Eine Million Menschen fordern in Madrid ihre Würde zurück

SüdeuropaMassenproteste in Spanien

„De Norte a Sur, de Este a Oeste, la lucha sigue, cueste lo que cueste“ („Von Nord bis Süd, von Ost bis West – der Kampf geht weiter, koste es was es wolle“). Dieser Schlachtruf schallte am Samstag, den 22. März ohrenbetäubend durch die Straßen von Madrid.

von Angel Morano, „Socialismo Revolucionario“ (Schwesterorganisation der SAV in Spanien)

Anlässlich des „Marsches für die Würde“ ist die spanische Hauptstadt am 22. März von einer wahren Flut der Massen lahmgelegt worden. Die Demonstrationszüge waren ein überwältigender Erfolg, ein entscheidender Wendepunkt angesichts der angespannten Lage, und sie markieren den Beginn einer neuen Phase im Kampf gegen die Regierung sowie gegen die Politik der Troika. Schätzungen sprechen von insgesamt ein bis zwei Millionen, die sich insgesamt an den Märschen beteiligt haben. Damit haben wir es mit der wahrscheinlich größten Demonstration zu tun, die es in Spanien seit dem Ende der Franco-Diktatur gegeben hat. Aus allen Winkeln des Landes waren Tausende nach Madrid gekommen, um sich den sechs einzelnen Demozügen anzuschließen. Darunter waren viele, die zu Fuß – teilweise schon einen Monat vor dem 22. März – in ihren Heimatorten aufgebrochen waren. Unter den Bannern „Brot, Arbeit und Wohnraum für alle – keine Schuldenzahlung, weg mit den Regierungen der Troika“ überfluteten die Massen förmlich die Stadt.

Der 22. März war das Ergebnis der über Wochen und Monate zuvor schon begonnenen heldenhaften und aufopferungsvollen Arbeit tausender AktivistInnen. Dieser Tag hat gezeigt, was die Arbeiterklasse in der Lage ist zu schaffen, wenn sie nur mit vollem Bewusstsein der Situation organisiert wird. Die Reaktion der arbeitenden Menschen auf die Mobilisierung, die ohne Unterstützung der Vorstände der großen Gewerkschaften zustande kam, war spektakulär und zeigt – allen Unkenrufen zum Trotz –, wie die Arbeiterklasse auf klare Ansagen und den eindeutigen Aufruf zum Kampf anspringt. Es muss offenbar „nur“ klargemacht werden, dass es um die ureigenen Rechte geht. Die andere Komponente die nötig ist, besteht aus einer kämpferischen Führung. Die Stärke dieser Mobilisierung, die Art und Weise, wie mobilisiert wurde, und der Charakter, den die Forderungen hatten – all dies zusammengenommen hat dazu geführt, dass die Dinge nach dem 22. März nicht mehr so sind wie zuvor. Dieser Tag hatte einen eindeutig politischen Charakter und brachte den Willen der wichtigsten gesellschaftlichen Klasse, der Arbeiterklasse, klar zum Ausdruck.

Vor dem Hintergrund der lähmenden Wirtschaftskrise und des Massenelends sowie dem schon als kriminell zu bezeichnenden Versagen der führenden Figuren der Arbeiterbewegung, die darin gescheitert sind, das nötige Maß an Widerstand zu mobilisieren, steht dieser 22. März für den Durchbruch: Die Arbeiterklasse hat damit den Punkt erreicht, von dem aus sie den Stillstand überwinden und eine neue Phase im Klassenkampf einleiten kann.

„Que viva, la lucha, de la clase obrera“ („Lang lebe der Kampf der Arbeiterklasse“)

Fast drei Jahre nach dem plötzlichen Aufkommen der „Bewegung der Empörten (Indignados)“ vom 15. März 2011, belegt der 22. März nun, wie weit das Bewusstsein und die Perspektiven sich in der gesamten Bewegung weiterentwickelt haben. Bei den Massenmobilisierungen von vor drei Jahren kam stark zur Geltung, wie sehr man doch gegen jede Art von Partei eingestellt war. Das damalige Bewusstsein konnte wie folgt auf den Punkt gebracht werden: „weder rechts noch links“. Vom Vorhandensein eines klaren Klassenbewusstseins konnte keine Rede sein. Die Massen, die letzten Samstag durch Madrid zogen, waren sich vollends bewusst, dass ihre Bewegung einen Klassencharakter hatte, dass die vorgebrachten Ideen links sind und – was überwältigend war – dass politische Organisationen im Kampf gegen die Troika nötig sind. Ein Beleg dafür ist vor allem das Meer an roten Fahnen der Partei „Vereinigte Linke“, die von den Menschenmassen mitgetragen wurden.

Die aktuelle Bewegung hat den erfrischenden, demokratischen Geist der Bewegung der indignados nicht abgelegt. Allerdings hatte diese Bewegung, wie sie vor knapp drei Jahren entstanden war, auch ihre Schwächen. Das haben wir damals bereits kritisiert gehabt. Es fehlte ihr an einer festen Organisationsstruktur und an Koordination, eine organisierte Arbeiterbewegung war nicht vorhanden und es mangelte ferner an einem klaren politischen Programm. Der 22. März ist hingegen ein Beweis dafür, dass diese Hürden überwunden sind.

