Der Kongo: Eine Geschichte kapitalistischer Ausbeutung

kongo_suhrkampSeit 1997 sind in den Kriegen im Kongo Schätzungen zufolge sechs Millionen Menschen ums Leben gekommen. Die Lebenserwartung im Land liegt bei 46 Jahren. Die Medien der westlichen Welt schenken dem Land bislang nur wenig Aufmerksamkeit.

von Per-Åke Westerlund, „Rättvisepartiet Socialisterna“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Schweden). Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht in der „Socialism Today“, dem Monatsmagazin der „Socialist Party“ (SAV-Schwesterorganisation und CWI-Sektion in England und Wales)

Der Artikel von Per-Åke Westerlund basiert auf einem kürzlich erschienenen Buch, das eine gute Grundlage bietet, um den Kongo-Konflikt besser zu verstehen: Van Reybrouck, David: „Kongo: Eine Geschichte“, Suhrkamp 2012.

 Seit der Zeit des Feudalismus und des damaligen Königreichs Kongo hatte das Land schon viele verschiedene Bezeichnungen. Zwischen 1885 und 1908 gehörte das Gebiet dem belgischen König Leopold II. und trug den Namen „État Indépendant du Congo“ (auf deutsch meist als „Kongo-Freistaat“ bezeichnet). Von 1908 bis 1960 existierte ein Land namens „Belgisch-Kongo“, das auch unter der Bezeichnung „Kongo-Léopoldville“ firmierte, um es von der französischen Kolonie „Kongo-Brazzaville“ zu unterscheiden. Elf Jahre nach der Unabhängigkeit, im Jahr 1960, erfolgte die Umbenennung durch Diktator Mobutu Sese Seko, und das Land hieß fortan „Zaire“. Seit dem Sturz Mobutus lautet die offizielle Bezeichnung „Demokratische Republik Kongo“, DRC oder einfach nur „Kongo“.

Von 1500 bis 1850 war das Delta des Kongo-Flusses das Zentrum des Sklavenhandels mit dem amerikanischen Kontinent. Vier Millionen Sklavinnen und Sklaven wurden aus dem Gebiet des heutigen Kongo verschleppt und sämtliche, bis dahin bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zerschlagen. Als dann die Kolonisierung des afrikanischen Kontinents begann, wurde König Leopold von den wichtigsten Kolonialmächten darin bestärkt, dieses riesige Land als Privatbesitz zu übernehmen. Offiziell war Leopold gegen den Handel mit SklavInnen. In Wirklichkeit jedoch führte er eine Schreckensherrschaft ein. Zuerst wurde das Land wegen des Elfenbeins und dann aufgrund der Kautschukbestände ausgeplündert. In seinem Buch „Kongo: Eine Geschichte“ schreibt David Van Reybrouck, dass Leopold „einen Staat, den Kongo, benutzte, um seinem anderen Staat, Belgien, neuen Auftrieb zu verleihen“.

Die Gier nach Kautschuk und Gummi führte zum Zusammenbruch der Agrar-Strukturen, und Hunger wurde zu einem verbreiteten Phänomen. Als Leopold dem belgischen Staat die Kontrolle übergab, war der Kongo systematisch in Stücke zerteilt. Zum ersten Mal waren die BewohnerInnen des Landes nach bestimmten Rassen und Stämmen kategorisiert. Dieses System führte Belgien ebenfalls ein, als es nach dem Ersten Weltkrieg Ruanda und Burundi übernahm. Die Begriffe „Hutu“ bzw. „Tutsi“ wurden in Pässe und Dokumente gestempelt, was zu der Spaltung führte, die in Ruanda 1995 wiederum im Massaker an den Tutsis kulminierte – und zu den sich anschließenden Kriegen.

Unter Leopold kam es dazu, dass tausende christlicher MissionarInnen ins Land strömten. Diese (und vor allen die Katholiken) wurden zum Werkzeug der Kolonialmacht: „Missionsschulen wurden Produktionsstätten für die sich ausbreitenden Vorurteile gegen die verschiedenen Stämme“. Kirchliche Schulen zensierten alles, was den Anschein des Rebellischen hatte. So verhinderte man zum Beispiel, dass über die Französische Revolution gesprochen wurde. Während die christliche Moral des Gehorsams gepredigt wurde, litten kritische religiöse Bewegungen unter heftigen Repressalien. 1921 wurde der Prediger Simon Kimbangu verhaftet, der 30 Jahre später im Gefängnis verstarb. Seine AnhängerInnen, die KimbanguistInnen, wurden abgesetzt und verfolgt. Trotzdem handelt es sich bei dieser Religionsgemeinschaft heute immer noch um eine große Bewegung im Kongo.

