Im Osten viel Neues

Mittel- und Osteuropa ist ein ökonomisches und politisches Pulverfass

von Sonja Grusch

Die Beschäftigung mit der Zukunft, den Perspektiven für die EU, den Euro und die europäische Wirtschaft kann nicht sinnvoll erfolgen, ohne sich die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa näher anzusehen. Der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten in den 1980er und 1990er Jahren, die Öffnung bzw. Übernahme ihrer Ökonomien gab v.a. dem westeuropäischen Kapital die Möglichkeit, sich neue Märkte zu erschließen, an billige Arbeitskräfte zu kommen, Konkurrenz los zu werden und überschüssiges Kapital los zu werden. So konnte der zu dieser Zeit quasi schon in der Warteschleife für die nächste Krise stehende europäische Kapitalismus noch einmal einen Aufschwung erleben. Die Krise wurde hinaus geschoben – aber nicht abgewendet, da sich an den zugrunde liegenden Widersprüchen im Kapitalismus nichts geändert hatte.

Hohe soziale Kosten der kapitalistischen Restauration

Während der westeuropäische Kapitalismus noch einmal eine Atempause erhielt und einige wenige in Süd- und Osteuropa reich wurden, hatte dieser Prozess für die Meisten dramatische, negative soziale Folgen. In Folge der Privatisierungen und der mangelnden Investitionen kam es zur Schließung von großen Teilen der Industrie. Kein zufälliger Prozess, sondern durchaus gewollt. Die Privatisierungsprozesse z.B. verliefen unter Aufsicht, teilweise wie in BiH unter direkter Kontrolle von zentralen Organisationen des Kapitals wie Weltbank, IWF & Co. Meistens waren es schlicht Prozesse des „Asset Stripping“ – also das die Unternehmen zerschlagen und die Einzelteile verkauft werden. Nicht um weiter zu produzieren, sondern um die Maschinen zu verkaufen und v.a. die Grundstücke zu sichern. Viele Menschen haben in Folge ihre Jobs verloren. Je nach Land und Quelle sind Arbeitslosenzahlen von 25% keine Seltenheit, die Werte reichen aber bis zu 40% und mehr. Da wundert es nicht, wenn rund drei Millionen RumänInnen auf der Suche nach Arbeit das Land verlassen haben.

Verstärkt wird die soziale Krise in vielen Ländern durch die brutal-neoliberalen Regierungen, wie z.B. in Ungarn. Orban gibt sich zwar als populistischer „Mann des Volkes“ – doch tatsächlich betreibt er Klientelpolitik für eine Schicht reicher UngarInnen (zu denen er selbst gehört): Rund 50% leben heute in Ungarn um oder unter der Armutsgrenze von mageren 280.- Euro/Monat. Das der Mindestlohn und die Bezahlung bei der von Orban eingeführten Zwangsarbeit darunter liegen, verschärft das Armutsproblem weiter. Die Hälfte der Familien hat sogar Probleme bei der Nahrungsbeschaffung.

Eine Landverteilung so ungleich wie in Lateinamerika

Eine weitere Konsequenz der Restauration des Kapitalismus war und ist die Konzentration von Landbesitz die in Osteuropa inzwischen ein ähnlich ungleiches Ausmaß angenommen hat, wie in Brasilien oder Kolumbien. Nicht zuletzt durch die Politik der EU der Liberalisierung der Landmärkte kam es zu Verschiebungen der Besitzverhältnisse, von denen die Kleinbauern kaum profitiert haben. In Ungarn z.B. besitzen 200 ÖsterreicherInnen insgesamt 200.000 Hektar Land, in der Ukraine bewirtschaften die zehn größten Agrarholdings etwa 2,8 Millionen Hektar, das sind immerhin fünf Prozent der landwirtschaftlichen Fläche.