„Yo soy Gamonal, Gamonal, Gamonal“ („Ich bin Gamonal, Gamonal, Gamonal“)

Dieser Slogan bezieht sich auf die erfolgreich geführte Auseinandersetzung von Gamonal, einem Arbeiterviertel in der nordspanischen Stadt Burgos. Dort war es im Januar 2014 zum Kampf gegen die Regierung und Konzerne gekommen. Eine Bewegung mit täglichen Massenblockaden, die von demokratisch aufgebauten Versammlungen organisiert wurde, wehrte sich dort erfolgreich gegen die Pläne der Regierung und von Baufirmen, die das Gebiet „sanieren“ wollten. Dieser Sieg hatte folgenschwere Auswirkungen im ganzen Land, machte militante Methoden populär und brachte die Idee der Selbstorganisation aufs Tapet. Am 22. März wurde nicht nur dieser, sondern alle wichtigen betrieblichen und gesellschaftlichen Kämpfe der letzten Zeit geehrt und gefeiert. Dazu zählt auch der erfolgreich geführte unbefristete Streik bei der Straßenreinigung von Madrid, der längste unbefristete Streik seit der Diktatur, der bei PANRICO in Barcelona in vollem Gange ist, der Streik der Beschäftigten bei Coca Cola, die „Fluten“ (Massenbewegungen gegen Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie Privatisierungen) usw. Diese Kämpfe, die immer kämpferischere Ausmaße annehmen, schrien gewissermaßen danach, dass es einen allgemeineren und vereinten Ausdruck der Wut auf Landesebene gibt. Die Vereinigung dieser Kämpfe bleibt das drängende Gebot der Stunde, und der 22. März steht für einen Schritt in diese Richtung.

„Se va a acabar, se va a acabar, se va a acabar la paz social“ („Sozialen Frieden gibt’s nicht mehr“)

Auch diese Parole war immer wieder auf der Demonstration zu hören. Dabei demonstrierten nur 48 Stunden vor Beginn dieses Marsches durch Madrid die Vorsitzenden der beiden größten Gewerkschaftsverbände (UGT und CC.OO) auf dramatische Weise, wie sehr sie vor dem System kapituliert haben. Sie traten neben Ministerpräsident Rajoy und führenden Vertretern der Wirtschaft bei einem Fototermin auf, um dort eine „neue und tiefgreifendere Phase des gesellschaftlichen Dialogs“ zu diskutieren. Das zeigt vor aller Augen, dass ein tiefer Graben zwischen den Gewerkschaftsspitzen und der Stimmung auf der Straße besteht.

Und trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Straßen Madrids am Samstag auch mit „einfachen“ Mitgliedern dieser beiden Gewerkschaftsbünde gefüllt waren, die unermüdlich daran gearbeitet haben, dass dieser Protestmarsch ein Erfolg wird. Es kann also auch kein Zweifel darüber herrschen, dass die Vorsitzenden der Gewerkschaften sich gezwungen sehen, ihre andauernde, schändliche, defätistische und demobilisierende Haltung zu überdenken, wenn dieselben Gewerkschaftsmitglieder jetzt damit beginnen, innerhalb ihrer eigenen Gewerkschaften einen Kampf für den Bruch mit der Sozialpartnerschaft zu führen.

Der Erfolg des 22. März war möglich trotz und nicht wegen der mangelnden Unterstützung durch die Gewerkschaftsapparate von UGT und CC.OO. Die Tatsache, dass die Mobilisierung trotz dieses Umstands so massiv ausgefallen ist, ist von größter Bedeutung und zeigt die Bereitschaft und die Fähigkeit der Arbeiterklasse, allen Hürden zum Trotz den Weg zum Kampf zu finden. Nötig ist eine weitere Steigerung durch Streikmaßnahmen – was angesichts der rechten Gewerkschaftsführung nicht einfach ist. Umso mehr muss der 22. März der Funke sein, der einen koordinierten Kampf für die Schaffung einer linken Opposition entfacht als Antwort auf den Kooperatismus von oben.

„Hace falta ya una huelga una huelga, hace falta ya, una huelga general“ („Wir brauchen jetzt einen Generalstreik“)

Dieser Slogan wurde unzählige Male während der Demonstration wiederholt – uns zeigt den Weg nach vorn. Aber ein neuer Generalstreik darf nicht einfach nur eine Wiederholung der vorherigen sein. Statt Dampfablass-Aktion muss die Bewegung dadurch auf eine neue Stufe gehoben werden.

Deshalb muss er von unten aufgebaut und mit einem politischen Programm verknüpft werden. Nötig ist ein politischer Generalstreik – mit dem Ziel, die Rajoy-Regierung zu Fall zu bringen und auf den Sturz des Kapitalismus hinzusteuern.

Aus diesem Grund sollten die Versammlungen und Koordierungsstrukturen aufrechterhalten und auf Arbeitsplätze, Nachbarschaften und Bildungseinrichtungen ausgeweitet werden. Hier sollte eine Kampfstrategie debattiert und ausgearbeitet werden.

Schlussendlich müssen wir die Wirkung der Vereinigten Linken auf der Demonstration betonen – mit ihren vielen roten Fahnen und Aktiven. Umso wichtiger, dass diese Formation ein klares sozialistisches Programm verfolgt, das mit Troika und Kapitalismus bricht. Nur eine Regierung der arbeitenden Bevölkerung als Teil des Kampfes für internationalen Sozialismus kann die Bedürfnisse der Massen erfüllen.