Mit der Entdeckung der riesigen Vorkommen an Bodenschätzen im Kongo begann die Industrialisierung des Landes. Die dominierende Bergbaugesellschaft, die „Union Minière“, unterhielt ihren eigenen totalitären Staatsapparat in Katanga, im Südosten des Landes, wo Kupfer, Mangan, Uran, Gold und andere wertvolle Rohstoffe gefördert wurden. Palmöl wurde zum Rohstoff für die Seifenherstellung und legte so die Grundlage für den heutigen multinationalen Riesen-Konzern „Unilever“.

Die Arbeiterklasse wuchs von wenigen hundert Personen um 1900 auf 450.000 im Jahr 1929. In der Folge stieg diese Zahl in der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf beinahe eine Million Menschen an. Damals war es in der Bergbaubranche zu einem Wirtschaftsboom gekommen. In den ersten Atombomben steckte Uran aus Katanga. Nach Südafrika rangierte der Kongo plötzlich auf Platz zwei der industrialisiertesten Länder südlich der Sahara.

Die Bedingungen, die sich den ArbeiterInnen und verarmten Schichten boten, spielten bei dieser ökonomischen Entwicklung allerdings keine Rolle. Zu Beginn und am Ende des Krieges führte die Unzufriedenheit zu Streiks und Aufständen. Dabei wurden 60 Bergleute bei einem Massenprotest in Elizabethville (dem heutigen Lumbumbashi) in Katanga getötet, die StreikführerInnen wurden verfolgt. Bestimmte Gruppen oder Stämme wurden aussortiert und als sogenannte „Unruhestifter“ gebrandmarkt. Das war Teil der Teile-und-Herrsche-Strategie.

Diejenigen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Bergwerken oder in Jobs im Dienstleistungssektor arbeiteten, der rund um die Industriezentren entstand, erwarteten, dass es nach dem Krieg besser werden würde. Das galt auch für die Soldaten, die an der Seite der „Alliierten“ in Abessinien (Gebiet der heutigen Staaten Äthiopien und Eritrea; Erg. d. Übers.), Ägypten und Burma gedient hatten. Allerdings blieb der Rassismus weiter bestehen. AfrikanerInnen durften weiterhin in der Öffentlichkeit ausgepeitscht werden, mussten sich immer wieder am Ende einer Menschen-Schlange anstellen, und es war ihnen nach wie vor verboten, Badeanstalten zu benutzen. Gewerkschaften waren illegal. In einigen Städten kam es zwar zu Kommunalwahlen, doch jeder Bürgermeister unterstand immer dem belgischen „ersten Bürgermeister“.

Überall auf der Welt kam es zu kolonialen Revolutionen und Befreiungskriegen. Großbritannien , die Niederlande und die Vereinigten Staaten von Amerika mussten sich aus Indien, Indonesien und den Philippinen zurückziehen. In Algerien und Indochina (heute: Laos, Kambodscha und Vietnam; Erg. d. Übers.) begann ein bewaffneter Kampf gegen die französische Kolonialmacht. 1958 war Ghana dann das erste Land in der Region südlich der Saharan, das unabhängig wurde.

„Bis 1955 existierte keine nationalstaatliche Vereinigung, die überhaupt von der Unabhängigkeit träumte“, schreibt Van Reybrouck. Fünf Jahre später war das Land dann formell unabhängig. Die trügerische Ruhe fand 1956 ihr Ende, als es zunehmend zu sozialen Unruhen kam. Von der „Association des Bakongo“ (ABAKO), bei der es sich ursprünglich um eine Stammes-Vereinigung unter der Führung von Joseph Kasa-Vubu gehandelt hatte, wurde ein „Manifest der Freiheit“ vorgelegt.