Der Imperialismus deponiert sein überschüssiges Kapital

Die dritte Ebene, mit der v.a. westeuropäisches Kapital den Systemwechsel nutzte war die de facto Übernahme der Finanzmärkte durch europäische Banken. In BiH sind über 80% der Banken in ausländischer Hand, auch in anderen Ländern war der Banken- und Versicherungssektor eine Möglichkeit, das überschüssige Kapital, das in Westeuropa nicht mehr profitabel angelegt werden konnte, zu investieren. Viele Kredite wurden vergeben – die wenigsten allerdings um in die Modernisierung oder gar den Neuaufbau von Industrie zu investieren, sondern für dubiose bzw. Prestigeobjekte und in großem Umfang für Immobilien- und Konsumkredite. Menschen müssen aufgrund der Kürzungen bei den Sozialstaaten zunehmend zu Krediten greifen, um sich Wohnen oder auch nur das tägliche Leben zu leisten. Doch ein großer Teil dieser Kredite sind faul, werden also niemals zurückbezahlt werden. Einerseits, weil sie für Schmiergelder etc. verwendet wurden an KreditnehmerInnen, die schlicht untertauchen. Andererseits weil die sozialen Probleme steigen und viele Menschen immer weniger Möglichkeiten haben, die Kredite (die noch dazu häufig in Euro sind und damit mit Abwertung der eigenen Währung immer teurer werden) jemals zurück zu bezahlen.

Insgesamt hat die Restauration des Kapitalismus Mittel- und Osteuropa also eher in die Lage von Kolonien als in jene von entwickelten kapitalistischen Staaten gebracht. Die „zweite“ Welt wurde also eher in Richtung „dritter“ als in Richtung „erster“ Welt gedrückt.

Was als Lösung gedacht war, wird nun zum Problem

Der vermeintliche Ausweg für das überakkumulierte Kapital Westeuropas kann allerdings nun zum Auslöser für den nächsten Einbruch der Krise werden. Mittel- und Osteuropa ist ein ökonomisches und soziales Pulverfass in dem die Landmienen, die die Flut in BiH freigelegt hat noch das geringste Problem sind.

Die Hypo-Alpen-Adria Bank, immerhin die sechst größte Bank Österreichs, ist aufgrund von faulen Krediten (nicht zuletzt wohl wegen ihrer Involviertheit in Korruption) notverstaatlicht worden. Durch das neue Bankengesetz in Ungarn, bei dem Orban (um von seiner ansonsten massiven Umverteilungspolitik von unten nach oben abzulenken) die Banken ein bisschen ihrer Extraprofite an die ungarischen KreditnehmerInnen zurückzahlen lässt, müssen internationale Banken (darunter va. Österreichische, Italienische, Belgische etc.) geschätzte 2,6-3 Mrd. Euro zahlen. Für einige der größten Investoren, die österreichische Erste Bank bzw. die Raiffeisenbank gehen die Rückzahlungssummen in die dreistelligen Millionenbeträge und bringen diese Banken in ernsthafte Schwierigkeiten.

Verschärft wird die Problematik noch durch die Krise des rumänischen und bulgarischen Bankenwesens. Die Basis mag Korruption und ein Streit zwischen rumänischen Oligarchen sein, die Ursachen liegen aber tiefer und die Folgen können weitreichend sein. In beiden Fällen ist die EU alarmiert über die möglichen Konsequenzen für das europäische Bankenwesen. Können doch die Zusammenbrüche von zweit- und drittrangigen Banken einen Rattenschwanz von Problemen mit sich bringen. Daher hat die EU-Kommission der bulgarischen Regierung auch erlaubt, die betroffene Corporate Commercial Bank mit staatlichen Hilfszahlungen von 1,7 Milliarden Euro zu stützen. Bulgarien strebt auch als erstes nicht Euro-Land eine Mitgliedschaft in der Bankenunion an. Auch wenn aktuell offen ist, ob sie mit diesem Bestreben erfolgreich sein werden, klar ist, dass die EU zu weitreichenden Schritte bereit ist, um mögliche Auslöser künftiger Einbrüche zu limitieren. Denn das Mittel- und Osteuropa ein ökonomisches Pulverfass ist, wird immer offensichtlicher. Osteuropäische Fonds und Anleihen haben im letzten Jahr einiges an Wert eingebüßt. Die Situation in der Ukraine hat die Unsicherheit weiter verschärft. Tatsächlich ähnelt die Politik der EU mehr jener des Flickschusters der ein Loch stopft und sich sogleich mit dem nächsten konfrontiert sieht.

