den Unternehmern und Gewerkschaften war brüchig. Zu viele Zugeständnisse an die Unternehmerseite hätten die Unterstützung durch die Gewerkschaften wieder untergraben können. Wir brachten im örtlichen Gewerkschaftsrat eine Resolution ein, die die gewerkschaftliche Opposition gegen weitere Zugeständnisse festigen sollte. Der Bürgermeister versuchte gleichzeitig eine rasche Beschlussfassung im Stadtrat ohne größere Änderungen durchzusetzen.

Wir brachten über unseren Stadtratssitz eine Reihe von Änderungsanträgen ein, die alle Schlupflöcher für Konzerne schließen sollten, inklusive der langen Einführungsphase und dem Trinkgeld-Abschlag. Die Rechten im Stadtrat hatten genug Stimmen, um das Gesetz weiter zu verwässern, aber sie beschränkten sich auf kleinere Veränderungen. Sie ergänzten das Gesetz um Formulierungen aus dem Bundesstaatsgesetz zum Mindestlohn, das Unternehmen ermöglicht Anträge auf Ausnahmen vom Mindestlohn für junge und behinderte Beschäftigte zu stellen und sie verschoben die Einführung des Mindestlohns vom 1. Januar 2015 auf den 1. April 2015. Wir konnten sie zu Abstimmungen zu Fragen des Trinkgeld-Abschlags, der totalen Entschädigung, einer verzögerten Einführung für Großkonzerne und anderer von den Unternehmern geforderten Schlupflöcher zwingen. Das ermöglichte uns der arbeitenden Bevölkerung zu zeigen, auf welcher Seite die Mehrheit des Stadtrats tatsächlich steht.

Als dann das Gesetz in seiner Gesamtheit einstimmig verabschiedet wurde, haben wir dies, trotz seiner Schwächen, als einen Sieg für die Arbeiterbewegung betrachtet und so präsentiert. Wir erklärten, dass es ohne die Bewegung gar keine Diskussion über einen höheren Mindestlohn gegeben hätte.

Lehren

In Seattle hat die Wahl einer einzigen Sozialistin in den Stadtrat die Lage dramatisch verändert. Das zeigt, wie selbst eine kleine, aber gut organisierte Kampagne von SozialistInnen einen wesentlichen Beitrag zum Wiederaufbau einer kämpferischen Arbeiterbewegung in den USA leisten kann.

Der Kampf für 15 Dollar Mindestlohn hat ArbeiterInnen in Seattle und den ganzen USA auch gezeigt, dass in einem auf Profit basierenden System, die Konzerne ihren Reichtum und ihre Macht immer mit aller Macht verteidigen werden. Der Kapitalismus führt zwangsläufig zu Ungleichheit.

Der Kampf für bessere Löhne, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit muss gleichzeitig ein Kampf für die sozialistische Veränderung der Gesellschaft sein, die sich an wirklicher sozialer Gleichheit und den Bedürfnissen der Menschen orientiert.

Kshama Sawant wurde im letzten Jahr zur ersten sozialistischen Stadträtin Seattles gewählt. Sie ist Mitglied der US-amerikanischen Socialist Alternative, der Schwesterorganisation der SAV. Patrick Ayers ist Aktivist von „15 Now“ und der Socialist Alternative in Seattle.