Zwei Jahre später wurde das „Mouvement National Congolais“ (MNC) gegründet, mit Patrice Lumumba als Anführer. Das Ziel der Bewegung war die Befreiung des Kongo vom Imperialismus und der Kolonialherrschaft. Das Echo war enorm. Lumumba besuchte den neuen Staat namens Ghana, wo er den Führer des neuen Landes, Kwame Nkrumah, traf. Als er in den Kongo zurückkehrte, wurde er von 7.000 Menschen erwartet, die hören wollten, was er zu berichten hatte.

Im Januar 1959 dann explodierte der Kongo förmlich. Der belgische „oberste Bürgermeister“ verbot alle Protestversammlungen in Kinshasa, was zu Ausschreitungen führte. Alle Waffengattungen der Armee kamen zum Einsatz, bis zu 300 Menschen wurden erschossen und wesentlich mehr wurden verletzt. Die Unruhen griffen auch auf Kivu, Kasai und Katanga über.

Schließlich wurde beschlossen, dass der Kongo am 30. Juni 1960 unabhängig werden sollte, in einem Jahr, in dem 17 afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten. Doch dabei ging es nur um die formelle, politische Unabhängigkeit. Die multinationalen Konzerne waren weiter in der Lage, in Übereinstimmung mit dem belgischen Gesetz wie bisher zu schalten und zu walten. Drei Tage vor der Unabhängigkeit sorgte das belgische Parlament noch dafür, dass die kongolesische Herrschaft über den alles dominierenden Konzern „Union Minière“ beendet wurde. Sämtliche Armeeoffiziere wie auch die höchsten BeamtInnen blieben belgische StaatsbürgerInnen.

Doch die Hoffnungen auf echten Wandel waren immens und das MNC unter Lumumba gewann die ersten Wahlen. Aber auch regionale Parteien erhielten starke Unterstützung: das abgespaltene MNC-K unter der Führung von Albert Kalonji in Kasai, die „Confédération des Associations Tribales du Katanga“ (CONAKAT) unter Moïse Tshombe im südlichen Katanga sowie ABAKO in Niederkongo. Kasa-Vubu wurde Präsident, mit Lumumba als Premierminister.

Absetzung Lumumbas

Wie andere ehemalige Kolonien wurde auch der Kongo von den alten Kolonialmächten und multinationalen Konzernen beherrscht. Die einzige Möglichkeit dem wirklich eine Ende zu setzen, hätte darin bestanden, eine demokratisch-sozialistische Politik aufzulegen, zu der auch die Verstaatlichung der Bodenschätze gehört hätte. Und – wäre dies unter einer wirklich sozialistischen politischen Führung geschehen – die internationale Arbeiterklasse hätte mit massiver Unterstützung an ihrer Seite gestanden. Allerdings fehlte es unter der Arbeiterschaft und den verarmten Schichten auf dem Land im Kongo an einer landesweiten, demokratischen und sozialistischen Bewegung.

Die stalinistischen Staaten – wie etwa die Sowjetunion und China – hatten gezeigt, dass eine Planwirtschaft – trotz der unterdrückerischen und diktatorischen Herrschaft in diesen Ländern – zu großen Fortschritten in der Lage ist. Doch weder Moskau noch Peking wollten eine revolutionäre Bewegung unterstützen, die sich ihrer Kontrolle entzogen hätte. Beide Systeme zogen es vor, mit bürgerlichen Regimen zusammenzuarbeiten, mit denen sie besser zurechtkamen.

Die Krise resultierte mit Nichten daraus, dass die belgischen Kräfte nach der Unabhängigkeit des Kongo das Land zu schnell verlassen hatten, wie Van Reybrouck es darzustellen meint. Der Grund dafür war das Fehlen einer Arbeiterbewegung mit einem klaren Programm. Es wurde eine neue Regierung gebildet, doch ihre Anhängerschaft war wechselhaft, und ihr Programm blieb vage. Von Belgien wurde dieser Umstand erkannt und innerhalb weniger Tage kam es zur Invasion in Katanga mit 10.000 belgischen Soldaten. Offiziell ging es natürlich um den Schutz belgischer Staatsangehöriger. In Wirklichkeit aber sollte die Kontrolle über die Bergbauindustrie abgesichert werden. So wurde Tshombe ermutigt, seinerseits die Unabhängigkeit zu erklären, und „Union Minière“ finanzierte seine Herrschaft.