Gebrochene Versprechen machen wütend!

Doch neben der Furcht vor den ökonomischen Folgen fürchtet sich die herrschende Klasse in Europa auch zunehmend vor den politischen. Bei einem weiteren Eintauchen in die Krise werden nicht nur die Protesten in West- sondern auch in Mittel- und Osteuropa zunehmen. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus war die kapitalistische Logik lange ungebrochen. Doch ewig wirken die Versprechen, die ja unerfüllt gebrochen sind, nicht.

Das die Unzufriedenheit mit der herrschenden Politik groß ist, spiegelt sich auf verschiedenen Ebenen wieder. Auch in den „neuen“ Ländern ist die Wahlbeteiligung, für nationale Regierungen ebenso wie für das EU-Parlament, niedrig. Regierungen werden abgestraft, (vermeintlich) neue KandidatInnen und Listen werden ausprobiert, wie z.B. in der Slowakei, wo ein Milliardär die Präsidentschaftswahlen und bei den Regionalwahlen in einem Wahlkreis ein Rassist gewinnt (bei allerdings nur 17% Wahlbeteiligung).

Das Wachstum rechter und reaktionärer Kräfte ist eine der Reaktionen auf die aktuelle politische Krise. Das sich eine faschistische Kraft wie die ungarische Jobbik mit ihren SA-ähnlichen Anhängseln „Neue Ungarische Garde“ bzw. „Ungarische Selbstverteidigung für eine schönere Zukunft“ und der „Jugendbewegung der 64 Burgkomitate“ die nicht nur verbal gegen Roma und Juden vorgehen über Jahre und mehrere Wahlen stabil bei 15+% halten kann ist natürlich erschreckend. Auch der Einfluss faschistischer Kräfte in der Ukraine ist bedrohlich. Nicht immer ist es die faschistische Karte, auf die reaktionäre Kräfte setzen, oft ist es auch religiöser Fundamentalismus (wobei hier durchaus eine Zusammenarbeit mit faschistischen und rechtsextremen Kräften besteht). Bei Protesten religiöser FundamentalistInnen in Wien die sich u.a. gegen Aufklärungsunterricht und Homosexualität richteten nahmen auch Ultrarechte aus Polen, der Slowakei und der Ukraine teil. V.a. in Mittel- und Osteuropa wird immer mehr in den Bau religiöser Bauten gesteckt. Auch ein Weg von z.B. der Türkei, die so versucht, ihren Einfluss in Bosnien auszubauen. Doch diese religiösen Vorstöße stoßen nicht nur auf positive Reaktionen. Das z.B. in Rumänien seit 1989 fünfmal mehr neue Kirchen als Schulen errichtet wurden führt auch zu Kritik.

