Erkämpft: 15 $ Mindestlohn in Seattle

996031_672591842751569_1575549769_n-e1381739213522Für Kshama Sawant nur der Anfang – denn wir haben „eine Welt zu gewinnen“

Das obere „ein Prozent“ von Seattle mag die leise Hoffnung gehabt haben, dass nach der Wahl von Kshama Sawant in den Stadtrat bald wieder Ruhe einkehren würde. Im Gegensatz zum üblichen bürgerlichen Politikbetrieb, bei dem die Aktivität auf der Straße nach den Wahlen sofort wieder eingestellt wird, war der erfolgreiche Wahlkampf von Socialist Alternative aber nur der Startschuss für etwas Größeres. Es folgte zusammen mit vielen AktivistInnen und GewerkschafterInnen eine beispielhafte Kampagne um einen deutlich höheren Mindestlohn, deren Sieg Schockwellen durch die gesamten Vereinigten Staaten sendet.

von Sebastian Rave, Bremen

Seattle, Heimat von Großkonzernen wie Boeing, Microsoft, Amazon und Starbucks, wird mit der Stadtratsentscheidung vom 2. Juni zum Spitzenreiter in Sachen Mindestlohn. Dieser liegt bundesweit bisher bei 7,25 Dollar, einzelne Städte und Bundeststaaten liegen darüber (den bisher höchsten hatte mit 9,32 Dollar Seattle). Bei immer weiter steigenden Lebenserhaltungskosten kann man in den Großstädten davon weder leben noch sterben: Um sich eine kleine Wohnung mit einem Schlafzimmer leisten zu können, braucht man laut der New York Times bei einer 40-Stunden-Woche einen Stundenlohn von 23,37 Dollar in Brooklyn, 17,56 Dollar in Seattle.

Druck von unten

Ende 2012 waren es Fast-Food-Angestellte, inspiriert von der Occupy-Bewegung, die genug von Niedriglohn und Armut trotz Arbeit hatten. Der Ruf nach „15 Dollar and a Union“ war mobilisierender als eine bescheidenere, „realistischere“ Forderung wie das Versprechen von Präsident Barack Obama nach 10,10 Dollar. Die Bewegung der „Burger-Flipper“ bekam schnell Zulauf. Im November 2013 hatte in der kleinen Nachbargemeinde von Seattle, in SeaTac, eine Initiative zur Einführung der 15 Dollar Erfolg. Am 15. Mai diesen Jahres kam es in 150 Städten zu Protestaktionen für diese Forderung. Diese Bewegung kann in Seattle nun ihren bislang größten Sieg feiern.

Substanzielle Verbesserungen

Über 100.000 Menschen in Seattle werden von der Entscheidung des neunköpfigen Stadtrats profitieren; darunter mehrheitlich Frauen und Angehörige von Minderheiten, vor allem in Restaurants, in Pflegeberufen oder im Einzelhandel. Je nach Betriebsgröße werden die Löhne stufenweise angehoben: Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten müssen ab 2017 15 Dollar zahlen, Betriebe mit Gesundheitsversorgung haben bis 2018 Zeit und Kleinunternehmen bis 2019. Ausnahmen gibt es bis 2021 für EmpfängerInnen von Trinkgeldern. Weil sich das Großkapital hinter Kleinunternehmern versteckte, und bereit war, viel Geld in eine Angstkampagne zu stecken (die „Argumente“ von Arbeitsplatzvernichtung durch höhere Löhne kennt man ja), konnten die geforderten „15 Dollar jetzt“ nicht auf einen Schlag erreicht werden. Kshama Sawant und die „15-Now“-Kampagne hatten ursprünglich eine sofortige Mindestlohnerhöhung für große Betriebe und eine dreijährige Übergangszeit für kleine und mittlere Unternehmen gefordert. Bis zuletzt wurde der Kampf gegen die Schlupflöcher im Gesetz geführt. Angesichts der Mehrheit der Demokraten im Stadtratund einer mit ihnen verbundenen Gewerkschaftsführung, die auf Verhandlungen statt auf Kampf setzte, ein fast unmögliches Unterfangen.