Lumumba bleib nur zwei Monate lang im Amt, in einem Land, das sich im raschen Zerfall befand. In den Kämpfen, die mit den Versuchen einhergingen, Katanga, das an Diamanten reiche Kasai und Kivu aus dem Staat herauszubrechen, ließen Tausende ihr Leben. Lumumba rief die UNO auf, unterstützend einzugreifen, und Nikita Chruschtschow, den Regierungschef der UdSSR, der Lebensmittel, Waffen und Fahrzeuge lieferte. Die Kongo-Krise fand inmitten des „Kalten Krieges“ zwischen den USA und der stalinistischen Sowjetunion statt. Das US-Militär benötigte die Bodenschätze aus dem Kongo (wie z.B. Kobalt für seine Raketen), und Anfang September wurde Lumumba durch Kasa-Vubu ersetzt.

Zehn Tage, nachdem Lumumba aus dem Amt gejagt worden war, führte der Stabschef der Armee, Mobutu, mit Unterstützung des CIA seinen ersten Putsch durch. Lumumba wurde unter Hausarrest gestellt. Die belgische Regierung und der US-Präsident Dwight D. Eisenhower gaben grünes Licht für seine Ermordung. Nach Folter und dem Abtransport nach Katanga wurde Lumumba im Beisein lokaler Machthaber – darunter auch Tshombe – erschossen.

Lumumba war kein wirklicher Sozialist und es fehlte ihm an einer starken Bewegung sowie an Waffen. Er wurde jedoch – nicht nur in Afrika – als radikaler Freiheitskämpfer angesehen und seine AnhängerInnen sprachen von der Revolution. Seine Unberechenbarkeit und die Erwartungen, die er geweckt hatte, bereiteten den imperialistischen Mächten Kopfzerbrechen. In Kuba hatten sie bereits erleben müssen, wie die Entwicklungen zu einer Revolution führen können, selbst wenn die Befreiungsbewegung dort am Anfang noch vollkommen ohne sozialistisches Programm ausgestattet war. Der US-Imperialismus schritt schließlich ein, um Lumumba zu stürzen, indem man auf den CIA und letztlich auch auf die Institution UNO zurückgriff.

Die Sowjetunion und China hatten darüber hinaus kein Interesse daran, Revolutionen zu unterstützen; vor allem dann nicht, wenn damit das Ziel einer echten Arbeiter-Demokratie verfolgt wurde. In Wirklichkeit hatten sie noch nicht einmal einen Plan für den Aufbau weiterer Staaten nach stalinistischem Muster. Erst wenn Regime oder Guerrilla-Bewegungen den Kapitalismus bereits abgeschafft hatten, kam Unterstützung aus Moskau und Peking, um die entsprechenden Regionen bzw. Länder ihrem Einflussbereich unterzuordnen und sie so weit wie möglich unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Diktatur unter Mobutu

Der Krieg zur Wiedererlangung Katangas dauerte bis Ende 1962 und wurde mit Hilfe von UN-Truppen geführt. In der Zeit, in der diese Gefechte stattfanden, kam auch der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld ums Leben. Die Todesumstände des Schweden, der im September ´61 bei einem Flugzeugabsturz starb, sind bis heute ungeklärt. Bis Mitte der 1960er Jahre hielten die Unruhen und Aufstände an. Ein vom Maoismus inspirierter Aufstand auf dem Land in Zentralkongo wurde niedergeschlagen. In Burundi rief Laurent Kabila die sogenannten „Simba Truppen“ ins Leben, die von einer starken anti-amerikanischen und anti-katholischen Rhetorik gekennzeichnet waren. Selbst Che Guevara beteiligte sich kurze Zeit lang an dem Guerrillakrieg, auch wenn er bald schon wieder nach Lateinamerika zurückkehren sollte.

Die USA und Tshombe unterstützten von Katanga aus nun die Regierung in Leopoldville (das heutige Kinshasa) gegen die Aufständischen. 1965 gewann Tshombe die Wahlen, wurde von den USA und westlichen Mächten jedoch als unzuverlässig erachtet. Am 25. November kam es zum zweiten Putsch von Mobutu, und diesmal sollte er seine Diktatur bis 1997 aufrechterhalten.