Die Rechten haben kein Monopol auf den Unmut

Und es gibt eben auch die andere Seite des Unmuts, die Zunahme von Protesten. Soziale Explosionen wie jene in BiH Anfang 2014 (nach jenen im Sommer 2013) sind es, die die herrschende Klasse in Angst versetzt. Damals ging es gegen die „kriminelle Privatisierung“, aber auch gegen die überbordende Korruption, die soziale Misere, die Perspektivlosigkeit im Land. Es gab nicht nur wütende Proteste, sondern auch die Gründung der „Plenas“, regelmäßige Treffen in mehreren Städten in denen breit diskutiert wurde. Die Bewegung hatte solch eine Macht, dass Regionalregierungen zurücktreten mussten, neue KandidatInnen sich in den Plenas vorstellen mussten. Doch es waren keine Sowjets, die ArbeiterInnenklasse, insbesondere in organisierter Form, spielte keine Rolle. Doch weder der Stalinismus, noch er brutale ethnisch-religiös geführte Krieg, noch der Kapitalismus haben die starken Traditionen der ArbeiterInnenbewegung in BiH, insbesondere in der Industriestadt Tuzla, ausradieren können. Aktuell gibt es Initiativen für die Neugründung von Gewerkschaften von unten, da die existierenden im besten Fall planlos sind.

Es gibt also nicht nur die rechten Kräfte, die von wachsenden Unmut profitieren, sondern vielmehr eine massive Polarisierung in der Gesellschaft. Das Dogma Kapitalismus ist durchbrochen. Auch bürgerliche PolitikerInnen reagieren darauf mit einer scheinbar sozialen Rhetorik. Orban ist einer, der serbische Premier ein anderer. Letzterem sind schon zwei Finanzminister abhanden gekommen, weil er ihre rigorosen Sparpläne nicht umsetzen wollte – zumindest verbal ist er auf Distanz gegangen, hat aber gleichzeitig zugesichert, die von IWF und Weltbank geforderten Maßnahmen, wie die Erhöhung des Pensionsantrittsalters und eine Reform des Arbeitsgesetzes umzusetzen. Vielerorts gibt es auch Aufrufe oder Initiativen für neue linke Strukturen. In Slowenien hat eine neue “Vereinigte Linke” auf Anhieb sechs Prozent erhalten. In Serbien gibt es einen solchen Aufruf, die bosnische Lijevi (Linke) hat, obwohl sie eine sehr kleine Gruppe ist, viel Aufmerksamkeit erhalten und im ganzen ehemaligen Jugoslawien gibt es Initiativen zur Zusammenarbeit verschiedener linker Strukturen – über Religions- und Ländergrenzen hinweg.

Auch die westeuropäische ArbeiterInnenklasse ist gefordert

Wichtig ist hier auch der Umgang von Gewerkschaften und Linken mit MigrantInnen aus diesen Ländern in Westeuropa. Denn diese gehören zu den unterdrücktesten Schichten der ArbeiterInnenbewegung, werden von den Gewerkschaften oft nicht organisiert oder sogar offensiv aus dem legalen Arbeitsmarkt gedrängt. Tatsächlich treten aber auch sie in Klassenkämpfe ein, wie jüngst eine Gruppe rumänischer Bauarbeiter, die in Frankfurt als Protest gegen das nicht-bezahlen ihrer quasi Sklavenarbeit an die Öffentlichkeit und in einen Hungerstreik getreten sind. Sie erhielten Unterstützung aus der Bevölkerung und der Gewerkschaft. Zu wenig, zu spät, aber ein Ansatz für kommende notwendige gemeinsame Kämpfe von inländischen und migrantischen ArbeiterInnen.

Den Strang der antifaschistischen und sozialistischen Traditionen wieder verknüpfen

Und genau das – die Proteste in Mittel- und Osteuropa und die Zusammenarbeit von Beschäftigten verschiedener Nationalitäten – ist der Stoff, aus dem die Alpträume der herrschenden Klasse gemacht sind. Die Basis für neue politische Formationen, die die Wut bündeln, ihr Programm und Perspektive geben können und sie somit zu einer scharfen Waffen gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus machen kann. Denn die ArbeiterInnenbewegung in Mittel- und Osteuropa hat kämpferische Traditionen und eine Geschichte des Kampfes gegen Faschismus und für eine sozialistische Gesellschaft. Dieser Kampf wurde unterbrochen, doch es ist an der Zeit, ihn wieder aufzugenehmen.