Die Zugeständnisse sind für Socialist Alternative und die Kampagne „15 Now“ angesichts der Kräfteverhältnisse aber kein Grund, auf die Siegesfeier zu verzichten. Nach Jahrzehnten von stagnierenden Löhnen und einer ständigen Umverteilung von unten nach oben ist es der Arbeiterbewegung in der größten Metropole im Nordwesten gelungen, der neoliberalen Routine einen Schlag zu versetzen. Die Lohnerhöhungen in Seattle werden in den nächsten zehn Jahren eine geschätzte Summe von drei Milliarden Dollar von oben nach unten umverteilen.

Socialist Alternative

Dass sich das „Big Business“ am Ende geschlagen gegeben musste, ist maßgeblich auf die Kampagne „15 Now“ und auf die Rolle von Socialist Alternative zurückzuführen. Entscheidend war nicht das Verhandlungsgeschick von Experten hinter verschlossenen Türen, sondern der politische Druck, den die Kampagnenarbeit vieler AktivistInnen, und darunter gerade auch Mitglieder unserer Schwesterorganisation, aufbaute. Durch wöchentliche Treffen, große Konferenzen, Veranstaltungen, Demonstrationen und das Einbeziehen von tausenden Menschen in die Kampagne konnte die öffentliche Debatte gewonnen werden.

Laut Umfragen sind 74 Prozent der Menschen in Seattle für die 15 Dollar. Die Demokratische Partei war bei diesen Werten gezwungen, auf den Zug aufzuspringen, um ihr Image als die „sozialere“ der beiden großen Parteien nicht vollends zu verlieren. Den Ausschlag gab am Ende die Drohung, durch das Sammeln von 50.000 Unterschriften einen Volksentscheid herbeizuführen. Der demokratische Bürgermeister Ed Murray und der neunköpfige Stadtrat verabschiedeten das neue Mindestlohngesetz einstimmig. Mit Seattle als Vorbild könnten nun auch weitere Städte dem Trend folgen: In New York, Chicago und vielen anderen großen Städten hat der Sieg ein großes Echo hervorgerufen. Die „15-Now“-Kampagne erhält bundesweit großen Zulauf.

Zwei-Parteien-System bankrott

All das wäre nicht möglich gewesen, wenn Socialist Alternative letztes Jahr nicht den Mut besessen hätte, mit Kshama Sawant eine eigene Kandidatin für den Stadtrat ins Rennen zu schicken. Mit einer Wahlkampagne, in der die 15 Dollar in den Mittelpunkt gerückt wurden, konnten über 90.000 Stimmen gewonnen und der 15-jährige demokratische Amtsinhaber Richard Conlin geschlagen werden.

Hintergrund der Entscheidung, zu den Wahlen anzutreten, war die Analyse, dass das Zwei-Parteien-System in den USA vor dem politischen Bankrott steht, und die „99 Prozent“ eine politische Alternative brauchen. Kashama Sawant hat den Beweis erbracht, dass man sich der Logik des kleineren Übels nicht unterwerfen muss und die Demokraten schlagen kann. Sie hat gezeigt, dass ein Wahlsieg nicht mit dem Ausverkauf der Ideale einhergehen muss, sondern dass man das politische Amt auch als Bühne nutzen kann, um Verbesserungen wie die 15 Dollar zu erkämpfen. Mit diesem Beispiel vor Augen kann die Linke jetzt eine neue Seite ins Geschichtsbuch der Vereinigten Staaten schreiben. Oder wie Kshama Sawant in ihrer Rede nach der historischen Stadtratsentscheidung sagte: „15 Dollar in Seattle sind nur der Anfang. Wir haben eine ganze Welt zu gewinnen.“

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