Van Reybrouck beschreibt, wie das Regime Mobutu sich zu einer sonderbaren, brutalen und korrupten Diktatur entwickelte. Obwohl er enge Verbindungen zu den USA und zu Israel unterhielt, hatte der Charakter seines Regimes viel Ähnlichkeit mit der Diktatur von Mao Tse-tung in China. Es waren nur autochthone Namen und die alte Musik der Einheimischen erlaubt. Der Personenkult nahm massive Ausmaße an, bis zu sieben Stunden am Tag waren im Fernsehen musikalische Lobeshymnen auf Mobutu zu sehen und zu hören. 1971 benannte er das Land um in „Zaire“.

Als in den Jahren 1968/-69 (parallel zu den Studierendenprotesten in Europa und den USA) die Studierendenbewegung auch im Kongo aufkam, war Lumumba ihr Held. Sie wurde 1969 jedoch in einem Massaker aufgerieben. Dreihundert Todesopfer waren zu beklagen (offiziell wurde die Opfer auf „sechs“ beziffert!) und 800 Personen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.

Das enorme landwirtschaftliche Potential des Kongo wurde vergeudet, und Mobutu war gezwungen, Lebensmittel zu importieren. Die Inflation stieg rasant an, und in den 1970er Jahren machte der Staat Schulden in der Höhe eines Drittels des staatlichen Gesamtbudgets. Wie viele andere afrikanische Länder endete der Kongo in den Fängen des Internationalen Währngsfonds (IWF) und der Weltbank. Deren „Strukturanpassungsprogramme“ führten zu Privatisierungen und Kürzungen. In kurzer Zeit wurde im Kongo die Anzahl der LehrerInnen von ehedem 285.000 auf 126.000 reduziert. Der hohe Alphabetisierungsgrad wurde auf das heutige Ausmaß heruntergefahren. Seither gibt es rund 30 Prozent AnalphabetInnen im Land.

In den späten 1980er Jahren kam es überall in Afrika zu Protestbewegungen gegen die Politik des IWF und gegen Diktaturen. Es wurden neue politische Parteien, Vereinigungen und Gewerkschaften gegründet. Am 16. Februar 1992 organisierten Priester und Kirchen in verschiedenen Städten den „Marsch der Hoffnung“, um gegen die Unterbrechung einer Konferenz über Demokratisierung zu protestieren. Mehr als eine Million Menschen nahmen daran teil, und 35 DemonstrantInnen wurden erschossen. 1993 griff Mobutu hart gegen jeden Versuch durch, über Demokratisierung zu sprechen und übte erneut die vollkommene Kontrollgewalt aus. Die Inflation stieg immer weiter an und erreichte 1994 den Wert von 9,77 Prozent. In dieser Zeit sah sich Mobutu gezwungen, eine Fünf-Millionen New Zaire-Banknote einzuführen.

Nach Jahren der Diktatur und einer sich immer weiter zuspitzenden ökonomischen Krise war jede Hoffnung auf einen Wandel verflogen und es kam zu ethnisch motivierter Gewalt. In Katanga forderten einige Gruppierungen, dass EinwanderInnen aus Kasai „nach Hause“ gehen sollten. Derselbe Ton wurde auch in der Region Kivu (im Osten des Landes; Erg. d. Übers.) gegen die dort lebenden Tutsi angeschlagen, die nur „banyarwanda“ („die, die aus Ruanda kommen“) genannt wurden. „In den 1980ern wusste niemand, welchen ethnischen Hintergrund seine Mitschüler hatten. Das alles begann erst in den 1990er Jahren. Meine Freundin war Tutsi, und ich hatte davon noch nicht einmal eine Vorstellung“, äußerte Pierre Bushala aus Goma gegenüber Van Reybrouck. Er schreibt, dass die ethnisch motivierte Gewalt „eine logische Folge des Mangels an fruchtbarem Boden war, zu dem es in der Phase der Kriegswirtschaft gekommen war, die sich der Globalisierung unterordnete“. In Kivu kam es zur Gründung der nationalistischen „Maï-Maï“-Milizen, die um Ackerland und um die Kontrolle über Dörfer sowie die Bergwerke kämpften.

Sechs Millionen Tote

1994 fand in Ruanda das Massaker an 800.000 Tutsi statt. Beinahe unmittelbar darauf kam es zur Invasion Ruandas durch eine Tutsi-Armee unter der Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame, die die Kontrolle über das Land übernahm. Über zwei Millionen Hutu mussten fliehen; 1,5 Millionen von ihnen in Richtung Zaire/Kongo. Der frühere Guerrilla-Führer Laurent Kabila und seine Bewegung, die „Alliance des Forces Démocratiques pour la Liberation du Congo“ (AFDL), hatten die formelle Befehlsgewalt über die Ruander, die Jagd auf Hutu machten. All das wurde zum Krieg gegen den Zaire unter Mobutu. Bis zu 300.000 Hutu-Flüchtlinge wurden getötet.

Nach einem kurzen Krieg stürzte Kabila dann Mobutu und machte sich selbst zum neuen Staatschef – in einem Land, das fortan wieder Kongo hieß. Doch bald schon machte Kabila Gebrauch von den Methoden, die vor ihm bereits Mobutu angewendet hatte.

Kabila begriff, dass die Regime in Ruanda und Uganda nur aus Eigennutz eingegriffen hatten und brach mit ihnen. Ruanda ließ erneut Truppen einmarschieren, was 1998 zum zweiten Kongo-Krieg führte. Seither sind sechs Millionen Menschen in Folge der Kriege gestorben; die meisten von ihnen erlagen Krankheiten und Hunger. Viele andere Länder wurden mit in diese Auseinandersetzungen hineingezogen wie z.B. Angola, Simbabwe und Libyien auf kongolesischer Seite gegen Uganda und Ruanda. Van Reybrouck zeigt auf, wie die beiden letztgenannten Länder während des Krieges große Mengen an Gold aus dem Kongo herausschafften.

Im Januar 2001 wurde Laurent Kabila von einem seiner Bodyguards erschossen. Sein Sohn Joseph, der von der EU, den USA und China unterstützt wird, folgte ihm im Amt. 2003 wurde zwar ein Friedensabkommen unterzeichnet, es kommt jedoch weiterhin zu kriegerischen Auseinandersetzungen, massenhaften Vergewaltigungen und Massakern, vor allem in der Provinz Kivu. Die verschiedenen Kräfte unterliegen fortwährenden Abspaltungen oder geben sich ständig neue Namen. Der Grund dafür ist weiterhin der Kampf um die alten Bodenschätze: Gold, andere Bodenschätze und Elfenbein. Zur Zeit ist Koltan das wertvollste Mineral, das in modernen Elektrogeräten (wie Handys; Erg. d. Übers.) eingesetzt wird. Van Reybrouck wählt hierfür korrekter Weise den Begriff der „Militarisierung der Wirtschaft“, weil „der Krieg vergleichsweise kostengünstig ist – vor allem in Anbetracht der unglaublichen Gewinne, die die Ausbeutung von Rohstoffen mit sich bringt“.

Gibt es einen Hoffnungsschimmer? Van Reybrouck beschreibt den Kongo als ein Land, das kurz davor steht zu explodieren. Der Staatshaushalt des Kongo, ein Land, in dem 60 Millionen Menschen eben, ist kleiner als der Haushalt einer Stadt wie Stockholm mit weniger als einer Million EinwohnerInnen. Das jährliche Bruttoinlandsprodukt ist seit 1960 pro Kopf von 450 US-Dollar auf 200 Dollar gesunken. Der „Index für menschliche Entwicklung“ des „Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen“ (UNDP), der Dinge wie Bildung und Gesundheitsschutz umfasst, sieht den Kongo auf dem fünftletzten Platz der Länder, in denen es sich am besten leben lässt.

Heute ist der Kongo durch denselben roh plündernden Kapitalismus verwüstet, der auch um 19. Jahrhundert schon für die dortige Misere verantwortlich zeichnete. Durch Bestechung oder militärische Gewalt gelangt man an Schürfrechte. Die Entdeckung neuer Öl- und Gasvorkommen hat zu erneuten Spannungen an der Grenze zu Uganda und Ruanda geführt. Chinesische Konzerne sorgen für die Infrastruktur, die für die Bergwerke nötig sind, welche ganz nach dem Muster der Sklaven-Fabriken funktionieren wie in China selbst.

Es wird im Kongo zwangsläufig zu revolutionären Entwicklungen kommen. Wohin diese gesellschaftlichen Explosionen aber führen werden, hängt davon ab, welche Lehren man aus der Geschichte zieht – und aus den Entwicklungen in Ägypten und Tunesien der letzten zwei Jahre. In Rekordzeit müssen sozialistische und demokratische Organisationen aufgebaut werden.